Verqueres Denken
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Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus

  1. 240 Seiten
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Verqueres Denken

Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus

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Über dieses Buch

Sie gehen für »die Freiheit« auf die Straße: Bei den Querdenken-Demonstrationen und Corona-Protesten laufen Impfgegner: innen neben QAnon-Anhänger: innen, Esoteriker: innen neben Rechtsextremen, die Peace-Fahne flattert neben der Reichsflagge. Dieses Miteinander kommt jedoch nicht zufällig zustande. Wer sich für den Schutz von Natur und Tieren einsetzt, vegane Ernährung und Alternativmedizin bevorzugt, seine Kinder auf Waldorfschulen schickt oder nach spiritueller Erfüllung sucht, muss nicht frei von rechtem Gedankengut und Verschwörungsfantasien sein. Andreas Speit zeigt, dass in alternativen Milieus Werte und Vorstellungen kursieren, die alles andere als progressiv oder emanzipatorisch sind.

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Herzensliebe und Hass. Protest und Conspirituality

Auto an Auto. Es waren mehrere Hundert Fahrzeuge, die am 27. Januar 2021 einen über einen Kilometer langen Korso durch die Stuttgarter Innenstadt bildeten. Zu der Aktion aufgerufen hatte Querdenken 711, um gegen die staatlichen Pandemie-Maßnahmen zu protestieren. Manche Autos hupten, andere hatten Warnblinker eingeschaltet, und an vielen waren Botschaften angebracht. Mal mehr, mal weniger eindeutig: »Denkt nach! Es ist Zeit zu hinterfragen« oder »Keine Impfpflicht. Schiebt euch die Spritze in den Arsch«.
Mit der Kundgebung beendete Querdenken 711 eine selbst auferlegte Demonstrationspause. An Weihnachten 2020 hatte Michael Ballweg, Initiator der Bewegung, in einem Video verkündet, den Winter nutzen zu wollen, um »Kräfte für den Frühling« zu sammeln. Den anderen Querdenken-Gruppen empfahl er, ebenfalls auf Aktionen zu verzichten. Per Video erfolgte auch der Aufruf für die neue Protestform. Die sozialen Medien von Blogs und Websites über Facebook und Instagram bis zu Chat- und Telegram-Kanälen sind die medialen Multiplikatoren der Bewegung. So blieb der Appell auch in anderen Städten der Bundesrepublik nicht ungehört. In Hamburg, Köln, Mannheim, München oder Zwickau folgten weitere Autokonvois. Bis zum offiziellen Frühjahrsbeginn konnte die selbsternannte Bewegung für Freiheit und Schutz der Grundrechte doch nicht ausharren. Im April 2021 richtete sie immer noch Auto-Protestfahrten aus.
Anlass für die Wiederaufnahme der Proteste aus dem Vorjahr dürften die neuerlichen Lockdown-Regelungen gewesen sein, die am 19. Januar 2021 von Bund und Ländern beschlossen worden waren. Das geschichtsträchtige Datum ihres offiziellen Aktionsstartes für 2021 weniger. Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz-Birkenau befreit, 2005 beschlossen die Vereinten Nationen, jedes Jahr an diesem Tag den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust zu begehen. Eine Verbindung zur Querdenken-Bewegung und Corona-Leugnungsszene besteht insofern, als Einzelne daraus eine historische Verbindung zwischen sich und den Opfern des Nationalsozialismus sehen wollen. Sie tragen einen gelben Stern mit der Aufschrift »Ungeimpft«, in Anlehnung an den Stern, den jüdische Menschen von 1941 bis 1945 sichtbar anheften mussten, oder identifizieren sich, wie die zu zweifelhaftem Ruhm gelangte »Jana aus Kassel«, mit Sophie Scholl, die 1943 hingerichtete Widerstandskämpferin von der Weißen Rose.
