KOMMENTIERTE EDITION
Tagebuch 1
Tagebuch 1 ist eine Kladde im Stil und mit den Maßen eines Poesiealbums. Der Einband besteht aus geriffeltem, grünem Kunstleder. In der Innenseite des Einbands befindet sich unten links eine Reklame-Prägemarke mit weißer Schrift auf blauem Grund. Inschrift ›M. Gruber Papierhandlung München Georgenstr. 41‹. Die Einträge sind mit energischer, häufig flüchtiger und von individuellen Abweichungen geprägter deutscher Kurrentschrift abgefasst. Zum Schreiben wurde blaue Tinte und in wenigen Ausnahmen Bleistift verwendet.
Allen Tagebüchern ist gemeinsam, dass der Autor immer wieder Personen mit Klarnamen oder auch Abkürzungen nennt, die nicht mehr sicher ermittelt werden können, jedenfalls nicht, ohne einen unverhältnismäßigen Aufwand zu betreiben, der der mangelnden welthistorischen Bedeutung einzelner Handelnder nicht gerecht würde; dies gilt auch für einige geschilderte Zusammenhänge. Damit müssen Herausgeber und Leser bzw. Leserin leben. Dort aber, wo Personen oder Zusammenhänge ermittelt werden konnten, durch die Schilderung des Autors aber nicht dem Leser bzw. der Leserin sofort erkennbar oder verständlich sind, werden in den Anmerkungen erklärende Informationen angeboten. Die Rechtschreibung folgt dem Originaltagebuch und wurde nicht an heutige Regeln angepasst. Fehler der Grammatik und Rechtschreibung wurden nur in Ausnahmen korrigiert.
Nicht immer sind die Buch- und Filmzitate sowie literarischen Anspielungen des Freiherrn eindeutig aufzulösen. Wo dies aber möglich ist, werden entsprechende Angaben in den Fußnoten vorgenommen. Historische Personen, die als allgemein bekannt vorausgesetzt werden dürfen, werden in den Fußnoten nicht weiter erklärt. Ansonsten erfolgen Erklärungen im Anmerkungsapparat.
Enthält: Einträge vom 8. Oktober bis 31. Oktober 1943 und vom 5. Juni bis 1. September 1944. Lücke zwischen 1. November 1943 und 4. Juni 1944. Es geht dann mit einem Eintrag zum 11. August 1944 weiter, womit sich eine weitere Lücke vom 6. Juni bis zum 10. August 1944 ergibt. Die Versionen ›B‹ und ›C‹ beginnen am 30. Juli 1944. Tagebuch 1 ist somit in Teilen nicht veröffentlicht bzw. bewusst von Hans Max von Aufseß vor der Öffentlichkeit zurückgehalten worden.
Tagebuch 2
Tagebuch 2 ist ein Heft mit rotem, leicht verstärktem Papiereinband und dem Maß 20 x 12,8 cm. Auf der Innenseite des Einbands ein Aufkleber des ›Camp 18 – Featherstone Park‹ mit Besitzhinweis: »This is the Personal Property of: Hansmax Frhr. v. Aufsess«. Auf dem Aufkleber ein violetter Stempel ›P.O.W. Camp No. 18 Great Britain‹.
Die Einträge sind mit energischer, häufig flüchtiger und von individuellen Abweichungen geprägter deutscher Kurrentschrift abgefasst. Zum Schreiben wurde blaue Tinte verwendet.
Enthält: Einträge vom 3. September 1944 bis 5. November 1944
Besitzstempel im Tagebuch
3. 9. [19]44 Jersey.
