Ein Volk verschwindet
eBook - ePub

Ein Volk verschwindet

Wie wir China beim Völkermord an den Uiguren zuschauen

  1. 208 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Ein Volk verschwindet

Wie wir China beim Völkermord an den Uiguren zuschauen

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

In der nordwestchinesischen Provinz Xinjiang ist in den vergangenen Jahren eine Dystopie Wirklichkeit geworden: Die muslimischen Uiguren werden dort mit allen Möglichkeiten des Digitalzeitalters erfasst und überwacht. Etwa eine Million Menschen sind monatelang in »Umerziehungslagern« interniert, wo Folter, Zwangsarbeit und Gehirnwäsche an der Tagesordnung sind. Gleichzeitig werden Moscheen geschlossen, religiöse Feste untersagt, Baudenkmäler zerstört. Offensichtlich soll die kulturelle Identität des 15-Millionen-Volks ausgelöscht werden. Westliche Konzerne hält das nicht davon ab, in Xinjiang produzieren zu lassen. Philipp Mattheis' aufrüttelndes Buch erzählt von den Schicksalen Betroffener und klärt über die Hintergründe des Geschehens auf.

»Eines der größten Menschenrechtsverbrechen unserer Zeit.«
Süddeutsche Zeitung

»Vielleicht erklärt... der Mangel an Bildern die unverzeihliche Empathielosigkeit mit den Uiguren in China, von deren brutaler Entrechtung und massenhafter Internierung die Öffentlichkeit seit Jahren weiß.«
Carolin Emcke

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Ein Volk verschwindet von Philipp Mattheis im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Política y relaciones internacionales & Genocidio y crímenes de guerra. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Eine kurze Geschichte der Uiguren