In der Debatte um das »Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« im November 2020 wurden ebenso Vergleiche mit dem Nationalsozialismus bemüht. Bei Aufrufen zu Protesten vor dem Bundestag, die in den sozialen Medien kursierten, bezeichneten Gegnerinnen die Vorlage als »Ermächtigungsgesetz«. Mit dem »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« vom 24. März 1933 hatten die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler das Recht erhalten, ohne Zustimmung von Reichstag und Reichsrat sowie ohne Gegenzeichnung durch den Reichspräsidenten Gesetze zu erlassen. Der Reichstag schaffte sich durch die Annahme der Gesetzesvorlage als demokratische Institution selbst ab.
Das Infektionsschutzgesetz hingegen lässt sich natürlich kritisieren, zur Zerstörung der pluralistischen Demokratie führen die Erweiterungen der Befugnisse für die Regierung aber nicht. Auch nicht die angekündigte Ausweitung im April 2021. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland sprach im Bundestag gleichwohl von einer »Gesundheitsdiktatur«. Und der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, schob nach: Diese »Gesetzesvorlage ist eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab«. Diese Vielzahl von begrifflichen und symbolischen Anspielungen auf den Nationalsozialismus im Spektrum der Pandemie-Maßnahmenkritiker:innen legt nahe, dass sie den Termin für den Autokonvoi durchaus bewusst gewählt haben könnten.
Die Kritik an diesem Missbrauch der Geschichte folgte schnell, blendete allerdings oft aus, dass viele Mitglieder der Bewegung tatsächlich fest davon überzeugt sind, sie würden ihrer individuellen Rechte beraubt und eine Diktatur stehe unmittelbar bevor. Sie hoffen mit »Herzensliebe« den »Freiheitsvirus« verbreiten zu können und diese Entwicklung zu stoppen, wie sich Ballweg am 1. August 2020 bei der Demonstration »Tag der Freiheit« ausdrückte.
Bei derselben Gelegenheit stellte auch Markus Haintz, Fachanwalt für Baurecht, Mitgründer von Querdenken 731 aus Ulm und von Anwälte für Aufklärung, die eigene Bewegung in eine historische Tradition: »Die Straße des 17. Juni, auf der wir heute stehen, gedenkt all jener, die damals für ihre Rechte auf die Straße gegangen sind.« Am 17. Juni 1953 waren Menschen in Ost-Berlin und anderen Städten der DDR mit wirtschaftlichen und politischen Forderungen auf die Straße gegangen, die Bewegung wurde aber gewaltsam unterdrückt. Haintz fuhr fort: »Auch wenn heute keine Panzer mehr rollen, um Proteste niederzuschlagen, so sind wir in Deutschland und in vielen anderen Ländern der Welt dennoch an einem Punkt angekommen, an dem der Staat ohne jede tragfähige Begründung willkürlich und unverhältnismäßig und unter Zuhilfenahme von massiver medialer Angst- und Panikpropaganda der staatshörigen Massenmedien eine Agenda durchsetzt, die die Demokratie und den Rechtsstaat massiv gefährdet, die Freiheitskräfte faktisch außer Kraft gesetzt hat und die Menschenrechte und die Menschenwürde mit Füßen tritt.« Und schließlich: »Unter dem Deckmantel des Infektionsschutzgesetzes werden Menschen durch staatlich geförderte Paralleljustiz diskriminiert, Kinder körperlich und psychisch misshandelt, alte und kranke Menschen in Pflegeheimen und Hospizen isoliert und ihrer Menschenwürde beraubt.«
Dagegen müsse die Bevölkerung mobilisiert werden. »Wenn die Menschen begreifen, dass wir alle dieselben Grundbedürfnisse haben, nach Freiheit, nach Gesundheit, Zusammenhalt und Selbstbestimmung, dann hat die verschwindend kleine Minderheit aus Geldadel, Politik und Massenmedien keinerlei Macht mehr über uns (…) Wenn wir zusammenhalten, werden die Masken bei denen fallen, die uns beherrschen und bevormunden wollen.« Er zeigte sich sicher, dass die »Mehrheit der Menschen« der »Corona-Politik« nicht zustimme, »die Masse« habe »lediglich Angst vor staatlichen Repressalien, vor staatlich gefördertem Existenzverlust und der vermeintlichen negativen Meinung anderer«.