[1] Das Memorandum der Staaten hat mir eine unruhige Nacht gebracht. Sie bestreiten darin die Möglichkeit des Durchhaltens bis zu dem von uns festgesetzten Termin des 31. 1. 45 und verweigern ihre Mitarbeit bei der Streckung u. Einsparung zu dieser Frist. Versteckt drohen sie mit späterer Heranziehung zur Rechenschaft, falls durch unsere Friststellung das Leben der Zivilbevölkerung gefährdet würde.131
Aus dem inneren Wunsch, mich anständig hier durchzuschlagen ohne Nachgiebigkeit u. Weichheit in soldatischer Hinsicht, stieg der Gedanke in mir häufig auf, daß die militärische Lösung die klarste und anständigste sei und dem langsamen Abwürgen 1000mal vorzuziehen wäre. Wenn also die Staaten nicht so lange auszuhalten glauben, so wollen wir doch noch ihren Hilferuf weitergeben. Vielleicht greift dann der Gegner an. Aus dieser Haltung ergeben [2] sich mir aber gleichzeitig alle anderen Lösungen. Die Verantwortung, die uns die Staaten mit dem Memorandum zuschieben, geben wir durch Weiterreichung an den Gegner dem Engländer weiter.
Nun kann er angreifen oder er mag Versorgungsschiffe schicken. Es liegt nicht mehr an uns, wenn die Engländer darben. Erfolgt aber keines von beiden, so werden die Staaten nicht mehr mit dem Rücktritt drohen können, wenn wir weitere Einschränkungsmaßnahmen befehlen werden. Es ist die absolut richtige Lösung, denn die sachliche Prüfung hat ergeben, daß für die Zivilbevölkerung ein Notstand schon früher als am 31. 1. 45 erfolgen muß, da sie kein Brennmaterial für die öffentlichen Küchen und Bäckereien hat.
Am Morgen rief ich zur Bera- [3] tung alle meine Herren zusammen. Pokorni, der gebeugt von Sorgen in den Stunden seit Eingang des Memorandums herumgelaufen war, sah in seiner klug nüchternen Weise als erster die Richtigkeit dieser Lösung ein. Ihm folgte mit ein paar virtuosen Abschweifungen der Intellektuelle Wölcken. Die anderen machten ein paar Einwendungen, mußten sich aber der Folgerichtigkeit dieser einzig möglichen Entscheidung rasch anschließen. Oberst Heine, der zufällig gerade am Morgen kam, ließ sich auch rasch überzeugen. Nun werde ich eine eingehende Stellungsnahme [sic] vorbereiten und sie schriftlich nach drüben durchgeben. Ich fürchte die Halbheit jeder telephonischen Information und fürchte nichts so sehr als vorzeitige Mißverständnisse, die eine Sache von vornherein verderben können. [4]
Es ist gerade Vollmond und mit den großen äquinoktialnahen132 Gezeiten kam ein gewaltiger Sturm auf. Zweifellos bestehen hier Zusammenhänge zwischen der großen Wasser- und Luftbewegung. Hochflut und Sturm ergeben prächtige Strandbilder. Zweimal ging ich mit Bleul schon früh hinunter. Das Wasser ging fast bis zur Mauer und es war ein Wüten und Tosen wie ein von Hochwasser braun angeschwollener Gebirgsfluß aber in frontaler unübersehbarer Weite. Wir konnten nur seitlich stehend fortschreiten. Eine ungünstige Begegnung einer brechenden Welle warf uns schwer zu Boden und rollte uns kopfüber auf den sandigen Strand hoch. Waren die ersten Brecher überwunden, so kam man in das Tiefe und konnte [5] schwimmen. Ich spürte, wie mir die riesigen Wellen regelrecht Angst einjagten, wie sich das Herz schon vor ihrem Hereinbrechen beklemmte und der Atem stockender wurde, an sich die sicherste Art, um sie womöglich nicht zu bestehen. So warf man sich Mut an, die Welle hob einen erst hoch, dann kam man in den überbrechenden Gischt, der einen für Sekunden ganz in Wasser tauchte und schon glitt man atemschöpfend den Steilabhang an ihrer Rückseite wieder hinunter. Manchmal folgte sofort die nächste und draußen baute sich schon wieder eine neue gigantisch auf um schließlich gar nicht so gefährlich zu werden, weil sie nochmals vor dem Brechen zusammensank. Es gibt kein wilderes Spiel selbst nicht auf einem Pferd mit fremden [6] Kräften. Es geht eine Lust am Körperlichen hiervon aus, man kann vor Vergnügen wieder wie ein Kind schreien. Ich glaube, daß man diese Lust gar nicht so haben könnte, wenn der Geist nicht so Haus im Körper führen würde. Die Haltung, Gemessenheit und Bewußtheit muß er hier den Elementen abtreten, die den Körper völlig tragen, bewegen und sich ihren Gesetzen anschließen.