Frühgeschichte

In der Türkei kann es einem schnell passieren, dass gebildete Gesprächspartner von der türkischen Frühgeschichte schwärmen. Schnell schwirrt einem der Kopf, wenn über versunkende Großreiche in Zentralasien und der großen Verwandtschaft aller Turkvölker ausholend parliert wird. Vom Bosporus bis nach Sibirien, in die Mongolei, ja sogar bis ins nördliche Japan sollen diese Verwandtschaftsbeziehungen reichen. Nicht alles davon ist wahr, beziehungsweise historisch erwiesen. Tatsache aber ist, dass die zentralasiatische Steppe jahrhundertelang von Völkern und Stämmen bewohnt war, die große Ähnlichkeiten aufweisen. Sie teilten Sprache und nomadische Lebensweise, und sie dominierten in verschiedenen Konstellationen die weite Landmasse zwischen der Taklamakan-Wüste im Osten und dem Kaspischen Meer im Westen. Im Norden bildete die sibirische Tundra eine natürliche Grenze, waren die Nomaden doch für ihre Pferde auf Weiden angewiesen. Im Süden lag der Hindukusch, der Himalaya und die zerklüftete Landschaft Afghanistans.
Einer dieser Stämme, die Seldschuken, zog im 10. und 11. Jahrhundert nach Westen. Nachdem sie 1071 bei Manzikert, in der heutigen Osttürkei, ein byzantinisches Heer vernichtend geschlagen hatten, siedelten sich die Nomaden im anatolischen Hochland an. Aus den Seldschuken gingen die Osmanen hervor, und aus den Trümmern des osmanischen Reiches formte Kemal Atatürk 1923 die moderne Türkei. Die Säkularisierung der Türkei aber hinterließ ein ideologisches Vakuum, in dessen Folge viele Nationalisten sich auf ihre vorislamischen Ursprünge und Vorfahren in Zentralasien besannen, und von einem türkischen Großreich träumten.
Die Geschichte des vermeintlichen Brudervolks Tausende Kilometer östlich aber hatte einen völlig anderen Verlauf genommen.
Es ist nicht immer leicht, die Geschichte eines Volkes zu erzählen, das sich selbst noch keine 100 Jahre als Volk definiert. Wenn man ehrlich ist, geht es den Deutschen kaum anders. Während Franzosen und Briten sich vielleicht seit 500 Jahren als solche bezeichnen, ist die Zeitspanne bei den Deutschen schon wesentlich kürzer. Ganz grob kann man sagen, dass die Ideologie des Nationalismus, wonach eine Ethnie innerhalb eines geographisch begrenzten Raums lebt, Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa entstand. Noch der österreichische Fürst Metternich soll beim Wiener Kongress 1814/15, der die Ordnung in Europa nach den napoleonischen Kriegen bestimmte, von der Idee schockiert gewesen sein: Angesichts des Völkergemischs in Österreich-Ungarn jeder Ethnie ein bestimmtes Gebiet zuzuweisen, müsse unweigerlich ins absolute Chaos führen.
Und doch verbreitete sich diese Idee von Europa in den kommenden zwei Jahrhunderten in die ganze Welt. Das Konzept der Nationalstaaten ersetzte nach dem Zweiten Weltkrieg die Kolonialordnung und zahlreiche Völker »entdeckten« ihre Identität. Der letzte große Konflikt basierend auf der Idee des Nationalismus waren wohl die Jugoslawien-Kriege in den 1990er Jahren.
Es ist sinnvoll, dies im Hinterkopf zu behalten, wenn man von »den Uiguren« spricht. Die Idee eines Volkes ist immer ein Konstrukt und man kann mit relativ hoher Sicherheit sagen, dass es so etwas wie eine »uigurische Identität« vor 1900 nicht gegeben hat. Was aber damals wie heute existiert, sind zahlreiche Gemeinsamkeiten, die die Menschen innerhalb der chinesischen Provinz Xinjiang miteinander verbinden und sie gleichzeitig von den Han-Chinesen, dem Mehrheitsvolk der Volksrepublik China, unterscheiden.
