Revolutionär und Staatsgründer
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Jósef Piłsudski - Eine Biografie

  1. 448 Seiten
  2. German
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Revolutionär und Staatsgründer

Jósef Piłsudski - Eine Biografie

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Über dieses Buch

Es war ein sozialistischer Berufsrevolutionär, der Polen 1918 nach mehr als 120 Jahren der Teilung zu einem eigenen Staat führte: Józef Pi?sudski (1867–1935). Unter dem Zaren zeitweise nach Sibirien verbannt, kämpfte er im Ersten Weltkrieg mit eigenen Truppen für Polens Unabhängigkeit. In der neu gegründeten Republik herrschte er ab 1926 autokratisch.
Heute gilt Pi?sudski als einer der bedeutendsten europäischen Staatsmänner seiner Zeit. Doch insbesondere für Polens Nationalkatholiken bleibt er ein sperriger Held: der Religion gegenüber zu gleichgültig, zu sehr der Aufklärung verbunden, zu kosmopolitisch. Wolfgang Templin lässt Pi?sudskis abenteuerliche Biografie lebendig werden. Zugleich erzählt er die tragische Geschichte eines Landes zwischen den Großmächten.


»Fesselt tatsächlich wie ein Abenteuerroman.«
Johanna Bichlmaier, Sehepunkte, über Wolfgang Templins Buch Der Kampf um Polen