Eine schweigende Mehrheit, die von einer Minderheit mit Zugriff auf alle staatlichen und medialen Machtmittel unterdrückt wird, eine »Merkel-« oder »Hygiene-Diktatur«, die nicht davor zurückschreckt, Kinder zu misshandeln und Alte ihrer Menschenwürde zu berauben – träfe irgendetwas davon zu, wäre Widerstand wohl tatsächlich Pflicht. »Wer in einer Demokratie schläft, wird sonst in der Diktatur aufwachen«, warnte Haintz. Der Satz kann als Anspielung auf ein angebliches Zitat von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) verstanden werden: »Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf.« Klingt gebildet, klingt belesen. Allein, der Dichter hat diesen Satz nicht gesagt, wie Michael Niedermeier weiß. Der Leiter der Berliner Arbeitsstelle des Goethe-Wörterbuches sagte in der Welt vom 28. September 2019, der Satz sei nicht belegt und auch »ganz ungoethisch«. Seine weite Verbreitung zeige lediglich, »dass »Kampfbegriffe der Gegenwart immer in die Vergangenheit zurückprojiziert werden«.
Haintz’ Projektion von der »Hygiene-Dikatur« steigerte sich in der Rede zu einer faschistischen. »Wir wehren uns gegen faschistische Tendenzen, die der deutsche Staat schon wieder hat, beziehungsweise, die sich inzwischen durch Großkonzerne kennzeichnen, die so viel Macht haben, dass sie Politik nach Belieben bestimmen können.« Dabei räumte er offen ein: »Das Wort Faschismus habe ich früher immer nicht verstanden, und ich habe es erst mal gegoogelt.« Das Ergebnis: »Der Begriff Faschismus leitet sich von dem italienischen Wort fascio ab, was Bündel bedeutet.« So weit, so richtig. Indem Haintz den Begriff auf seine Etymologie reduziert, ignoriert er die Ideologie, die darunter verstanden wird. So kann er ihn zur Bezeichnung von Phänomenen verwenden, die damit gar nichts zu tun haben: »Durch die Corona-Krise wurde die ohnehin schon massive Bündelung von Macht und Geld in den Händen weniger noch weiter verschärft. Wir wollen keinen Faschismus, egal unter welchem Deckmantel er sich verbreitet.« Seine Rede, die er in einem T-Shirt mit dem Aufdruck »#Freedum. #Courage« hielt, wurde von großem Applaus begleitet.
Im Januar 2021 verkündete die Basisdemokratische Partei Deutschlands, kurz dieBasis, dass Haintz ihr beigetreten sei. »Es wird Zeit, dass wir die Veränderungen, die wir auf der Straße fordern, auch in die Politik und die Parlamente einbringen«, wird er auf der Website der im Juli 2020 gegründeten Kleinstpartei um die Doppelspitze Andreas Baum und Diana Osterhage zitiert. Sie sieht wie die Querdenken-Szene und Corona-Leugnungsbewegung die Gefahr, dass »mit den Maßnahmen, die 2020 getroffen wurden (…) der Verlust unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung auf dem Wege des Notstandsrechts« einhergehe.
Auf der Website zitiert die Bundespartei prominente Persönlichkeiten. Pablo Picassos (1881–1973) Aussage, »wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen«, oder Kurt Tucholskys (1890–1935) Behauptung, »das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig«, sollen offenbar die Grundpositionen der Partei wie der Szene, für die sie steht, beglaubigen: Was Regierung und Medien über die Pandemie verkünden, ist nur eine Wahrheit, andere sind nicht weniger legitim. Und: Die Mehrheit des Volkes teilt eigentlich die Auffassungen der Querdenker:innen. Die Pandemie-Maßnahmen kritisiert dieBasis damit nur indirekt. Indem sie »Freiheit, Machtbegrenzung, Achtsamkeit, Schwarmintelligenz« als die vier Säulen angibt, auf denen die Partei ruht, suggeriert sie zudem, dass es um mehr geht als nur um den richtigen Umgang mit einer Pandemie.
