Das letzte Einhorn
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Das letzte Einhorn

Menschen eines Jahrzehnts

  1. 336 Seiten
  2. German
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Das letzte Einhorn

Menschen eines Jahrzehnts

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Wie schreibt man über Menschen, um ihnen als Reporter gerecht zu werden?

Alexander Osangs Reportagen der Jahre 2010 bis 2020 sind Befragung und Selbstbefragung – und entwerfen wie nebenbei das Porträt eines ganzen Jahrzehnts.
Am Beginn steht die Finanzkrise, am Ende die Corona-Pandemie, dazwischen Afghanistan, Fukushima, Terrorismus, die Flüchtlingskrise 2015 und der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien. Alexander Osang erzählt von Menschen und Orten, in deren Geschichten die großen Zeitläufe eingeschrieben sind. Ob Politiker, Sportler, Menschen aus der Finanz- und Medienbranche, Unbekannte, die plötzlich im Licht der Öffentlichkeit stehen – seine Texte treffen immer ins Schwarze, und doch vermeiden sie das Fertige, Unumstößliche, um Objektivität Bemühte. Auf diese Weise gelingt ihm beides: berührende menschliche Porträts und eine Erzählung gesellschaftlicher Umbrüche, die uns in Zukunft beschäftigen werden.

»Alexander Osang ist der beste Reporter, den wir in Deutschland haben.« Jana Hensel, Die Zeit

