Follow the science - aber wohin?
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Follow the science - aber wohin?

Wissenschaft, Macht und Demokratie im Zeitalter der Krisen

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  1. 2,085 Seiten
  2. German
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Follow the science - aber wohin?

Wissenschaft, Macht und Demokratie im Zeitalter der Krisen

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Auf dem Weg in die Expertokratie?

In der Corona-Pandemie waren zuverlässige Informationen gefragt wie nie. Der Rat der Wissenschaft wurde gesucht, die Reichweiten traditioneller Medien stiegen. Gleichzeitig rangen Journalist: innen, Wissenschaftler: innen und Politiker: innen um Deutungs- und Entscheidungshoheit. Unter hohem Handlungsdruck suchte die Politik in der Wissenschaft nicht nur nach Ideen für wirksame Eingriffe ins gesellschaftliche Regelwerk, sondern auch nach Legitimation für unbequeme Entscheidungen. Markiert die Corona-Krise eine Zäsur im Verhältnis von
Medien, Wissenschaft und Politik? Wie ordneten die Medien hierzulande wissenschaftliche Daten ein, welchen Expert: innen gaben sie eine Bühne? Was braucht es, um kommende Krisen besser zu bewältigen? Die Beiträger: innen dieses Bandes suchen nach Antworten auf diese und viele andere Fragen.

Mit Beiträgen von Sibylle Anderl, Jakob Augstein, Alexander Bogner, Rafaela von Bredow, Markus Gabriel, Caspar
Hirschi, Wolfgang Merkel, Olivia Mitscherlich-Schönherr, Barbara Prainsack u.a.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783862845262
Caspar Hirschi