Die Termini und Referenzen sowohl in der Rede des führenden Querdenkers als auch in den Statements der jungen Partei lassen keinen Zweifel: Die Bewegung verfolgt eine Strategie der Delegitimierung von Staat und Politik. Darauf wies bereits der Titel der Demonstration am 1. August 2020 in der Bundeshauptstadt hin. »Tag der Freiheit« lautete er, ganz so, als seien die Menschen an den übrigen Tagen unfrei. Doch es werden nicht alleine die Einschränkungen der persönlichen Freiheit durch die Lockdown-Maßnahmen zu einer allgemeinen Unfreiheit aufgebauscht.
Aus dem Spektrum wird gern auf das »Newspeak« in George Orwells 1984 verwiesen. Wie in dem dystopischen Roman manipulieren die realen Eliten der Gegenwart angeblich die Sprache, um politisches Handeln zu beeinflussen. Tatsächlich sind es die Querdenkenden selbst, die Begriffe zu besetzen und umzudeuten versuchen. In ihrer Kritik an den staatlichen Maßnahmen wird Freiheit zu Unfreiheit, Fürsorge zu Bevormundung, Infektionsschutz zu Infektionsangriff und Demokratie zu Diktatur. Dieses Newspeak entwertet die Werte der Demokratie. Und es erschwert jedes Gespräch zwischen Menschen, die die Pandemie-Maßnahmen befürworten, und solchen, die sie ablehnen, weil letztere sich von einer gemeinsamen Sprache verabschieden.
Der Rekurs auf linke und liberale Künstler:innen und Publizist:innen soll dabei suggerieren: »Wir können doch nicht rechts sein.« Den jeweiligen Werkkontext blenden sie aus, sonst könnte sich herausstellen, dass die Zitierten kaum als Kronzeug:innen für die Bewegung taugen.

Die soziale Struktur der Bewegung

Solche Referenzen weisen sogleich auf den kulturellen und sozioökonomischen Hintergrund der Querdenkenden und Corona-Leugnenden hin: Aus einem bildungsfernem Milieu kommen sie sicherlich nicht. Tatsächlich fallen auf den analogen Bühnen und in den digitalen Foren der Bewegung die vielen Angehörigen bürgerlicher Berufe auf: Ärzt:innen wie der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Bodo Schiffmann oder der Facharzt für Mikrobiologie Sucharit Bhakdi, Apotheker:innen, Dozent:innen, Geschäftebetreibende, Lehrer:innen, Selbstständige, Polizist:innen oder Verwaltungsangestellte. Hinzu kommen Persönlichkeiten, die aus anderen Kontexten bekannt sind: Schlagerstar Michael Wendler oder Popstar Xavier Naidoo, Bestsellerautor Thorsten Schulte oder Fußballweltmeister Thomas Berthold, der Journalist und Buchautor Oliver Janich oder der Influencer Samuel Eckert.
Mittlerweile gibt es dank der Baseler Studie Politische Soziologie der Corona-Proteste von Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei aus dem Dezember 2020 genauere Anhaltspunkte zur sozialen Zusammensetzung der Protestierenden. Für die Datenerhebung hatten die drei eine quantitative Online-Umfrage vorgenommen, aber auch ethnografische Beobachtungen, qualitative Interviews und Dokumentenanalysen durchgeführt. Einen Link zur Online-Befragung posteten sie »in Telegram-Gruppen von Corona-Massnahmen-Kritiker:innen und Querdenker:innen«. Mehr als 1150 Fragebögen wurden ausgefüllt. Ohne die Aussagekraft der erhobenen Daten in Abrede stellen zu wollen, weist das Untersuchungsteam darauf hin, dass die Rückläufe natürlich nur einen Ausschnitt aus der Gesamtgruppe darstellen: »In einigen Telegram-Gruppen wurde explizit vor der Teilnahme an unserer Studie gewarnt.«
Dies vorweggeschickt, verfügten 34 Prozent der Befragten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nach eigenen Angaben über ein abgeschlossenes Studium, 31 Prozent über Abitur oder Matura, 21 Prozent über einen Realschulabschluss beziehungsweise Mittlere Reife. Vier Prozent hatten promoviert. Der »oberen Mittelschicht« ordneten sich selbst 32,42 Prozent zu, der »unteren Mittelschicht« 34,28 Prozent und 0,89 Prozent der »Oberschicht«. Eine klare Gewichtung, die im Gegenbild noch sichtbarer wird: Nur 8,61 Prozent sahen sich in der »Arbeitsschicht«, 2,22 Prozent in der »Unterschicht«. 14,03 Prozent fanden, sie gehörten »keiner dieser Schichten« an, und 7,55 Prozent gaben an: »weiß nicht«.