Das meiste, was wir über die Herkunft und frühe Geschichte der Uiguren wissen, stammt aus chinesischen Quellen. Das Kaiserreich befand sich Jahrhunderte lang in einem Abwehrkampf mit den nördlichen und westlichen Reitervölkern, die die vor allem Ackerbau betreibende chinesische Zivilisation bedrohten. Lange vor der Landnahme der Türken in Anatolien entstand in Zentralasien ein Uigurisches Großreich (745 bis 844). Um es noch komplizierter zu machen, hatte dieses Khanat geographisch nicht viel mit der heutigen Region Xinjiang zu tun. Das Reich erstreckte sich in etwa über die heutige Mongolei und die Übergänge zwischen Mongolen, Uiguren und anderen Turkvölkern waren fließend. Über die Geschichte hinweg fanden sich immer wieder verschiedene Stämme in Konföderationen zusammen, die vorübergehend auch Großreiche bildeten, weswegen auch die direkte ethnische Verwandtschaft der heutigen Uiguren mit dem Khanat aus dem Frühmittelalter umstritten ist.
Während dieser Periode entstand durch den Kontakt mit persischen Sogdiern die uigurische Schrift, die dem aramäischen Alphabet ähnelte. Erst nach der Islamisierung wurde diese Schrift durch arabische Buchstaben ersetzt.
Legenden zufolge sollen es adelige Flüchtlinge des 844 zerschlagenen Großreichs gewesen sein, die sich rund um die Taklamakan-Wüste ansiedelten, der südlichen Hälfte des heutigen »Uigurischen autonomen Gebiet Xinjiang«, wie das Land offiziell in China genannt wird. Etwa 100 Jahre später konvertierten sie wie nahezu alle Turkvölker Zentralasiens zum Islam, der in den folgenden Jahrhunderten identitätsstiftend für die Uiguren wurde. Ihre nomadische Lebensweise hatten sie gegen Landwirtschaft und Viehzucht in den zahlreichen Oasen getauscht. Außerdem lebten sie vom Handel, weil sich genau in dieser Region die Seidenstraße in eine nördliche und südliche Straße aufspaltete. Die uigurischen Städte sind entlang des Handelswegs fast kreisförmig aufgereiht. Wie alle benachbarten Völker und Reiche wurden auch die uigurischen Oasenstädte Ende des 12. Jahrhunderts von Dschingis Khan unterworfen und gingen im mongolischen Großreich auf, dessen Nachfolgereiche die Region bis zum Ende des 16. Jahrhunderts beherrschten. Als diese Zeit zu Ende ging, hatten die Uiguren mit der nomadischen Lebensweise verwandter Turkvölker nicht mehr viel zu tun. Sie lebten in Städten. Das alte Turkvolk hatte sich über die Jahrhunderte hinweg mit zahlreichen anderen Völkern der Region vermischt: mit indogermanischen Tocharern und Sogdiern, mit turkstämmigen Kirgisen und Usbeken, mit Chinesen, Mongolen und Tibetern. Zu diesem Zeitpunkt, Ende des 18. Jahrhunderts, ist es sinnvoller, von einem Völkergemisch zu sprechen, dem islamische Religion, uigurische Sprache und eine Oasen-basierte Lebensweise gemeinsam war. Mit den chinesischen Dynastien im Osten standen diese Völker stets über die Seidenstraße in Kontakt. Zu militärischen Auseinandersetzungen aber kam es während des gesamten Spätmittelalters kaum. Erst Ende des 14. Jahrhunderts gelang es Chinesen, die mongolische Fremdherrschaft abzuschütteln, und unter der Ming-Dynastie (1368–1644) war China ein in sich gekehrtes und auf sich selbst konzentriertes Kaiserreich. Das änderte sich erst mit der Machtübernahme der Mandschus, die als Qing-Dynastie in die chinesische Geschichte eingingen und das Land bis zur Revolution 1912 beherrschten. Unter den Mandschus erreichte das Kaiserreich seine größte territoriale Ausdehnung, und noch heute leitet Peking aus dieser Zeit Gebietsansprüche ab.