Zur problematischen Vorbildfunktion der Klimakrise für die Corona-Krise

Krisen sind Situationen eines doppelten Kontrollverlustes. Erstens hebeln sie die Steuerungsmechanismen aus, die moderne Gesellschaften im Wissen um ihre Krisenanfälligkeit zur Aufrechterhaltung von Stabilität installiert haben. Dadurch setzen sie unerwünschte Ereignisketten in Gang, die nicht mehr aufzuhalten, sondern höchstens noch abzumildern sind. Kommt man einer Krise nicht zuvor, kann man sie nicht mehr einholen. Krisenpolitik besteht zwangsläufig darin, den Ereignissen hinterherzuhinken. Zweitens bringen Krisen Betroffene wie Beobachtende um das Vertrauen in die Durchschaubarkeit des aktuellen Geschehens und in die Erwartbarkeit der kommenden Entwicklungen. Sie lösen fundamentale Orientierungsverluste, gefolgt von einer gesteigerten Orientierungssuche aus, um die aus den Fugen geratene Welt wenigstens rational wieder einzufangen.
Zentraler Referenzpunkt bei der Orientierungssuche sind andere Krisen, die zum Deutungsrahmen für die eigene Erfahrung erhoben werden (Hein-Kircher 2020). Moderne Gesellschaften verfügen über einen institutionalisierten Erinnerungsapparat, mit dem sich vergangene Phasen des Kontrollverlusts abrufen und zu Anleitungen für den Umgang mit gegenwärtigen Krisenereignissen verarbeiten lassen. Der Griff zur Geschichte taucht einen unvertrauten Schadensablauf in ein vertrautes Licht und verwandelt überwundenes Leid in Lehrstücke für Nachgeborene. Die Orientierungsleistung der Erinnerung hängt jedoch entscheidend davon ab, wie gut frühere Krisen aufgearbeitet sind und wie stark ihre Ursachen und ihr Ablauf dem aktuellen Krisengeschehen entsprechen. In der Finanzkrise nach 2007 ermöglichte der Rückgriff auf das Wissen zur Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre einen raschen Expertenkonsens, was es unbedingt zu verhindern gelte: einen Kollaps des Bankensystems durch eine unkontrollierte Konkurswelle, die danach auf die Realwirtschaft durchschlagen würde. Dadurch fiel es Ökonomen in Notenbanken und Verwaltungen leichter, die Politik von der Notwendigkeit massiver Eingriffe zu überzeugen, um das Finanzsystem mit staatlicher Hilfe zu stützen (Hirschi 2021).
In der Corona-Pandemie hingegen fehlte in westlichen Gesellschaften eine Gesundheitskrise, die als Orientierungsanker hätte dienen können. Die Spanische Grippe vermochte diese Funktion nicht zu erfüllen. Das lag weniger an der zeitlichen Distanz als an den geringen Spuren, welche die Spanische Grippe im Vergleich zur Weltwirtschaftskrise im kollektiven Gedächtnis und in der wissenschaftlichen Forschung hinterlassen hat. Für die meisten Betroffenen war die damalige Pandemie keine krisenhafte Erfahrung, sondern ein Ereignis im Rahmen ihrer Normalitätserwartungen, die eine wiederkehrende Konfrontation mit Seuchen einschloss. Es herrschte Not, Menschen starben, das Leben ging weiter. Zudem standen die damaligen Gesellschaften am Ende eines Krieges, dessen Zerstörungskraft und Langzeitwirkung als viel verheerender wahrgenommen wurde. Bedingt durch die historischen Umstände gingen auch die medizinischen Wissenschaften in späterer Zeit kaum der Frage nach, wie die schwere Krankheitslast und die hohen Todeszahlen der Spanischen Grippe zu verhindern gewesen wären.
In Ermangelung einer Referenzkrise aus der Geschichte trat in der Corona-Pandemie mit dem Klimawandel eine Gegenwartskrise als Deutungsrahmen in den Vordergrund, mit der die Wissenschaft und Politik schon seit Längerem ringt, ohne dass die Gesellschaft ihre schädlichen Auswirkungen bisher stark zu spüren bekommen hat. Als chronische Krise, bei der noch unklar ist, wie sie von der erdölabhängigen Weltbevölkerung bewältigt werden wird, bietet die Erderwärmung aber kaum den nötigen Anschauungsunterricht, um eine akute Gesundheitskrise epistemisch und besser in den Griff zu bekommen (Grundmann 2021). Zu diesem Zweck werden Vergleiche mit ihr aber auch kaum angestellt. Die Orientierung an der Erderwärmung dient weniger dem Verständnis und der Kontrolle des pandemischen Geschehens als dem Kampf gegen andere pandemiepolitische Positionen. Dazu eignet sich die Klimakrise besonders, weil sie seit Jahrzehnten von erbitterten Kontroversen geprägt ist und eine Reihe von medialen Strategien hervorgebracht hat, um den Widerstand gegen eine aktive Krisenintervention zu schwächen. So konfliktreich und ungelöst, wie die Klimakrise ist, stellt sich aber die Frage, ob ihre politische Instrumentalisierung die Bewältigung einer Gesundheitskrise, für die es einer breiten gesellschaftlichen Solidarität bedarf, nicht mehr behindert als erleichtert. Bei genauerem Hinsehen spricht viel dafür, die Frage zu bejahen.