Das gegenüber der Gesamtbevölkerung höhere Bildungs- und Einkommensniveau führte jedoch nicht zu einer besonders hohen Akzeptanz von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Der Aussage »Ich vertraue meinen Gefühlen und Intuitionen mehr als sogenannten Experten« stimmten 34,46 Prozent »teilweise, sowohl als auch« zu, 17,01 Prozent stimmten »zu«, und 24,74 Prozent stimmten »voll und ganz zu«. Ein ähnliches Bild ergab sich bei der Aussage »Mehr spirituelles und ganzheitliches Denken würde der Gesellschaft guttun«: 41,48 Prozent stimmten ihr »voll und ganz zu«, 25,43 Prozent stimmten zu und 20,14 Prozent stimmten »teilweise, sowohl als auch« zu. Da überrascht es wenig, dass 45,23 Prozent auch »voll und ganz« dem Wunsch zustimmten, die Alternativmedizin möge mit der »Schulmedizin gleichgestellt werden«. 18,49 Prozent stimmen dem »auch zu« und 24,83 »teilweise, sowohl als auch«.
Die Studie bestätigt außerdem, was auf der Straße zu beobachten ist: Frauen sind bei den Corona-Protesten sehr präsent. Das wird in der öffentlichen Diskussion bisweilen mit den gesundheitlichen und spirituellen Aspekten der Bewegung erklärt. In der Studie stimmten Frauen den Aussagen zur Entfernung des Menschen von der Natur, zur Aufwertung der Alternativmedizin und des ganzheitlichen Denkens häufiger zu als Männer. Alleine bei der Aussage »unsere natürlichen Selbstheilungskräfte sind stark genug, um das Virus zu bekämpfen« war die Zustimmungsrate bei den Männern etwas höher.
Nachtwey, Schäfer und Frei haben ihre eigenen Forschungsergebnisse mit denen der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020 verglichen, wo es um Einstellungen in der Gesamtbevölkerung geht (Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität, herausgegeben von Oliver Decker und Elmar Brähler). Ihr Fazit: »Insgesamt sind Querdenker:innen, soweit sie an unserer Erhebung teilgenommen haben, weder ausgesprochen fremden- oder islamfeindlich, in einigen wenigen Bereichen sogar eher anti-autoritär und der Anthroposophie zugeneigt«; 64 Prozent sagten, »man solle Kindern nicht beibringen, Autoritäten zu gehorchen«. Eine Mehrheit der Befragten sei auch nicht »der Auffassung, dass auf Minderheiten in unserem Land zu stark Rücksicht genommen wird – was häufig ein eher rechter Topos« sei. Der Nationalsozialismus werde »seltener verharmlost als in der Gesamtbevölkerung« und »sozialdarwinistische Haltungen« fänden sich kaum. Eine »große Mehrheit will es Menschen aus anderen Ländern erlauben, ins Land zu kommen und dauerhaft hier zu leben« – was für Rechte inakzeptabel wäre.