Neuzeit und chinesische Besatzung

Mitte des 18. Jahrhunderts eroberten Truppen der Qing-Dynastie die Region. Es vergingen allerdings noch einige Jahrzehnte, bis das Gebiet auch offiziell eine Provinz des chinesischen Kaiserreichs wurde. Die Herrschaft der Mandschus war indirekt. Man verließ sich, wie vorherige Herrscher der Region, auf lokale Eliten, die für den Kaiser die Steuern eintrieben. Abgesehen von einigen Stützpunkten mit Garnisonen und Beamten dürften die meisten Bewohner von Xinjiang, was »neue Grenze« bedeutet, wenig von den neuen Herren mitbekommen haben. Viel zu holen war in der Provinz für die Mandschu-Kaiser nicht: Die goldenen Zeiten der Seidenstraße waren lange vorbei. Der Welthandel hatte sich auf die Ozeane und europäische Schiffe verlagert. Die Vorteile einer militärischen Präsenz überwogen kaum die Nachteile, und in den 1820er Jahren überlegte man in der Verbotenen Stadt, die Provinz wegen der hohen Kosten wieder vollständig aufzugeben. Als es in den 1860er Jahren zu Aufständen unter der muslimischen Bevölkerung kam, zogen sich die chinesischen Truppen tatsächlich für einige Jahre vollständig aus der Region zurück. Viele uigurische Nationalisten sehen diese Rebellion als Beginn der uigurischen Unabhängigkeitsbewegung. Ein Bild des Rebellenführers Jakub Bek hängt noch heute in vielen uigurischen Restaurants außerhalb Chinas.
Bek wurde in den 1820er Jahren im heutigen Usbekistan geboren und war zunächst ein Kriegsherr im Dienste der Mandschus. Im Zuge der Unruhen machte er sich 1867 zum Emir von Kashgar. Bek scharte aufständische Muslimeum sich und es gelang ihm, seine Herrschaft in der Region für einige Jahre zu konsolidieren. Eine Randnotiz: Beks Reich »Kashgaria« oder »Yettishar«, was auf Türkisch »Yedi Sehir« und auf Deutsch »Sieben Städte« bedeutet, erklärte sich 1873 zum Vasallen des Osmanischen Reiches. Gleichzeitig versuchte er, zwischen Russland und Großbritannien im »Great Game«, dem Kampf um die Vorherrschaft in Zentralasien, zu lavieren und die beiden Großmächte gegeneinander auszuspielen. Eine chinesische Offensive aber drängte Bek immer weiter zurück. Er wurde 1877 ermordet, im selben Jahr fielen auch die Städte Turfa, Kashgar und zuletzt Khotan an die Mandschu zurück.
Ein festes Konzept einer uigurischen Nation aber existierte zu dieser Zeit nicht: Die Bewohner der Region definierten sich über ihren muslimischen Glauben und nicht über eine ethnische Zugehörigkeit.
Die Rückeroberung des Tarimbeckens durch die Qing führte aber 1881 dazu, dass Peking die Provinz nun fester an das Reich binden wollte. Anstatt sich auf lokale Eliten zu verlassen, schuf man nun eine Bürokratie, deren Schaltstellen man mit Han-Chinesen besetzte. Uiguren konnten sich als deren Beamte anstellen lassen. Zum ersten Mal in der Geschichte Turkestans strebte man von Seiten Pekings auch eine Assimilierung der uigurischen Eliten an. Mandarin wurde zur offiziellen Amtssprache. Das Schulsystem wurde reformiert und auf konfuzianische Werte ausgerichtet. In den letzten Jahren des chinesischen Kaiserreichs glich die Provinz am ehesten einer entlegenen Kolonie, wie sie europäische Mächte vielleicht in Asien oder Afrika hatten. Während die lokalen Eliten sich teilweise sinisierten, änderte sich am Leben der einfachen Bevölkerung kaum etwas. Die uigurischen Sitten und Gebräuche waren von der chinesischen Herrschaft nicht betroffen. Auch das Netzwerk aus traditionell-islamischen Schulen existierte parallel zum chinesischen Schulsystem.