Der Polarisierungseffekt der Klimakrise

Die Orientierung an der Klimakrise begann kurz nach dem Ausbruch der Pandemie damit, dass die Gesellschaft in Sehende und Geblendete aufgeteilt wurden. Erst in den sozialen und dann in den nationalen Medien wurden den Klimaleugnern die »Coronaleugner« und »Covid-Idioten« als Geschwister im Geiste zur Seite gestellt. Die Vielfalt an Motiven, die Menschen anfangs zu Kritik an den Eindämmungsmaßnahmen bewogen, reduzierte sich in vorauseilender Anwendung des schlimmstmöglichen Verdachts auf die Unterstellung, es handle sich um Realitätsverweigerung. Der Streit, wie mit der Bedrohung umzugehen sei, wurde bei der ersten Gelegenheit als Wissenskonflikt gerahmt, in dem die eine Seite der anderen Ignoranz und Irrlehren vorwirft, verbunden mit dem Imperativ, sich zur Wahrheit zu bekehren. Wissenskonflikte haben, sobald es um mehr als nur die bloße Klärung von Sachverhalten geht, die Eigenschaft, sich zu Grabenkämpfen zwischen zwei Lagern auszuwachsen, die sich verständnislos und unversöhnlich gegenüberstehen (Bogner 2021). Spricht man widerspenstigen Bevölkerungsgruppen zu Beginn einer Krise den Realitätsbezug und die Intelligenz ab, fällt es später umso schwerer, sie aus der Opposition gegen die Krisenpolitik zurückzuholen. Eher passiert das, wovor Stephen Hilgartner, Benjamin Hurlbut und Sheila Jasanoff in Science gewarnt haben: »Halten Experteneliten die Bevölkerung für vorsätzlich unwissend und unverbesserlich irrational, benötigen sie bessere Mittel, um jene zu verstehen, die sich ausgegrenzt fühlen. Sonst drohen die politischen Institutionen wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung die Sorte von widerständigen Bürgern hervorzubringen, die anzusprechen sie sich einbilden.« (Hilgartner, Hurlbut, Jasanoff 2021) Aus der umgekehrten Perspektive betrachtet: Wer sich zu Unrecht in eine Ecke gestellt fühlt, hat mehr Grund, für Verschwörungsmythen empfänglich zu werden und sich Schritt für Schritt weiter zu radikalisieren. Der rhetorische Rückgriff auf Bezichtigungsinstrumente der Klimakrise gehörte zu den Initialzündern einer Polarisierungsdynamik, die in der Pandemie mit jeder Welle zunahm. Sah man jedoch in der Corona-Krise eine Klimakrise im Kleinen, erschien die Polarisierung nicht als Folge der eigenen Parallelisierung, sondern bloß als weitere Parallele. Der Vergleich erhielt tatsächlich Züge einer Selffulfilling Prophecy.
Noch stärker schlug sich das Vorbild der Klimakrise in Erwartungen an eine politische Führungsrolle von Experten nieder. Dafür fehlten aber sowohl die institutionellen als auch die wissenschaftlichen Voraussetzungen. Die Klimawissenschaften sind ein Forschungsfeld, das seit mehr als einem halben Jahrhundert intensiv bearbeitet wird und das vor mehr als drei Jahrzehnten mit dem Weltklimarat eine institutionell gefestigte Form der wissenschaftlichen Politikberatung erhalten hat. Im Vergleich dazu wirkt die wissenschaftliche Forschung und Beratung zu COVID-19 wie ein behelfsmäßig aufgezogenes Feldlazarett. Der Begriff hat nichts Despektierliches, im Gegenteil: In Lazaretten an der Kriegsfront wurden unter enormen Belastungen lebensrettende Leistungen vollbracht und medizinische Innovationen mit Langzeitwirkung angestoßen. Voraussetzung dafür aber war die gemeinsame Anerkennung der Ausnahmebedingungen, unter denen das Fachpersonal tätig war, sowie die Einsicht in die »Vorwissenschaftlichkeit« vieler Annahmen und Behandlungsmethoden, weil die Sicherung neuer Erkenntnisse dem Zwang zum Handeln hinterherhinkte. Deshalb war ein experimenteller Pragmatismus gefragt, dem es darum ging, Bewährtes rasch umzusetzen, Gescheitertes ebenso schnell fallenzulassen und doktrinäre Standpunkte zu vermeiden.