Regenbogen- und Reichsfahnen

Die Demonstration »Tag der Freiheit« am 1. August 2020 in Berlin, auf der Markus Haintz exemplarisch für die Bewegung argumentierte, hatte Michael Ballweg angemeldet. An die 38 000 Menschen folgten dem Aufruf des Geschäftsführers einer Stuttgarter Software-Firma. In der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg meldete er am 18. April 2020 die erste »kleine Demo« an. »180 Menschen« seien gekommen, berichtete er in seiner Rede am 1. August. Der Beginn einer Bewegung. Geplant hatte Ballweg diese Entwicklung nicht. 2020 habe er ein Sabbatical nehmen wollen, eine längere berufliche Auszeit, um durch Indien und Japan zu reisen, Yoga zu machen und die Geheimnisse des Ostens zu erkunden, wie er den Focus-Journalisten Sebastian Schellschmidt und Jan-Philipp Hein bei einem Spaziergang mit Hund sagte. Außerdem sei es ihm darum gegangen, mehr »über die natürlichen Mechanismen (zu) erfahren, um die Selbstheilungskräfte des Körpers zu stärken«.
Der Lockdown änderte nicht nur die Reisepläne, wie die beiden Journalisten am 28. November 2020 in ihrem Artikel berichteten. Auch Ballweg veränderte sich. In seinem Bungalow recherchierte er zur Pandemie und den Gegenmaßnahmen, bis er schließlich für sich erkannte, dass die Meinungsfreiheit und das Versammlungsrecht stark eingeschränkt worden seien. Er begann seinen Protest gegen die Pandemie-Maßnahmen. Das anfängliche Gefühl der Machtlosigkeit dürfte durch den breiten und schnellen Zuspruch aus der Mitte der Gesellschaft längst einem Machtrausch gewichen sein. Wer immer wieder vor Tausenden von Demonstrierenden spricht, dürfte sich kaum ohnmächtig fühlen. Der vom Focus konsultierte Psychologe Louis Lewitan sieht darin einen Widerspruch, der für die Entwicklung der gesamten Bewegung charakteristisch ist: »Wir haben es mit Leuten zu tun, die sich besonders mächtig fühlen, zugleich aber auch besonders ohnmächtig.«
Beim Spazierengehen führte Ballweg aus, dass die Pandemie vorbei sei, wenn die Bevölkerung entscheide, »dass sie vorbei sei«. »Ein klassischer esoterischer Ansatz, nach dem sich die Realität alleine durch das Bewusstsein verändere«, stellen die Focus-Journalisten klar. Sie zitieren wiederum Louis Lewitan, der hinter dieser Haltung einen Abwehrmechanismus am Werk sieht: »Risiken werden kleingeredet bis hin zur Verleugnung.« Diese wiederum könne in eine Gegenoffensive übergehen: »Ich verfolge alle, die mich verfolgen.« Wenn Querdenker:innen von den etablierten Medien interviewt werden, lassen sie die Situation deshalb auch gerne von »alternativen Medien« filmen.
Ballwegs Veränderung dürfte nicht alleine der erste Lockdown ausgelöst haben. Das geplante Sabbatical spiegelt bereits eine besondere Lebenseinstellung wider. Offenbar sollte die Pause dazu dienen, auszusteigen und sich selbst zu finden. Zwei Jahre zuvor, so berichtete der Initiator von Querdenken dem Focus, habe er einen Mountainbike-Unfall gehabt, der ohne Helm tödlich gewesen wäre. Seitdem lebe er im »Hier und Jetzt«. »Ich warte nicht auf meine Rente.« Offenbar hat er seinen Weg gefunden und dabei eine Bewegung angestoßen.
Das von Ballweg ins Leben gerufene Querdenken 711 wurde zum Label und Vorbild für andere. Der Zusatz »711« ist von der Stuttgarter Ortsvorwahl abgeleitet. Andere Querdenken-Gruppen griffen diese Idee auf. Im Februar 2021 führte die Website von Querdenken 711 65 Initiativen auf – alle mit Webadressen, Telegram-Kanälen, Twitter-, Facebook- und Instagr...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Halbtitel
  3. Titelseite
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Einleitung
  7. Herzensliebe und Hass. Protest und Conspirituality
  8. Verklärungen und Verharmlosungen. Impfkritik und Alternativmedizin
  9. Verunsicherung und Versteinerungen. Ambivalenzen der Anthroposophie
  10. Rück- und Einkehr. Anastasia-Bewegung und rechte Esoterik
  11. Retten und Richten. Vegan- und Tierrechtsbewegung
  12. Anhang