Die Republik und die Kriegsjahre

Wie in Europa so waren auch in Ostasien die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts eine Zeit des großen Umbruchs. Das chinesische Kaiserreich sah sich immer größeren Demütigungen durch die europäischen Kolonialmächte ausgesetzt, die Teile des Staatsgebietes in Kolonien verwandelten, darunter Hongkong, Shanghai und Qingdao. Japan annektierte sogar ganze Provinzen im Nordosten Chinas. Die in Riten, Traditionen und im Glauben an die eigene Überlegenheit erstarrte Qing-Dynastie sah sich unfähig darin, den Staat zu reformieren. Der Unmut in der Bevölkerung wuchs, hinzu kamen Wirtschaftskrisen und Hungersnöte.
1912 wurde in Peking die Qing-Dynastie gestürzt. Das chinesische Kaiserreich wurde zur Republik und Sun Yatsen ihr Präsident. Sun wird heute noch in der Volksrepublik und in Taiwan gleichermaßen verehrt. Doch auch aus China wurde nicht über Nacht eine Nation. Ähnlich wie nach der Russischen Revolution die Sowjetunion »erbte« die neue chinesische Republik die von den Mandschus eroberten Provinzen: neben Tibet und der Inneren Mongolei auch Xinjiang. Doch Teil dieser Erbschaft war nicht nur die gewaltige Landmasse, die die Mandschus vor Jahrhunderten erobert hatten, sondern auch deren durch Jahrzehnte entstandene Misswirtschaft, Korruption und Ineffizienz. In der Folge zerfiel das Land in von wechselnden Kriegsherren beherrschte Teilreiche. Xinjiang blieb eine Randprovinz, die meist nur formell zu China gehörte. Historiker sehen in dieser chaotischen Periode von 1912 bis in die 1930er Jahre die »Geburt der uigurischen Nation«, beziehungsweise das Erwachen eines uigurischen Nationalbewusstseins, das schließlich in der Gründung der beiden kurzlebigen Republiken Ostturkestan mündete.
Beides hatte mit dem zunehmenden sowjetischen Einfluss auf die Region zu tun. Denn während China in den Wirren des Bürgerkriegs versank, festigte Stalin in der Sowjetunion seine Macht. Die Regierung in Moskau unterschied sich in ihrer imperialistischen Politik wenig von ihrem Vorgänger, der Zarenregierung, und hatte ein großes Interesse daran, ihren Einfluss in Zentral- und Ostasien auszudehnen. Zeitgleich bekamen Uiguren, die Xinjiang in den 1880er Jahren Richtung Kasachstan verlassen hatte, den Status einer »Nation« zuerkannt.
Auch der Begriff »uigurisch« geht auf marxistisch gesinnte Uiguren in Kasachstan in den 1920er Jahren zurück. Die Vorgänge in der benachbarten Sowjetrepublik irritierten den republikanischen Statthalter der Provinz, Yang Zengxin, derart, dass er in Kasachstan ein Generalkonsulat eröffnen ließ, um die »antiimperialistischen Umtriebe« besser beobachten zu können. Sein Nachfolger Jin setzte nach 1928 noch mehr Energie daran, die unruhige Provinz in den Griff zu bekommen. Als er 1932 Truppen aus der Mandschurei zur Hilfe rief, um einen Aufstand niederzuwerfen, ergriff der General der Truppen, Sheng Shicai, selbst die Macht.
1933 aber erklärte sich der überwiegend muslimische Südteil der Provinz als »Republik Ostturkestan« für unabhängig. Lange lebte das Staatsgebilde nicht – schon im März 1934 wurde es von Shengs Truppen, der nun sowjetische Unterstützung bekam, erobert. 1937 war die gesamte Provinz unter der Kontrolle Shengs. Für das uigurische Nationalbewusstsein aber war diese erste Republik enorm wichtig.
Sheng war formal ein Statthalter der nationalistischen Regierung in Nanjing, de facto aber vor allem Herrscher von Moskaus Gnaden. Das ging so weit, dass Sheng sogar Mitglied der kommunistischen Partei wurde. Im Nachhinein wirkt es geradezu ironisch, dass es ausgerechnet sowjetische Berater Shengs waren, die das Nationalbewusstsein der Uiguren förderten. Doch damals diente das Konzept dazu, mit feudalen und imperialistischen Traditionen zu brechen, und für Moskau war es sicherlich förderlich, seinen Einfluss auf ein Gebiet auszudehnen, das formal noch immer zur Republik China gehörte. 1935 setzte sich der Begriff »Uigurisch«, der bis dahin die Sprache der größten Ethnie bezeichnete, für die gesamte Region durch. 1941 soll Sheng Stalin sogar angeboten haben, Xinjiang als Sowjetrepublik in die Union einzugliedern.
Nur ein Jahr später aber überwarf sich Sheng mit seinen Förderern. 1944 wurde er abgesetzt. Die Sowjets begannen nun aktiv, uigurische Nationalisten mit Waffen und Ideologie zu unterstützen. Pekings Kontrolle der Region wurde zunehmend als Kolonialherrschaft der Han-Chinesen bezeichnet. 1944 begann eine Rebellion, die – mit sowjetischer Unterstützung – zur zweiten »Republik Ostturkestan« führte. Das halbautonome Gebilde existierte bis Ende der 1940er Jahre und kam einem Nationalstaat im weitesten Sinne nahe. Mit sowjetischer Hilfe druckte die Regierung eigenes Geld, veröffentlichte Magazine und Bücher, schuf eine eigene Armee und ein eigenes Schulsystem. Zum ersten Mal in der Geschichte der Region seit der Eroberung durch das Qing-Reich waren muslimische Uiguren gleichberechtigt mit Han-Chinesen in Spitzenämtern der Republik tätig.