In der Corona-Krise bestand diese Feldlazarett-Konstellation weit über die Anfangsphase hinaus, ja sie dürfte bis zur endemischen Phase fortdauern, wobei es die Kombination von Virusmutationen (Alpha bis Omikron) und Innovationen (Tracing-App bis mRNA-Impfung) war, welche für die größten Unwägbarkeiten sorgte. Das wissenschaftliche Fachpersonal, dessen Expertise in den Medien am meisten gefragt war, neigte dazu, die Veränderung durch Innovationen zu überschätzen und jene durch Mutationen zu unterschätzen. Viele erwarteten von der Tracing-App im Frühjahr und Sommer 2020 einen Beitrag zur Verhinderung weiterer Ansteckungswellen und versprachen sich ein Jahr später von der Impfung nichts weniger als die Beendigung der Pandemie. Obwohl die Favorisierung und Überschätzung technischer Lösungen in der Geschichte der natur- und technikwissenschaftlichen Expertise ein altbekanntes Problem ist, kam sie in der Diskussion über Expertise in der Pandemie kaum zur Sprache (Johnston 2021). So trug die Unaufgeklärtheit über den eigenen Hang zu verzerrten Wahrnehmungen dazu bei, dass offizielle Experten gegenüber technologie-skeptischen Stimmen Positionen bezogen, die sie kurz darauf, eingeholt von der pandemischen Realität, wieder räumen mussten. Martin Ackermann, Präsident der Schweizerischen Science-Task-Force, sagte Anfang August: »Wir hätten es in der Hand, die Epidemie in der Schweiz in rund acht Wochen zu beenden, indem wir uns alle impfen lassen.« (SRF 2021) Die Rede von der »Pandemie der Ungeimpften«, die sich in deutschsprachigen Medien bis weit in den Spätherbst hinzog, war nicht nur empirisch falsch, sondern auch politisch unklug, weil sie die so Stigmatisierten im Gefühl bestärkte, ungerecht behandelt zu werden. Als sich mit der Durchsetzung von Omikron die Impfdurchbrüche vervielfachten und gleichzeitig die Krankheitsverläufe abmilderten, waren viele der medizinischen und pandemiepolitischen Überzeugungen, die unter Delta noch galten, endgültig in Frage gestellt. Eine vergleichbare Situation hat es in der Klimakrise nie gegeben. Krisen, in denen ein moving target bekämpft wird, bedürfen einer Haltung und Sprache, die Ungewissheiten eingesteht, Fehler erlaubt, guten Willen zeigt, Großzügigkeit gegenüber anderen Ansichten walten lässt, Handlungsoptionen eröffnet anstatt Handlungszwänge zu erzeugen und Wortmeldungen von Erregungskünstlern und Spinnern ausblendet, anstatt sich an ihnen abzuarbeiten. Wer sich jedoch verhält, als gäbe es nur eine wahre Sicht der Dinge und eine richtige Art zu handeln, hat die Lage fundamental verkannt.
Wie konnten Experten der Klimakrise überhaupt zum Vorbild für Virologen und Epidemiologen der Corona-Krise werden, wenn die institutionellen und wissenschaftlichen Voraussetzungen ihres Tuns derart anders sind? Die Imitation funktioniert nur deshalb, weil es eben nicht um die institutionelle Organisation und epistemische Grundlage, sondern um die mediale Inszenierung von Expertise geht. Dabei jedoch taucht sogleich ein weiteres Problem auf: Bereits in der Klimapolitik besteht eine Kluft zwischen der politischen Realität und der medialen Repräsentation von wissenschaftlicher Expertise. Wird die wissenschaftliche Expertise in der Corona-Krise durch die Brille betrachtet, mit der die Medien über die Klimapolitik berichten, entsteht eine falsche Wahrnehmung zweiter Ordnung.