»Osang hat es einfach drauf!« Anja Maier, taz

Häufig gestellte Fragen

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783862845163

Mayers Krieg

Ein deutscher Kommandeur bereitet sein Bataillon auf einen Einsatz in Afghanistan vor, dessen Sinn kaum noch jemand versteht. Wie soll er sich und seine Männer motivieren?
An einem Sommertag, wenige Wochen bevor er sein Panzergrenadierbataillon in den Afghanistankrieg führen wird, versucht Oberstleutnant Martin Mayer, einem grauen Tonklumpen Leben einzuhauchen. Der Kommandeur sitzt mit 20 Offizieren und Feldwebeln in einem Seminarraum der Werratal-Kaserne von Bad Salzungen. Die Soldaten sollen aus Ton Plastiken formen, die ihre Ängste und Hoffnungen ausdrücken. Das Dunkle und das Helle, sagt die Referentin. Sie heißt Heike Fritzsche und leitet das Seminar zum Thema Trauer, Tod und Verwundung. Sie hat den Raum mit Blumen, Puppen und Kerzen geschmückt. Sie hat den Ton mitgebracht, aber auch glänzende Sternchen, kleine Herzen, Bändchen und Goldglitter. Lassen Sie Ihre Gefühle frei, sagt Frau Fritzsche, die im normalen Leben einen Kinderhospizdienst leitet. Die Soldaten greifen in den Ton, nur ihr Kommandeur zögert. Das Dunkle und das Helle. Monatelang hat er sich damit beschäftigt. In ein paar Tagen wird Mayer 600 Soldaten in eine Stellung in der Provinz Baghlan führen. Es ist die Gegend Afghanistans, in der bislang die meisten deutschen Soldaten fielen. Er weiß, dass seine Männer kämpfen müssen, aber er will, dass sie Menschen bleiben. Er könnte eine Riesenplastik bauen. Ein Denkmal seines moralischen Dilemmas.
Schließlich formt der Oberstleutnant den Ton zu einem Herzen, um das er ein Band windet. Mayer guckt auf das Herz, neben ihm kneten seine Soldaten wie Weihnachtselfen.
Als Frau Fritzsche ihn fragt, wie er sein Kunstwerk nennen will, sagt der Kommandeur: »Man sieht nur mit dem Herzen gut.«
Ein halbes Jahr zuvor, im Januar 2012, weiß der Kommandeur noch wenig über den Einsatz. Er weiß nicht, wohin die Reise gehen wird, er weiß nicht, welches Ziel sie haben soll. Der Mission unter diesen Umständen einen Sinn abzugewinnen, ist schwierig.
»Ich erfülle einen politischen Auftrag«, sagt Mayer und reißt die Augen auf, als hätte er einen Witz erzählt. Einen alten Witz.
Im Dienstzimmer hängen die Porträts von Christian Wulff, Bundespräsident, und Thomas de Maizière, Bundesverteidigungsminister. Die beiden sind zurzeit Mayers oberste Vorgesetzte. Dort, wo de Maizière hängt, hing das Bild Karl-Theodor zu Guttenbergs, als Mayer das Bataillon im Mai 2010 übernahm. Guttenberg hat die Bundeswehr zu einer Berufsarmee gemacht. Als die Folgen seiner Reform die Kaserne in Bad Salzungen trafen, war der Minister weg. Und dass Christian Wulff noch lange im Kommandeurszimmer hängt, ist unwahrscheinlich.
»Ich kann mich natürlich nicht nur hinter den politischen Auftrag zurückziehen«, fährt Oberstleutnant Mayer fort. »Wenn ich meinen Männern sage: ›Wir haben hier einen Auftrag, den müssen wir treu und redlich erfüllen‹, dann rede ich nicht viel anders als ein Wehrmachtsoffizier. Ich fahre den Kurs, Fragen zuzulassen, denn ich habe die ja auch. Aber sind die beantwortbar?«
Er spielt mit seiner Visitenkarte, die in Plastik laminiert ist, und schaut aus dem Fenster. Auf den Bergen des Thüringer Waldes, die die Werratal-Kaserne umstellen, liegt Schnee. In einer Woche bricht Oberstleutnant Mayer zu einer ersten Erkundungsfahrt nach Afghanistan auf. Er hofft, dass er danach mehr weiß.
Momentan sieht es so aus, dass Mayer eine etwa 600 Mann starke Truppe aus Panzergrenadieren, Aufklärern und Pionieren befehligen wird, die sich in die Hände afghanischer Sicherheitskräfte begeben wird. Sie werden unter afghanischer Führung operieren. Das sieht die neue Strategie so vor. Mayer glaubt, dass die neue Strategie auch einen neuen Typ von Soldaten braucht. Einen Soldaten, der freundlich ist und wehrhaft, hart und weich, einen Soldaten, der tapfer dafür kämpft, sich überflüssig zu machen.
Der Kommandeur referiert über den Einfluss von Mohnernte und Ramadan auf die Seele des afghanischen Soldaten und die des Taliban-Kämpfers, aber das ist natürlich alles sehr theoretisch hier, in Bad Salzungen. Oberstleutnant Mayer windet die Hände ineinander. Er spricht langsam, erklärend, eher Unterstufenlehrer als Kommandeur.
