Sam Phillips. Der Mann, der den Rock´n´Roll erfand
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Sam Phillips. Der Mann, der den Rock´n´Roll erfand

Wie ein Mann Howlin' Wolf, Ike Turner, Jerry Lee Lewsi, Johnny Cash und Elvis Presley entdekcte, und sein winziges Label SUN RECORDS aus Memphis die Welt auf den Kopf Stellte!

  1. 636 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Sam Phillips. Der Mann, der den Rock´n´Roll erfand

Wie ein Mann Howlin' Wolf, Ike Turner, Jerry Lee Lewsi, Johnny Cash und Elvis Presley entdekcte, und sein winziges Label SUN RECORDS aus Memphis die Welt auf den Kopf Stellte!

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

"Ich war schon immer der Meinung, dass Sun Records und Sam Phillips die entscheidensten, erhebensten und stärksten Platten aller Zeiten produziert hatten. Bei Sun Records sangen die Künstler um ihr Leben und hörten sich an, als kämen sie aus der rätselhaftesten Ecke des Planeten. Wenn man sie hinter sich ließ und den Blick zurück warf, konnte man zur Salzsäule erstarren." Bab Dylan, ChroniclesDie Biografie über das visionäre Genie, das den revolutionären Weg von Sun Records im Alleingang lenkte.Vom Autor der von der Kritik gefeierten Elvis-Presley-Biografie "Last Train to Memphis" und "Careless Love" endlich in deutscher Sprache: Sam Phillips: der Mann, der den Rock´n´Roll erfand. Die Musik, die er in seinem winzigen Memphis-Studio mit so unterschiedlichen Künstlern wie Elvis Presley, Ike Turner, Howlin' Wolf, Jerry Lee Lewis und Johnny Cash prägte, brachte einen Sound hervor, der noch nie zuvor gehört worden war. Er schuf eine einzigartige Mischung aus schwarzen und weißen Stimmen, die voller Leidenschaft die Vitalität der amerikanischen Volkstradition verkündete und gleichzeitig ein für alle Mal einen neuen, integrativen Musikstil proklamierte.Mit umfangreichen Interviews und persönlichen Beobachtungen aus erster Hand, die sich über einen Zeitraum von 25 Jahren erstreckten, sowie umfangreichen Interviews mit nahezu allen legendären Sun Records-Künstlern, liefert uns Guralnick ein leidenschaftliches, ungeschöntes Porträt eines amerikanischen Originals. Der Autor Peter Guralnick begleitete Sam Phillips und seine Weggefährten über viele Jahre hinweg, um einen umfassenden Einblick in Sun Records und dessen gesamtes Umfeld zu erlangen. Er beschreibt Sam Phillips' schweren Start, aber natürlich auch seinen unglaublichen Aufstieg. Besonders spannend ist dabei, auch bisher eher unbekannte Seiten von Sam Phillips kennen zu lernen. Seine große Liebe zum Radio, seine Motivation, im Tonstudio immer ausgefeiltere Aufnahmetechniken zu entwickeln oder sein Drang zu waghalsigen Expansionsmanövern weit über die Grenzen seiner Wahlheimatstadt Memphis hinaus. Gleichzeitig zeigt Peter Guralnick aber auch die Schattenseiten von Sam Phillips auf, die es im Wirken außergewöhnlicher Persönlichkeiten vielleicht immer gibt. Wir lernen in diesem Buch einen Geschäftsmann mit einem unvorstellbaren Antrieb und einem unbändigen Durchhaltevermögen kennen, aber natürlich auch einen ganz persönlichen Sam Phillips.Doch dieses Buch ist mehr als nur eine Biografie über Sam Phillips. Es ist eine Biografie über die Entstehung der amerikanischen Popkultur. Es ist die Biografie einer Musikszene, die unsere heutige Kultur so entscheidend geprägt hat wie keine zuvor und keine danach. Es ist die Biografie über ein Amerika, in dem der Blues und der Rock'n'Roll in kleinen Schritten, aber ganz entscheidend für die Gleichberechtigung von Menschen aller Hautfarben gekämpft hat.