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Information

1
DIE VERWUNSCHENE PROVINZ

Verlust der Freiheit

Was für die Deutschen Goethes Faust ist, bedeutet den Polinnen und Polen Pan Tadeusz (Herr Tadeusz) von Adam Mickiewicz. Es ist das polnische Nationalepos schlechthin, Schulstoff über Generationen hinweg, und entstand um 1832, als sich der Dichter bereits in der Pariser Emigration befand. Im Pan Tadeusz wird die Heimatliebe beschworen, genauer gesagt, die Trauer um den Verlust der Heimat und der Wille, sie wiederzugewinnen. So gut wie jede Polin, jeder Pole kann die ersten Zeilen des Epos aus dem Kopf rezitieren. Wenn dort Mickiewicz von Litauen als seiner Heimat spricht, geht es um seine »kleine Heimat«, um deren enge Verbindung mit der großen Heimat, dem geliebten Polen. Um die Geschichte Polens und den Verlust der einstigen Größe.
Als die kleine Heimat, in der er aufwuchs, schildert Mickiewicz den Zauber, die Schönheit einer Region im heutigen Litauen und Belarus, durchzogen von einem Fluss, dem eine Vielzahl von Namen zu eigen ist. Als belarusischer Njoman, litauischer Nemunas, polnischer Njemen und deutsche Memel spiegelt er die einzigartige Geschichte dieser Landschaft wider. Ein Fluss, der für Polen, Litauer, Belarusen* und Deutsche eine nahezu magische Bedeutung besitzt. Eine Region, die über Jahrhunderte zum litauischen Teil der polnisch-litauischen Adelsrepublik gehörte. In ihr hatten sich im 16. Jahrhundert das westslawische Königreich Polen und das litauische Großfürstentum dynastisch zusammengeschlossen und ein gemeinsames christliches Großreich geschaffen. Es diente der Abwehr des Deutschen Ritterordens im Westen und des immer expansiveren großrussischen Nachbarn im Osten. Die Adelsrepublik stellte einen besonderen Fall europäischer Staatenbildung dar und sollte über mehrere Jahrhunderte die Entwicklung und Identität aller in ihr vereinigten Territorien prägen. Anders als absolutistische Staatsgebilde kannte sie nur einen gewählten Monarchen, außerdem gab es föderalistische und parlamentarische Ansätze einer Gewaltenteilung, Elemente also, wie sie absolutistischen Monarchien im Westen und den unter dem Zepter der Zaren zusammengeschlossenen russischen Territorien fremd waren, die einer byzantinisch-orthodoxen Tradition folgten.
Die Verfasstheit der polnisch-litauischen Adelsrepublik erlaubte nationale Vielfalt und konfessionelle Toleranz, bedeutete aber auch entscheidende Schwächen gegenüber den absolutistischen Nachbarn. Der polnische und litauische Groß- und Kleinadel als entscheidende Schicht der Union wachte eifersüchtig über partikularistische Privilegien und war häufig zerstritten. Immer wieder ließen sich zudem Einzelne seiner Vertreter oder ganze Adelsfamilien auf die Seite der konkurrierenden Großmächte ziehen. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren sich Katharina die Große als Herrscherin Russlands, Friedrich der Große, der für das aufstrebende Preußen stand, und Habsburg unter Maria Theresia bei aller Konkurrenz einig: Die ungeliebte, immer wieder mit Anarchie in Verbindung gebrachte und von inneren Kämpfen geschwächte Adelsrepublik sollte zur gemeinsamen Beute werden. Russland war daraufhin die treibende Kraft bei den drei polnischen Teilungen zwischen 1772 und 1792 und konnte sich weit über die Hälfte der polnisch-litauischen Territorien sichern. Der nordwestliche Teil der gewonnenen Gebiete, die litauischen Territorien, wurde dem Russischen Reich einverleibt. Hier, so die Rechtfertigung, ginge es um urrussische Erde, die vor Jahrhunderten von Polen und Litauern geraubt worden sei. Ein anderer Teil polnischer Territorien, mit der Hauptstadt Warschau, erhielt als »Weichselland« eine Scheinautonomie. Die Französische Revolution von 1789 und der Aufstieg Napoleon Bonapartes in ihrem Gefolge erschütterten dann allerdings schon bald die Herrschaftsarchitektur der europäischen Großmächte und stellten die polnischen Teilungen infrage. Nicht, um die Polen als souveränen Staat wiederauferstehen zu lassen, sondern aus Machtkalkül setzte Bonaparte auf die Karte polnischer Unabhängigkeit.