Eine steile Karriere hat den 42-jährigen Offizier in den Chefsessel nach Bad Salzungen geführt. Er wuchs in Munster auf, am Rande des größten deutschen Schießübungsplatzes. Dort wohnt er bis heute mit seiner Frau und vier Stiefkindern. Mayer hat Betriebswirtschaft studiert, bevor er die Offiziershochschule besuchte. Er war Kompaniechef, Ausbilder, hat Auslandseinsätze in Bosnien und in Kabul hinter sich und eine Ausbildung als Generalstabsoffizier. Bis er nach Bad Salzungen kam, las sich seine Bundeswehrakte wie die eines angehenden Generals.
Jetzt, nach anderthalb Jahren Thüringen, sagt er: »General werde ich in diesem Leben wohl nicht mehr.«
Warum nicht?
»Ich habe zu viele Fragen gestellt«, sagt Mayer und bricht in ein meckerndes Lachen aus, das er abrupt abbricht, als hätte ein Vorgesetzter in seinem Kopf den Befehl dazu erteilt.
Oberstleutnant Mayer übernahm im Mai 2010 dieses Bataillon, das gerade aus einem Afghanistan-Einsatz zurückgekehrt war, um es für den nächsten Afghanistan-Einsatz vorzubereiten. Sie hatten drei Soldaten verloren. Ein Gedenkstein hinterm Eingang zur Kaserne erinnert an die Gefallenen. Der Einsatz, so sieht es Mayer, steckt tief in den Seelen der zurückgekehrten Soldaten. Es gab eine große militärische Gedenkfeier, zu der allerhand Politiker und Bundeswehrgrößen nach Bad Salzungen reisten. In jener Woche starb auch Michael Jackson, die Erschütterung verwehte.
In den Wochen nachdem ihre drei Kameraden gefallen waren, gestalteten Soldaten der 1. Kompanie den Eingang ihres Gebäudes in eine Art Traditionsecke um, die an die Schlacht von Stalingrad erinnert. Dort steht auch der Spruch, den ein deutscher Soldat 1945 an der Latrinenwand eines sibirischen Kriegsgefangenenlagers hinterließ.
»Gott und den Soldaten
ehrt man in den Zeiten der Not.
Aber ist die Not vorbei,
wird Gott bald vergessen
und der Soldat schlecht behandelt.«
Mayer sagt, er fühle sich weder von Gott noch vom deutschen Volk verlassen. Stalingrad, Sibirien, damit kann er nichts anfangen. Das Gemälde von der Schlacht im Kursker Bogen, das Soldaten seines Bataillons im Simulationszentrum der Kaserne an die Wand malten, hat er doppelt überstreichen lassen. Die Traditionsecke ließ er ihnen. Er will die Suche seiner Soldaten nach einem Vorbild, dem sie in den Krieg folgen können, nicht ersticken. Er hält diese Suche für notwendig.
Mayer blinzelt hinter seinen randlosen Brillengläsern. Die Wände seines Arbeitszimmers hängen voller Vorbilder, aber es ist nicht das, was er meint. Er erzählt die Geschichte von Frederick, der Maus, die er in einem Kinderbuch gelesen hat. Es geht um eine Maus, die sich mit anderen Mäusen auf den Winter vorbereitet. Während die anderen Mäuse Nüsse in ihr Winterlager schleppen, sammelt Frederick Sonnenstrahlen, Farben und Träume. Alle halten ihn für einen Spinner. Aber am Ende des Winters, als die Nüsse aufgebraucht und die Mäuse niedergeschlagen sind, baut Frederick sein Volk in der dunklen Höhle mit Sonnenstrahlen, Farben und Träumen auf. Frederick, die Maus, also.
Oberstleutnant Mayer strahlt wie ein Kind. Es scheint so, als wollte der Kommandeur noch mal ganz von vorn anfangen mit der verdammten deutschen Kriegsführung.
Anfang März lässt Oberstleutnant Mayer sein Bataillon zu einem Appell antreten, um es auf den Kampf einzuschwören. Der Schnee auf den Thüringer Bergen ist geschmolzen, das Bild von Wulff ist abgehängt und steht, das Gesicht zur Wand, auf dem Fußboden.
Es ist ein neblig-feuchter Morgen im Werratal, am Rande des Appellplatzes verlieren sich ein paar Angehörige, Männer mit Rauchergesichtern, abgekämpft aussehende Frauen, Kinder mit blinkenden Turnschuhen. Dazwischen eine Gruppe mit guten Mänteln. Das ist die Familie von Hauptmann Glawatz, Chef der 1. Kompanie, die aus Richtung Westen angereist ist. Darunter der Onkel, Henning Glawatz, ein Brigadegeneral im Ruhestand. Sie wirken fremd hier, eine Abordnung aus einer anderen Welt. Die meisten Soldaten des Bataillons stammen aus der Nähe, aus Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die neuen deutschen Soldaten kommen aus dem Osten.
»Der Kampf wird zur Realität von uns allen werden«, ruft Oberstleutnant Mayer, nachdem der Bataillonsmarsch verklungen ist. »Wir müssen auf das Schlimmste vorbereitet sein. Den Tod und die Verwundung von Kameraden.«