Heute am Sonntag Morgen mit Satan nach dem Mont Orgeuil Castle133 geritten. Eine kleine Rute hat dem ein paar mal verschlafenen Herrn sein ganzes Feuer wieder gebracht. Ich ritt wie zu Ritterszeiten in die alte Burg über Zugbrücken und durch Vorhöfe ein. Drinnen empfing mich Major K.134, der es sich nicht nehmen ließ, [7] mir alle Einzelheiten des als Widerstandsnest ausgebauten Schlosses zu zeigen. Alte verfallene Räume erhalten plötzlich ihre vielleicht frühere Bedeutung zurück. Das ganze erinnert an ein Bubenspiel, wo wir auch Mäuerchen auf Felsen aufgeführt und Schießstände errichtet haben. Der Krieg bleibt nun einmal ein Bösesbubenspiel der erwachsenen Männer. Zum Glück wurden keine dauernden Veränderungen an der ehrwürdigen Feste damit vorgenommen. Die alten Ritter hätten sich über die Kompliziertheit unserer Kriegsführung mit den Artilleriemeßständen und Auswertetischen schön verwundert.
Ich lese in »La Confession de Talleyrand« das mir Vergnügen machende Wort: »Man muß die schwerwiegenden Dinge leicht behandeln und die unnützen Dinge ganz ernst. Diese Methode hat den Vorteil [8] daß der Durchschnittskopf dabei nicht mitreden kann.«135 Ich möchte hinzufügen, daß diese Methode den weiteren Vorzug der Lockerung hat, aus der sich die besten Lösungen oft in schwierigen Situationen finden lassen. Deshalb ist so oft der pathetische Franzose so lächerlich, der gründliche Deutsche so humorlos und der verschlagene Slave136 so unerquicklich.
Waffenstillstand Finnlands137 u. Bulgariens138 kommt durch. Die äußeren Zeichen der Niederlage häufen sich erschreckend. Es gibt immer noch einige, die an Wunder glauben. Wenn erst die neuen Waffen kämen139, so würde sich alles wenden.
Oberleutnant Wetzstein war zum Tee im Lindencourt. Er ist der einzige hier mit Ideen und u. geistigem Format. Wir kamen in allen Gesprächen immer wieder auf die bedrückende Zukunft zurück. Sie läßt die Gedanken nicht mehr los. Wir sprechen über die zukünftigen Entwicklungen Deutschlands und waren uns klar, [9] daß der Krieg als riesiges Naturgeschehen unser Leben tiefgreifend verändern muß, daß der Individualismus zu Ende gehen wird und daß die europäische Kultur so entscheidend in diesem Krieg geschlagen wurde wie die griechische bei Pumae in den persischen Kriegen140. Europa wird zwar wie die Griechen noch lang Lehrer u. Maßstab der anderen sein, aber eine politische Bedeutung wird es nicht mehr bekommen.141 Am Schluß kamen wir auf Geldfragen und waren uns einig, daß mit der Niederlage auch alles Geld entwertet ist und die ungeheure Verarmung durch den Krieg voll zu Tage tritt. Deckung u. Kredit beides sind dann verloren und es könnte nur ein strenges Bewirtschaftungssystem vor der Inflation retten.
4. 9. [1944]
Vortrag vor Marineoffizieren wiederholt. Die große Aufmerksamkeit hat mich selbst in einen geistigen Spannungszustand versetzt, in dem ich mit einer ge- [10] wissen inneren Teilnahme sprechen konnte, die sich ihrerseits dann wieder überträgt. Ich habe mir das Wort gemerkt, daß kein Vortrag über eine Stunde Glück bei den Zuhörern haben kann, in dem nicht hier und da ihnen geschmeichelt wird. Die Masse hat ja nun mal gewisse primitive Eigenschaften. Sie ist nach »Le Bon«142 triebhaft, reizbar, leichtgläubig und unkritisch. Also dürfen ruhig Schmeicheleien ihr gegenüber gebraucht werden. Danach gab es noch eine lebhafte Aussprache. Ich saß mit neben Kapitän und Eichenlaubträger...