Die Handlung des Pan Tadeusz spielt 1811 /12 auf einem Gutshof in der Nähe von Wilna. Der bevorstehende Einmarsch der Truppen Napoleons facht die Hoffnungen, die Begeisterung der jungen Landadligen an. Aus ihrer Sicht stand Napoleon für den Kampf gegen die Macht des Zaren, für das Wiederentstehen eines souveränen Polen. Dafür traten sie in sein Heer ein, folgten ihm in die Tiefen Russlands. Die Verklärung Napoleons in Polen wie auch in der polnischen Emigration überdauerte seine Niederlage, seine Verbannung und seinen Tod. Im Dezember 1840 kehrte Napoleons sterbliche Hülle von der Insel Sankt Helena zurück nach Frankreich, um im Pariser Invalidendom die letzte Ruhestätte zu finden. Veteranen der alten Garde begrüßten ihren einstigen Kaiser, darunter Polen in Uniformen aus den Schlachten an seiner Seite. Viele von ihnen hatten den Russlandfeldzug miterlebt, hörten es aber nicht gern, wenn man sie die »Gespenster von Moskau« nannte. Polnische Lanzenreiter waren Napoleon schon auf seine Verbannungsinsel Elba gefolgt, von der er im März 1815 noch einmal zurückkehrte. Während der dramatischen Hundert Tage sollte er Europa erneut in Angst und Schrecken versetzen, bevor sein Stern bei Waterloo endgültig unterging. Auf dem Wiener Kongress von 1814 /15 wurde mit der »Heiligen Allianz« der Teilungsmächte die Ordnung vor der Französischen Revolution wieder eingesetzt. Eine Ordnung, gegen die sich die ehemals unabhängigen Polen verzweifelt wehrten.
In allen darauffolgenden Aufständen war die Provinz das Herz des aufrührerischen Polens. Angehörige des polnischen und litauischen Kleinadels führten jeweils die Erhebungen gegen die Fremdherrschaft an. Am letzten Aufstand der Jahre 1863 /64 waren Angehörige aller Schichten beteiligt. Die Bauern waren zwar in ihrer Mehrzahl aufseiten der Aufständischen, konnten aber oft nicht zu viel riskieren, um ihre Existenz nicht zu gefährden.
Der Aufstand von 1863 löste auf der russischen Seite große Panik aus. Angesichts einer möglichen Intervention europäischer Großmächte war Zar Alexander II. zunächst bereit, das Weichselland aufzugeben. An die nordwestlichen Provinzen seines Reiches klammerte er sich hingegen mit aller Macht. Wenig später konnte er sich der Unterstützung Preußens und Bismarcks sicher sein, und so verlor das Weichselland die letzten Reste seiner Autonomie. In den nordwestlichen Provinzen Wilna, Grodno und Kowno wurde ein Schreckensregime errichtet, für das der Name von Michail Murawjow stand. Als Sonderbevollmächtigter des Zaren erhielt Murawjow alle Vollmachten, die letzten Funken des Aufstands um jeden Preis zu ersticken. Als junger Adliger hatte er Jahrzehnte zuvor, 1825, selbst am militärischen Aufstand der Dekabristen gegen den Zaren teilgenommen und war damals der Verbannung nach Sibirien nur knapp entkommen. Er war ein Beispiel dafür, dass aus ehemaligen Rebellen die eifrigsten Diener ihrer Herren werden konnten.
In den großen Städten Wilna, Grodno und Kowno, nach denen auch die Provinzen benannt waren, füllten sich die Gefängnisse. Überall im Land wurden Galgen errichtet, Hunderte Todesurteile vollstreckt. Murawjow war, wann immer er konnte, bei den Hinrichtungen dabei und erhielt darum den Beinamen »Galgenmann«. Wenn in anderen europäischen Ländern die Märchen von schlimmen Riesen und vom bösen Wolf, von Hexen und Trollen erzählt wurden, trieb man in Litauen die Kinder mit dem Schreckensbild des Henkers Murawjow ins Bett. Aufständische, die in Gefangenschaft gerieten und der Todesstrafe entkamen, wurden mit ihren Familien nach Sibirien deportiert. Dort erwartete sie langjährige Zwangsarbeit in den Bergwerken oder die Ansiedlung in entlegenen Regionen. Ein solches Schicksal konnte auch Familien treffen, die Verwundete aufnahmen und pflegten.
Auch die katholische Kirche sollte die äußere Grundlage ihrer Existenz verlieren. Kirchen und Klöster wurden geschlossen oder in orthodoxe Kirchen und Klöster umgewandelt. Die Sorge um Sterbende nach katholischem Ritus wurde verboten. Alles Polnische sollte verschwinden. Der Gebrauch der polnischen Sprache im gesamten öffentlichen Leben war untersagt. Zuwiderhandlungen waren mit drakonischen Strafen belegt. Güter und Besitztümer des polnischen Adels wurden konfisziert oder ihre Eigentümer langfristig in den Ruin getrieben. Den polnischen und litauischen Einwohnern, ob Kleinadlige, Händler oder Handwerker, blieb nur der Ausweg, die russische Sprache und Kultur anzunehmen und zum orthodoxen Glauben überzutreten. Dann stand ihnen der Weg in den Staatsdienst oder sogar eine Militärkarriere offen. So gut wie unmöglich war dies für die jüdische Bevölkerung. Es gab durchaus Polen und Litauer, die diese Möglichkeiten nutzten. In zahlreichen anderen Familien lebte jedoch der Geist des Widerstands, der Geist der Aufstände und die Verklärung der Vergangenheit fort. Zu ihnen zählte die Familie, in die der künftige Führer der polnischen Sozialisten hineingeboren wurde.