Mayer wirkt wie ein Kommandeur dort vorn. Ein Mann, der alles unter Kontrolle hat. Aufrecht und entschieden. Man ahnt nicht, dass er gestern Abend mit Standortpfarrer Wolfram Schmidt um den Bad Salzunger Burgsee spazierte, um zu beraten, mit welchen Worten er seine Soldaten auf den Krieg vorbereitet. Mayer trug eine Windjacke, er sah verkleidet aus und wirkte, als liefe er dem Pfarrer hinterher, ein Lamm, kein Falke. Schmidt ist seit 15 Jahren Pfarrer in der Werratal-Kaserne. Er stammt aus Thüringen und hat die Soldaten schon in verschiedenen Auslandseinsätzen betreut, die Soldaten vertrauen Schmidt, Oberstleutnant Mayer tut es auch.
»Ich bin ein Christ«, sagt er, »Pfarrer Schmidt ist auch für mich da.«
Mayer hat nach seiner Ankunft in Bad Salzungen Verbindungen in die Stadt gesucht. Ein enger Kontakt ist nur zu den Frauen vom örtlichen Hospizdienst entstanden und zu Lhama Yeshe, einer Nonne aus einem nahegelegenen buddhistischen Zentrum. Vor ein paar Monaten hat er im buddistischen Zentrum an einem Achtsamkeitswochenende teilgenommen. Zwei Tage Schweigen. Es war großartig, sagt Mayer.
»Ich möchte für Sie jetzt das Lied ›I won’t back down‹ spielen lassen. In der Version von Tom Petty & The Heartbreakers«, ruft Mayer.
Es knistert kurz in der Verstärkeranlage, dann singt Tom Petty in den bleiernen deutschen Nebel über dem Appellplatz, auf dem schon Mot-Schützenbataillone der Nationalen Volksarmee im Stillgestanden verharrten.
»You could stand me up at the gates of hell
But I won’t back down
Gonna stand my ground, won’t be turned around.«
Die Soldaten und ihre Angehörigen stehen ratlos in der Kälte, das Lied zerrt an ihrer Haltung. Man kann nicht tanzen in einer Antreteformation. Du kannst mich an die Höllenpforte stellen, ich werde nicht weichen. Es ist der Song, den Tom Petty schon auf den Gedenkveranstaltungen nach dem 11. September 2001 sang, ein Tag, der die deutschen Soldaten letztlich auf ihre Reise in den Hindukusch schickte. »Hey baby«, ruft Petty im Refrain, »there ain’t no easy way out.«
Nach dem Appell findet im großen Veranstaltungssaal der Kaserne ein Empfang für die Soldaten und ihre Angehörigen statt. Es gibt Orangensaft, Sekt und Gulaschsuppe. An einem der hinteren Tische hat sich die Familie von Hauptmann Glawatz versammelt. Manche Offiziere schauen verstohlen zu dem älteren Herrn in der Mitte der Tafel. Brigadegeneral Henning Glawatz ist eine Bundeswehrlegende.
Er war Fallschirmjäger und hat verschiedene Divisionen geführt, meist Spezialkräfte. In den neunziger Jahren hat er die Operation Libelle geleitet, bei der etwa hundert Menschen aus der Botschaft in Tirana befreit wurden. Glawatz hat über 40 Jahre seines Lebens in der Bundeswehr verbracht. Früher mussten sie kämpfen lernen, um nicht kämpfen zu müssen, sagt er. Heute lernen sie kämpfen, um kämpfen zu können. Im Kalten Krieg, so drückt es Glawatz aus, konnte man davon ausgehen, dass sich der Gegner an gewisse Regeln hält, wenn es »zum Handkuss kommt«. Das sei vorbei. Die Politik treffe mit einer Abstimmung im Parlament weitreichende Entscheidungen, die tief in das Leben eines einzelnen Soldaten eingreifen können. Wenn die Bundesregierung mitbekomme, dass ein großer Teil der Bevölkerung den Krieg in Afghanistan verurteile, müsse sie den Leuten erklären, warum dieser Einsatz nötig sei. Das vermisse er. Man müsse darauf achtgeben, dass Militär und Zivilbevölkerung nicht auseinanderdriften.
Mit alldem würde er bei Oberstleutnant Mayer offene Türen einrennen. Aber sie reden über diese Dinge nicht. Der General kommt irgendwann zu Mayer und stellt sich und seine Frau kurz vor. Die Frau, die eine Brauerei besitzt, bietet Mayer an, das Bataillon zu den Weihnachtsfeiertagen mit kostenlosem Bier zu versorgen.
»Sehr gern«, sagt Mayer, strahlt und wippt auf den Fußspitzen. Weihnachten werden sie in Afghanistan feiern, in einem Lager, in dem Alkoholverbot herrscht.
Als der Kommandeur später in sein Dienstzimmer zurückgeht, rollt der Jaguar von Brigadegeneral Henning Glawatz über die Kasernenstraße zum Ausgang und von da aus zu dem Schloss, in dem er seinen Ruhestand verbringt. Von hier aus wirkt es, als führe er zurück in ein sorgloses, friedliches, aber auch irgendwie irrelevantes Leben.