You cannot »follow the science«

Im institutionellen Zentrum der klimawissenschaftlichen Politikberatung steht der Weltklimarat. Der IPCC verfasst seine Berichte nach dem Prinzip, »neutral, policy relevant, but not policy-prescriptive« zu sein. Entsprechend spricht er keine Empfehlungen aus und stellt schon gar keine Forderungen auf, was für konkrete Maßnahmen zu ergreifen sind (Grundmann, Rödder 2019). Allgemeine Ziele wie die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad werden in enger Zusammenarbeit und unter Federführung der internationalen Politik verabschiedet. Die Selbstbeschränkung des Weltklimarats hat ihr Fundament in den prognostischen Unsicherheiten und normativen Dilemmata, die mit den Zukunftsszenarien in seinen Berichten verbunden sind. Das Abwägen von Risiken, das Setzen von Werteprioritäten und Fällen von Entscheidungen ist Aufgabe der Politik, nicht der Wissenschaft.
Als nun aber die Klimabewegung den Klimanotstand ausrief und einen system change forderte, wies sie den Klimawissenschaften die weltweite Führungsrolle bei der politischen Bekämpfung der Erderwärmung zu. »Follow the science« und »Unite behind the science« avancierten zu Mobilisierungsparolen eines neuen Aktivismus, der ohne eigene Agenda auskam, in der Annahme, die Befunde und Modelle der Klimawissenschaften enthielten bereits das politische Programm. Da der Weltklimarat der Politik aber keine Vorschriften macht, läuft der Aufruf, der Wissenschaft zu folgen, ins Leere (Hirschi 2021). Den offiziellen Klimaexperten wird eine Rolle zugedacht, die sie nicht einnehmen können. Anstatt auf den Widerspruch hinzuweisen, haben ihn manche Klimaforscher aber noch verschärft, indem sie in den Medien eine aktivistische Wende vollzogen, die mit ihrem institutionellen Auftrag kollidiert. So entstand bereits in der Klimakrise das Problem, dass die mediale Inszenierung von Expertise der Wissenschaft eine politische Führungsrolle zuordnete, die sie nicht hat und auch nicht haben kann.
Der Wissenschaft zu folgen, musste in der Corona-Krise schon deshalb in die Irre führen, weil gar keine Instanz existiert, die den Erkenntnisstand der relevanten Forschungsgebiete aufbereitet und bekannt gibt. Die WHO ist nicht der IPCC, und sie hätte wegen der akuten Zeitnot auch nie eine vergleichbare Rolle einnehmen können. Sobald die globale Dimension der Krise sichtbar wurde, entstand ein unkoordinierter Wettbewerb unter Forschenden um die Bereitstellung relevanter Expertise, ausgetragen auf Preprint-Servern und auf Twitter. Im Kampf um politische Aufmerksamkeit kamen dabei Mittel zum Einsatz, die der Weltklimarat mit seinen mehrstufigen Prüf- und Ausleseverfahren systematisch ausschließt. Studienautoren machten sich zu Experten in eigener Sache, indem sie ihre provisorischen Forschungsbefunde gleich mit Empfehlungen oder Warnungen an die Politik versahen. So sorgten sie dafür, dass die politische Diskussion startete, bevor die wissenschaftliche Prüfung begonnen hatte. Für Regierungen und ihre Beratungsstäbe wurde die Situation noch unübersichtlicher und unsicherer, als sie ohnehin schon war. Medial sahen sie sich unter Druck gesetzt, der Wissenschaft zu folgen, real waren sie mit einer Vielfalt an unbestätigten Expertenmeinungen konfrontiert. Die meisten Regierungen suchten ihre Rettung darin, auf jene Expertenstimmen zu hören, die zugleich wissenschaftliches Renommee ausstrahlten und ihren politischen Ansichten nahestanden, um diese dann in der Öffentlichkeit als die Wissenschaft auszugeben.
Der britische Politologe Paul Cairney hat daher zurecht betont: Wenn Politiker in der Corona-Krise sagen, sie folgen der Wissenschaft, so meinen sie »unseren Wissenschaftlern« (Cairney 2021). Großbritannien ist dafür exemplarisch. Entgegen den Darstellungen in vielen Medien ließ sich die Tory-Regierung von Boris Johnson sehr wohl von wissenschaftlichem Rat leiten, als sie im März 2020 den ersten Lockdown hinauszögerte, bis es zu spät war, um das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Die Regierung hörte auf die offizielle Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE), in der anerkannte und unabhängige Spezialisten aus diversen Fachgebieten mitwirkten. Sie waren es, die dem Premierminister anfänglich, gestützt auf rationale Überlegungen und spärliche Befunde, empfahlen, keine harten Maßnahmen zu ergreifen. Ihre Empfehlungen wurden später von vielen Seiten, teilweise auch von den Mitgliedern des SAGE selbst, als Fehler eingestuft. Dennoch wäre es aus der Rückschau falsch, sie als »unwissenschaftlich« zu disqualifizieren. Vielmehr verdeutlichen sie, wie stark wissenschaftliche Empfehlungen von Expertengremien, gerade zu Beginn einer Krise, wo die Gefahr schwierig einzuschätzen ist, von normativen Motiven bestimmt sind, die dem Wertehorizont der regierenden Partei entsprechen. Mit den Tories führte in Großbritannien eine Partei durch die Pandemie, die mit ihrer Skepsis gegenüber dem starken Staat und ihrer Emphase der individuellen Freiheit besondere Überwindungskraft brauchte, um einen Lockdown zu verhängen. Die Angst vor politischem Übersteuern erschwerte das präventive Eingreifen. Offenbar ging es, wie Cairney aufzeigt, dem wissenschaftlichen Beratungspersonal mit Zugang zum Kabinett ähnlich (Cairney 2021). Es bedarf also in der Regel keiner Manipulation durch die Regierung, um Experten auf Kurs zu bringen. Dafür sorgt das normative Einverständnis von allein. Entsprechend gibt es auch keinen »vor-politischen« Zustand der Expertise, sondern nur einen mehr oder weniger reflektierten und transparenten Umgang mit der Wertedimension von wissenschaftlichem Rat.
Die Existenz eines offiziellen Expertengremiums für die Pandemiebekämpfung führte in England also gerade nicht zur Fiktion einer Wissenschaft, die »mit einer Stimme spricht«, sondern zur Einsicht in den politisierten Charakter jeder Expertise, gerade in einer komplexen Krisensituation. Schon im Mai 2020 erhielt SAGE mediale Konkurrenz in der Form eines Independent SAGE. Präsidiert wurde die öffentlich beratende Expertenrunde vom ehemaligen Chief Scientific Adviser, Sir David Anthony King. Damit erhielt die Westminister-Demokratie mit ihrer Zweiteilung von Regierung und Opposition ein nahezu identisches Abbild in der Organisation von Expertise. Komplettiert wurde die politische Aufstellung der Wissenschaft durch eine kleine, aber feine Minderheit von corona centrists wie François Balloux und Oliver Johnson, die sich als Anti-Polarisierer verstanden, indem sie sich ebenso klar von jenen abgrenzten, die das Virus »durchlaufen« lassen wollten, als auch von jenen, die es bis zur Elimination bekämpfen wollten. Indem sie sich politisch positionierten, waren die corona centrists auch besser in der Lage, die Fallstricke der Voreingenommenheit, die allen Experten drohen, offen zu adressieren. Balloux sagte dazu im August 2021: »Wir haben Vorannahmen, die beeinflussen, wie wir neue Informationen betrachten. Als Wissenschaftler ist es sehr wichtig, keine übermäßig starken Vorannahmen zu haben – man muss offen für Überraschungen sein und seine Vorannahmen durch neue Daten aktualisieren lassen. Es ist wichtig, sich mit neuen Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Dogmatisch zu sein ist problematisch.« (Balloux 2021) Mit anderen Worten: Je stärker der pandemiepolitische Richtungsstreit im Namen der Wissenschaft geführt wird, desto schwächer droht die wissenschaftliche Qualität der Expertise zu werden.