Die Sterne von Zułów

Für die russische Besatzungsmacht gehörte die Region um Wilna zum gefährlichsten Teil der rebellischen litauischen Provinzen. Murawjow und seinen Leuten saß die Angst vor versteckten Nestern der Aufständischen im Nacken. Eine Kette von Beobachtungsposten zog sich über die Landschaft, Spione waren unterwegs. Auffällige Ansammlungen und Bewegungen sollten Tag und Nacht kontrolliert und gemeldet werden.
Die Nacht vom 4. auf den 5. Dezember 1867 war dunkel und stürmisch. Im Gutshaus von Zułów, ganz in der Nähe des gleichnamigen Dorfes, brannte das Licht heller als gewöhnlich, mehrere Fuhrwerke kamen an, und alles war in Bewegung. Eine berittene russische Polizeipatrouille versuchte herauszufinden, was dort vor sich ging. Wie sich herausstellte, handelte es sich nicht um ein Treffen von Verschwörern, sondern um die bevorstehende Geburt eines Kindes. Am nächsten Morgen kam ein Junge auf die Welt, das vierte Kind von Maria Piłsudska, geborene Billewiczówna, und Józef Wincenty Piłsudski, den Besitzern des Gutes und der umliegenden Ländereien. Der Sohn erhielt den Namen Józef Klemens. Am 5. Dezember war der Tag des heiligen Klemens, daher der zweite Vorname des Neuankömmlings. Eltern, Verwandte und Freunde der Familie sollten ihn lange Zeit nur bei seinem Kosenamen nennen: Ziuk (die Verkleinerungen des Namens gehen von Józef zu Józek, zu Ziuk und Ziuczek).
Am 15. Dezember wurde der Junge in der nahe gelegenen Dorfkirche von Podbrodzie getauft. Sein Taufpate schenkte ihm ein Miniaturbild der Matka Boska Ostrobramska, der »Mutter Gottes vom Tor der Morgenröte« in Wilna. Sie wurde zur Schutzheiligen des kleinen Ziuk und sollte in seinem Leben eine ganz besondere Rolle spielen.
Józef Piłsudskis Eltern lebten zu der Zeit sehr zurückgezogen auf ihrem Gutshof in der Nähe von Wilna. Das hatte sehr viel mit dem oben erwähnten Aufstand von 1863 /64 zu tun. Die größten Besitztümer und Güter der Familien des Ehepaares lagen nämlich im Nordosten des Landes, in Niederlitauen. Dort hatten auch Maria und ihr Mann bis zu ihrer dramatischen Flucht in den Wirren der Kämpfe gelebt.
Beide Familien, die Billewiczóws und die Piłsudskis, führten ihre Stammbäume auf alte litauische Adels- und Fürstengeschlechter zurück, deren Angehörige sich im Laufe der Zeit polonisiert hatten. Ihre Vorfahren hatten wichtige Positionen in der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung des litauischen Teils der Adelsrepublik innegehabt. Die Familien von Maria und Józef Wincenty Piłsudski waren mit den niederdrückenden Folgen der Teilung konfrontiert gewesen und hatten sich an den verschiedenen Aufständen beteiligt. Traditionsbewusst und stolz auf ihre litauischen Vorfahren, verstanden sie sich als Teil einer großen gemeinsamen Geschichte.
Maria und Wincenty kannten sich von Kindesbeinen an. Ihre Familien pflegten enge Kontakte untereinander, und beide waren sogar entfernt miteinander verwandt. Um heiraten zu dürfen, benötigte das Paar deshalb im Frühjahr 1863 eine spezielle kirchliche Erlaubnis. Maria wurde im Jahre 1842 geboren und war neun Jahre jünger als Wincenty. Die Tage und Wochen vor der Hochzeit und die Hochzeit selbst fielen in die Zeit der Vorbereitung des Aufstands. Maria erlebte alles aus nächster Nähe. In ihrem Elternhaus trafen sich Freunde und Nachbarn, Uniformen wurden geschneidert, Waffen beschafft und Kampftrupps aufgestellt. Auch sie selbst unterstützte den Aufstand und brannte für den Erfolg der Erhebung. Nachdem die Aufständischen anfangs erfolgreich ganze Landstriche Litauens unter ihre Kontrolle bringen konnten, führte die russische Seite Linientruppen und Eliteeinheiten in immer größerer Zahl heran. Dagegen half kein Mut der schlechter bewaffneten und zumeist mangelhaft ausgebildeten Milizen der Aufständischen. Ihr militärisches Dilettantentum, die ausbleibende Unterstützung aus anderen Provinzen, Zerstrittenheit und Desorganisation brachten ihnen am Ende eine blutige Niederlage ein.