Anfang April sitzt Oberstleutnant Mayer mit ein paar Offizieren und Feldwebeln in einem Clubraum des Ausbildungszentrums Hammelburg in Unterfranken und tut so, als wäre er in Afghanistan. Seine Truppe ist für eine Woche hierhergefahren, um die neue Strategie der Bundeswehr zu üben. PATF. Partnering & Advisory Task Force. Sie agieren unter Führung afghanischer Sicherheitskräfte. Gerade warten sie auf eine Abordnung afghanischer Dorfältester und Polizeikräfte, die aus Mangel an wirklichen Afghanen von deutschen Soldaten dargestellt werden. Die Decke des Clubraums ist mit Tarnnetzen abgehängt. In der Ecke brüht jemand Tee. Es gibt Apfel, Fenchel und Pfefferminz.
»Die trinken da unten natürlich lieber grünen Tee, haben wir aber nicht«, sagt ein Feldwebel.
Die Afghanen sollten schon seit zehn Minuten hier sein. Das ist Teil des Plans. Der Afghane kommt gern zu spät. Die deutschen Partner knabbern an Lebkuchen. Kommandeur Mayer erzählt von seiner Afghanistan-Erkundung.
Es war kein besonders erfolgreicher Ausflug, weil der Verteidigungsminister und die Kanzlerin zu einem Überraschungsbesuch in Afghanistan auftauchten und Kapazitäten blockierten. Niemand hatte richtig Zeit für Mayer. Immerhin schaffte er es erstmals zum OP North, sah sich das Feldlager an und konnte kurz mit dem Kommandeur sprechen, den er ablösen wird.
»Wir müssen Vertrauen zu unseren afghanischen Partnern aufbauen«, sagt Mayer. »Da geht es nicht, wenn wir zu den Treffen mit lokalen Autoritäten in Splitterweste und Stahlhelm auftauchen.«
Irgendwann kommen die Afghanen, drei verkleidete Bundeswehrsoldaten.
»Salam«, sagt der Oberfeldwebel, der den Dorfältesten spielt.
Ein Soldat bringt Tee.
Zwei Stunden später bricht Mayer mit seinem Fahrer nach »Bonnland« auf, einem Ort in der Mitte des Übungsgebietes, der, so ist die Legende, von Taliban-Kämpfern infiltriert worden ist. Bonnland ist eine gut erhaltene mittelalterliche Kleinstadt, die schon der Wehrmacht als Übungsplatz diente. Später gab es hier Rollenspiele der Bundeswehr mit Feinden aus dem Warschauer Pakt. Gerade liegt der Ort in Afghanistan. Mayers Fahrer parkt auf dem Marktplatz, auf dem bereits jede Menge größere und kleinere Bundeswehrgefährte herumstehen. Im Hintergrund sieht man Soldaten mit Gewehren im Anschlag zwischen blühenden Büschen auf ein kleines Schloss zurennen.
Mayer steigt aus dem Geländewagen und breitet eine Karte auf der Motorhaube aus. Es ist die Karte des Tals in der Provinz Baghlan, das sie bewachen sollen. Mayer redet von den Volksstämmen, die sich in dieser Region mischen, den Tadschiken, Paschtunen, Usbeken, und von den Taliban in den Bergen. Es heißt, sie verhalten sich im Moment still, warten auf den Abzug des ausländischen Militärs oder den Nachschub aus Pakistan. Genaues weiß man natürlich nicht.
»Im Sommer wechseln wir die Kontingente. In diese Phase fällt der Ramadan. Ich weiß nicht, wie fit unsere afghanischen Partner da sind. Wir sind unerfahren und probieren etwas Neues aus. Mit anderen Worten: Wir sind sehr verwundbar«, sagt Mayer.
Er schaut auf die Karte, im Hintergrund rumpeln deutsche Schützenpanzerwagen zwischen Fachwerkhäusern umher. Die Sonne scheint. Bald ist Ostern. Sein Fahrer bringt das Lunchpaket. Büchsenwurst und Knoppers. Zwölf Uhr in Deutschland.
»Ich muss einfach mehr wissen«, sagt Mayer. »Deswegen fahre ich im Mai noch mal zu einer Erkundung. Das ist dann die dritte. Ich merke schon, dass man mich für eine Nervensäge hält. Aber ich kann meine Männer nicht in Situationen führen, die ich nur aus Erzählungen kenne. Wenn ich bis Mai nicht weiß, unter welchen konkreten Bedingungen w...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Halbtitel
  3. Titelseite
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Freunde bleiben
  7. Wir hatten oft das letzte Wort
  8. Die deutsche Queen
  9. Auf der Flucht
  10. The Preuss of Germany
  11. Der Systemsprenger
  12. Da is nüscht
  13. Tod in Berlin
  14. Der Friseur von Fukushima
  15. Mayers Krieg
  16. Der Sonderbotschafter
  17. Totentanz
  18. Der Minister darf auf den Gleisen überholt werden
  19. Was will der Eichmann von uns?
  20. Der vielseitige Mister Chang
  21. Das gefesselte Kapital
  22. Der Stehgeiger
  23. Das letzte Einhorn
  24. Beim nächsten Mal Sahara
  25. Die Auflösung
  26. Das Versprechen
  27. Freunde sein
  28. Quellenverzeichnis
  29. Zum Autor