»False balance« und »PLURV« als politische Kampfbegriffe

Dass Deutschland eine andere mediale Inszenierung von Expertise erlebte als England, lag also nicht etwa daran, dass hier die »richtige« Wissenschaft die Regierung beriet oder ihre Politisierung weniger stark ausfiel. Es hatte vielmehr damit zu tun, dass die fa...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Halbtitel
  3. Titelseite
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Vorwort
  7. Politik und Wissenschaft in der Gesundheitskrise
  8. Konsenspolitik. Wie die Wissenschaft in der Krise zum politischen Akteur wird
  9. Grundrechte in Quarantäne
  10. Der blinde Fleck der Komplexität – die Wissenschaften in der Krise
  11. Zur problematischen Vorbildfunktion der Klimakrise für die Corona-Krise
  12. Demokratische Resilienz in Zeiten der Transformation
  13. Kluges Handeln in der Krise – eine kritische Phänomenologie politischer Klugheit
  14. Das Modellzeitalter
  15. Interaktionen von Politik und Wissenschaft in der Mediengesellschaft: Stimmenfang, Vorlesung oder Unterhaltung?
  16. Raus aus der akademischen Blase – die neuen Herausforderungen für die Wissenschaft im Umgang mit Öffentlichkeit und Medien: Interview von Sibylle Anderl
  17. Biografien der Beiträger:innen
  18. Herausgeber