Lange aber währte diese »goldene Zeit« nicht. 1949 hatten die Kommunisten unter Mao Zedong die nationalistische Regierung der Guomindang besiegt. Präsident Chiang Kai-shek floh mit über einer Million Beamten, der Luftwaffe und dem Goldschatz der Republik nach Taiwan und stellte sich dort unter amerikanischen Schutz – weswegen Peking die Insel bis heute als »abtrünnige Provinz« betrachtet. Maos Truppen machten sich innerhalb kürzester Zeit auf, alle Provinzen des Kaiserreichs wieder unter die Kontrolle der neuen Volksrepublik zu bringen. Dazu gehörte neben Tibet auch Xinjiang. Ohne größere Kämpfe übernahm die Volksbefreiungsarmee 1949 die Herrschaft. Führende Persönlichkeiten der Republik Ostturkestan, darunter Isa Yusuf Alptekin und Muhammad Imin Bughra flohen über Kaschmir in die Türkei, wo sie Zuflucht fanden. Andere Politiker der Republik wurden zwar nach Peking zur Ersten Plenarsitzung eingeladen, überlebten aber einen Flugzeugabsturz nicht. Zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Kommunisten waren 75 Prozent der Bewohner der Provinz Uiguren, und nur sechs Prozent waren Han-Chinesen.
Relativ schnell wurde klar, dass sich die Hoffnungen, wonach die KPCh eine föderativere Politik verfolgen und damit den Uiguren kulturelle Autonomie zugestehen würde, nicht bewahrheiteten. Im Gegenteil: Ende der 1950er Jahre wollte Mao Zedong die Volksrepublik industrialisieren und als Stahlproduzent mit Großbritannien gleichziehen. Hunderte Millionen von Bauern wurden in Kollektive gezwungen. Um die vorgegebenen Stahlquoten zu erreichen, zwangen Funktionäre Menschen, ihr Arbeits- und sogar Kochgerät einzuschmelzen.
Der »Große Sprung nach vorne« endete in einer der größten Hungersnöte der Weltgeschichte: Die Opferzahlen schwanken zwischen 14 und 55 Millionen Menschen. Xinjiang, besonders das abgelegene südliche Tarimbecken blieb jedoch größtenteils verschont. In der Folge wurde die sonst wirtschaftlich schwache und arme Region für viele Chinesen attraktiv: Rund zwei Millionen Han-Chinesen flohen in dieser Zeit vor rotem Terror und Hunger nach Xinjiang. Uiguren wiederum migrierten über die noch offene Grenze nach Kasachstan, da sie sich immer mehr Repressalien ausgesetzt sahen. 1963 wurde die Grenze allerdings völlig geschlossen und blieb es für die kommenden 30 Jahre. Mao hatte sich kurz davor mit dem einstigen Verbündeten, der Sowjetunion, überworfen. Das Regime war nun bis auf wenige Verbündete, wie Albanien, völlig isoliert.
Die »Autonome Region Xinjiang« wurde nun eine Art Grenzkolonie der Volksrepublik: Die Nähe zum neuen Feind Sowjetunion und die uigurischen Bewohner machten Xinjiang prinzipiell zu einer »gefährdeten Region«. Es wurde Aufgabe der Bingtuan – sogenannte »Aufbau- und Produktionskorps« – die Region zu sichern. Die Bingtuan bestanden aus demobilisierten Soldaten, die man oft in Grenzregionen ansiedelte und zur Selbstversorgung anhielt. Somit sollten gleichzeitig Grenzen gesichert und Regionen wirtschaftlich erschlossen werden. 1954 wurde Xinjiangs Aufbau- und Produktionskorps (XCCP) gegründet. Die Bingtuan übernahmen die Höfe derer, die in die Sowjetunion geflüchtet waren. Vor der Kulturrevolution hatte das XCCP rund 1,5 Millionen Mitglieder. Bis heute sind die Bingtuan die größte Wirtschaftsmacht der Region. Die Organisation kontrolliert zahlreiche Schlüsselindustrien und ist für die Errichtung und Instandhaltung der Konzentrationslager verantwortlich.
Als Mao Zedongs Macht aufgrund zahlreicher Fehlentscheidungen und Misswirtschaft zu bröckeln begann, setzte er auf ein schauriges Mittel: Er rief 1966 die Jugend des Landes auf, gegen sogenannte revisionistische und reaktionäre Tendenzen vorzugehen, um die kommunistische Revolution zu retten. In der Folge begann die vielleicht dunkelste Periode der chinesischen Geschichte, von der auch die Uiguren auf unterschiedliche Weise betroffen waren.
Die Roten Garden, fanatisierte Teenager, zogen durchs Land, verbrannten Bücher, zerstörten Tempel, brandmarkten Intellektuelle als Konterrevolutionäre und verbreiteten ein Schreckensregime, welches das gesamte Land für mehrere Jahre ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Halbtitel
  3. Titelseite
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Vorwort
  7. Was wir wissen können
  8. Kashgar 2014
  9. Uyghur Tribunal I: Zumret Dawut
  10. Eine kurze Geschichte der Uiguren
  11. Die Spur in den Daten
  12. Uyghur Tribunal II: Abdusalam Muhammad
  13. Das Freiluftgefängnis
  14. Uyghur Tribunal III: Mihrigul Tursun
  15. Der Weltkongress der Uiguren
  16. Uyghur Tribunal IV: Qelbinur Sidik
  17. Zwischen den Stühlen – Diaspora in Istanbul
  18. Uyghur Tribunal V: Gulbahar Jelilova
  19. Die Machtpolitik Xi Jinpings und die Folgen für die Uiguren
  20. Uyghur Tribunal VI: Gulbahar Haitiwaji
  21. Warum Xinjiang? Die geopolitische Bedeutung der Region für Peking
  22. Schuld, Mitschuld, Verantwortung – Die Rolle deutscher Unternehmen in Xinjiang
  23. Xinjiang und die globalen Lieferketten
  24. Reiseblogger im Dienste der KPCh
  25. Genozid versus »Bevölkerungsoptimierung«
  26. Was wir tun können
  27. Epilog
  28. Quellen und Literatur
  29. Dank
  30. Karte
  31. Der Autor