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Józefs Mutter: Maria Piłsudska, ca. 1870
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Józefs Vater: Wincenty Piłsudski, ca. 1870
In seinem niederlitauischen Distrikt war Wincenty Piłsudski einer der zivilen Kommissare der kurzzeitigen Nationalregierung der Aufständischen gewesen und musste aufgrund der Niederlage mit Verhaftung und Schlimmerem rechnen. In dieser Situation bewies er Realitätssinn, und das Glück kam ihm zu Hilfe. Es gelang ihm, über jüdische Vermittler einen russischen Militärbeamten mit einer Summe von mehreren Tausend Rubeln zu bestechen. Der löschte Wincenty Piłsudskis Namen aus der Liste der steckbrieflich gesuchten Personen und trug ihn als »verschollen« ein. Damit ließ sich auch die tatsächliche Rolle verschleiern, die er während des Aufstands gespielt hatte. Hätte der russische Administrator seine Pflicht erfüllt und Wincenty Piłsudski ausgeliefert, wären alle Besitztümer der Familie an die russische Krone gefallen.
Damit Verschwinden und Rettung glückten, musste das junge Ehepaar in aller Eile die heimatliche Provinz verlassen. Sie rafften das Nötigste zusammen und flohen in das über zweihundert Kilometer entfernte Wilna. Nach kurzem Aufenthalt dort zogen sie rund fünfzig Kilometer weiter nordöstlich in das Dorf Zułow. Von dort aus ging es zu dem gleichnamigen Gut. Die nächstgelegene Bahnstation war fünfzehn Kilometer entfernt.
Zum Familienbesitz der Billewiczóws, den Maria als Einzelkind erbte, gehörten große Ländereien in Niederlitauen. Dazu kamen das kleinere Gut Zułów und weitere Besitztümer in der dortigen Region. Insgesamt umfassten die verstreuten Besitztümer einige Tausend Hektar Felder, Waldflächen und Wiesen. Die Erbschaft Marias ermöglichte der schnell wachsenden jungen Familie ein relativ sicheres Auskommen.
Nach seinem erzwungenen Rückzug in die entlegene Provinz hatte Wincenty Piłsudski ehrgeizige Pläne. Eigentlich war er eher künstlerisch veranlagt. Er zeichnete, komponierte und dichtete. Obwohl ihm der Zeigefinger der rechten Hand fehlte – der Hufschlag eines Pferdes hatte ihn in seiner Jugend verletzt –, spielte er ganz passabel Klavier. Das angestrebte Ingenieursstudium war ihm aufgrund der Einschränkung ebenso verwehrt gewesen wie eine Laufbahn beim Militär. Stattdessen hatte er ein Studium der Agronomie absolviert. Nun, im neuen Domizil in Zułów, hegte er zahlreiche Pläne für neue Anbautechniken. Eine große Mühle, eine Brauerei und eine Ziegelei wurden errichtet. Der Gutsherr versuchte sich unter anderem an der Herstellung von Spirituosen, Terpentin, Hefe und Wurst. Auf Reisen zu Landwirtschaftsmessen in Deutschland, der Schweiz und Großbritannien lernte er moderne Technologien kennen. Für seine verschiedenen Unternehmungen stellte er ausländische Fachleute ein. In den ersten Jahren schien ihm der Erfolg recht zu geben.
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Gutshof der Familie Piłsudski in Zułów, 1931
Dem wachsenden Gutsbetrieb entsprach die schnell wachsende Anzahl der Familienangehörigen, Freunde und Angestellten, die auf dem Gutshof lebten. Zu ihnen gehörten Ziuks Großmutter väterlicherseits, Teodora Butlerowna, und zwei Schwestern des Vaters. Alle drei Frauen hatten an den Aufständen teilgenommen und Gefängnishaft verbüßt. Ihre dramatischen Erinnerungen daran waren alltäglicher Gesprächsstoff auf dem Gutshof. Ähnliche Erinnerungen brachten auch Freunde der Familie mit, die für kürzere oder längere Zeit zu Besuch kamen. Die größte Autorität besaß die Großmutter Teodora. Im Januaraufstand 1863 hatte sie eine bedeutende Rolle als Kundschafterin gespielt. Wohl auch deshalb wurde sie in der Familie respektvoll »General« genannt.
Um die Betreuung und die frühe Ausbildung der Kinder kümmerten sich Kindermädchen und Gouvernanten, zu denen auch eine Französin und eine Deutsche gehörten. In der Abgeschiedenheit des Gutes konnten die Mädchen und Jungen Privatunterricht genießen und blieben so von dem Drill des russischen Schulsystems verschont.
Maria Piłsudska war der Mittelpunkt, die Seele der Familie. Bei all ihrer patriotischen Begeisterung wird sie nicht als fanatische Eiferin geschildert, sondern als eine zutiefst ausgleichende und liebevolle Natur. Nur wenn es sein musste, konnte sie dennoch Grenzen setzen. Die ganzen Jahre über machte sie sich Sorgen, dass die hochschießenden Projekte ihres Mannes scheitern könnten, Befürchtungen, die sich später als nur zu begründet erwiesen.
Ging es um die Kinder, war ihr der Zusammenhalt der Geschwister, ihre gegenseitige Unterstützung am wichtigsten. Eifersucht aufeinander, Neid und Hader waren ihr zuwider. Sie hielt die Kinder an, zum Dienstpersonal respektvoll und höflich zu sein. Ihre besseren Lebensumstände seien nicht ihr Verdienst und gäben ihnen kein Recht, auf Untergebene herabzusehen. Die Angehörigen des Personals wussten, dass sie ungehörigen Forderungen der Kinder nicht zu folgen brauchten.
Jeden Abend versammelte Maria die älteren Kinder um sich. Helena war 1864 geboren worden, Zofia 1865, Bronisław 1866 und Józef 1867. In der Öffentlichkeit waren Bücher in polnischer Sprache wie überhaupt polnische Literatur verboten. In Familien wie den Piłsudskis wurden Bücher und Manuskripte jedoch gehütet und versteckt. Abends holte Maria die Bücherschätze aus einem Versteck hervor.
Neben Gedichten und Poemen Adam Mickiewiczs gehörten die Werke von Juliusz Słowacki und Zygmunt Krasiński dazu. Beide waren Zeitgenossen von Mickiewicz und bildeten mit ihm das Dreigestirn der polnischen Romantiker. Krasińskis Biografie zeigt in dramatischer Weise, wie zerrissen die Situation polnischer Familien in dieser Zeit sein konnte. Sein Vater hatte in Bonapartes Russlandfeldzug als General gedient und war nach der Niederlage Napoleons zum loyalen russischen Staatsdiener geworden, zum General in der Armee des Zaren. Er tat alles dafür, dem Sohn die patriotischen polnischen Gefühle auszutreiben, strich ihm das Geld, verweigerte ihm die Liebesheirat – vergeblich. Todunglücklich verlegte sich Zygmunt Krasiński auf das Schreiben und schuf Werke, die den Kanon polnischer Literatur enorm bereicherten.
Die abendlichen Zusammenkünfte mit den Kindern beschloss Maria Piłsudska regelmäßig mit einem Psalm Krasińskis: »Polen wird kommen, im Namen des Herrn.« Sie sollten immer daran denken und darauf warten. Es werde der Tag kommen, an dem Polen frei sein werde.
Auf die Kinder übten diese Worte, übten diese Abende eine magische Wirkung aus. Ziuk war der lebhafteste und vorwitzigste unter den Geschwistern. Immer wieder fragte er die Mutter, wann das denn sei, wann Polen wiederkomme? »Wenn wir bereit sein werden, dafür zu kämpfen«, entgegnete sie ihm. In solchen Momenten kam es ihm vor, als sähe seine Mutter die Zukunft klar vor Augen. Ihre Worte, ihre Haltung und Willensstärke sollten ihm später über Momente der Schwäche, schlimme Anfeindungen und Anfechtungen hinweghelfen. Den Sinn für Gerechtigkeit und die Willensstärke bekam er von der Mutter mit, ihre Geduld eher nicht.
Maria betete auch mit d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Halbtitel
  3. Titelseite
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Vorwort von Ellen Ueberschär
  7. Annäherungen
  8. 1 Die verwunschene Provinz
  9. 2 Sibirische Lektionen
  10. 3 An der Spitze der Sozialisten
  11. 4 Berufsrevolutionär
  12. 5 Der Kommandant
  13. 6 Die Spaltung der PPS
  14. 7 Legionen – Mythos und Realität
  15. 8 Polonia Restituta
  16. 9 Regierungsgeschäfte
  17. 10 Siege und Niederlagen
  18. 11 Landschaft nach der Schlacht
  19. 12 Rückzug nach Sulejówek
  20. 13 Zurück auf der Bühne
  21. 14 Die letzten Jahre
  22. 15 Größe und Wirkung
  23. Anhang