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Information

EINS | „I dare you!“

Meinen Ohren entging nichts. Eine Spottdrossel oder eine Schwarzkehl-Nachtschwalbe — draußen auf dem Land an einem ruhigen Nachmittag. Die Stille der Baumwollfelder, diese wunderschöne, rhythmische Stille; eine Hacke, die ab und an auf einen Stein trifft, und genau in dem Moment, als sie sich durch den Dreck gräbt, konnte man sie hören. Das war einfach eine unglaubliche Musik: Diesen Vogel vielleicht 300 Meter entfernt zu hören, obwohl der Wind nicht einmal in deine Richtung wehte oder überhaupt kein Wind ging. Aber es trug, und es drang an meine Ohren. Ich hörte, wie irgendjemand barsch zu einem Esel sprach; ich hörte das. Ich meine, ich hörte alles. Schon bald begann ich [auch] Menschen zu beobachten, vor allem anhand von Geräuschen — ich konnte sicherlich nicht mit allem, was ich hörte, etwas anfangen, aber ich wusste, dass ich etwas besaß, das ich zu meinem Vorteil nutzen konnte. Ich musste nur noch herausfinden, was ich damit anfangen konnte.
In späteren Jahren sprach Sam Phillips von dem Moment seiner Ankunft auf dieser Erde immer mit einem distanzierten Staunen, das nicht gänzlich frei war von sarkastischer Belustigung. „Nimm meinen Arsch, der im Sterben lag, als ich geboren wurde, und nimm dazu noch einen besoffenen Arzt — Mann, er hat es nicht mal rechtzeitig zu meiner Geburt geschafft — und meine Mama war so fürsorglich, dass sie aus dem Bett aufstand und ihn hinlegte, bis er wieder nüchtern war, und dann kam noch die Hebamme und Mama tat Dr. Cornelius so leid, dass sie mich nach ihm benannte!“
Niemand fand je mehr Gefallen an seiner eigenen Geschichte als Sam Phillips. Seiner Erzählung nach war sie eine ebenso poetische wie realistische Vision, eine mythische Reise aus narrativer Handlung, revolutionärer Rhetorik, delphischen Prophezeiungen und der Genugtuung eines jeden alttestamentarischen Gottes, auf das Resultat zurückschauen zu können und es für „gut“ zu befinden. Im Laufe der Jahre sollte er immer wieder zu denselben Leitmotiven zurückkehren, mit unterschiedlichen Details und unterschiedlicher Gewichtung, doch stets mit derselben zugrunde liegenden Botschaft: Der angeborenen Erhabenheit nicht so sehr des Menschen, sondern vielmehr der Freiheit, und der Verantwortung — nein, der Verpflichtung — eines jeden einzelnen von uns, so andersartig zu sein wie es uns unser unverwechselbarer und einzigartiger Charakter erlaubte. Mit Sams Worten: Aufs Äußerste andersartig zu sein.
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Die Phillips-Familie, 1916 (bevor J.W. und Sam geboren wurden). Von links nach rechts: Charles, Irene, Horace, Madgie und Tom. Stehend im Hintergrund: Mary und Turner. Mit freundlicher Genehmigung der Familie Sam Phillips.
Doch es begann immer mit einem schmächtigen, kränklich aussehenden flachsblonden kleinen Jungen, der von der 130 Hektar großen Farm an der Biegung des Flusses, ungefähr 15 Kilometer außerhalb von Florence, Alabama, auf die Welt hinaus blickte.1 Seinem Daddy gehörte die Farm nicht, er hatte sie nur gepachtet, und als Sam acht Jahre alt war, hatten seine beiden ältesten Brüder und seine ältere Schwester bereits geheiratet und ihn zu Hause zurückgelassen, zusammen mit seiner 17 Jahre alten Schwester Irene, seinem 15 Jahre alten Bruder Tom und dem nächst jüngeren, zehn Jahre alten J.W. (John William, später bekannt unter dem Namen Jud), der genau wie Sam für seine Eltern, die bereits 44 und beinahe 40 Jahre alt waren, als ihr jüngstes Kind zur Welt kam, so etwas wie ein nachträglicher Einfall gewesen war.
Er und seine Familie bearbeiteten die Felder mit Maultieren, zusammen mit einigen Dutzend anderer schwarzer und weißer Pächter, arme Leute — sein Daddy war ein fairer Mann, er behandelte sie alle gleich. Daddy sagte nicht viel; das einzige, was ihn wirklich wütend machte, war, wenn ihn jemand anlog — es war vollkommen egal, wer es war; er baute sich vor ihm auf und sagte es ihm ins Gesicht. Daddy hatte ein Gespür für das Land, er baute Mais an, Heu und Zuckerhirse, und die Baumwollreihen erstreckten sich über einen Kilometer. Seine Mama war zu jedem nett, glaubte von ganzem Herzen an all ihre Kinder, und machte sich ständig Sorgen — es gab nichts, was sie nicht für jeden einzelnen von ihnen tun würde, und nichts, was sie nicht genauso gut wie ein Mann tun konnte. Manchmal gönnte sie sich nachts ein wenig Schnupftabak und spielte auf der Gitarre alte Folk-Songs wie Barbara Allen und Aura Lee; die Gitarre klang dann beinahe wie eine menschliche Stimme, doch sie selbst sang nie; es war beinahe, als würde sie die Musik wie einen Quilt zusammensetzen.
Genau wie Daddy brachte sie ihnen bei, wie man arbeitete, indem sie mit gutem Beispiel voranging. Sie brachte ihnen Verantwortung bei durch die Hilfsbereitschaft, die sie und Daddy anderen, weniger Begünstigten entgegenbrachte, darunter auch Verwandte, durchreisende Fremde und durch ihre Mitbewohnerin, ihrer Schwester Emma, die aufgrund von Rocky-Mountain-Fleckfieber im Alter von drei Jahren auf einem Auge blind und taubstumm war. Sam beobachtete Tante Emma genau. Um mit ihr kommunizieren zu können (sie war eine gebildete Frau mit einem Abschluss vom international renommierten Alabama Institute for Deaf and Blind in Talladega), lernte er Gebärdensprache fast noch bevor er lesen konnte. Mit Ausnahme von Mama und seiner Schwester Irene, die Krankenschwester werden wollte, war er der einzige in der Familie, der vollkommen mit ihr kommunizieren konnte. Selbst während er arbeitete (und es gab nur wenige Zeiten, in denen er das nicht tat), war er wachsam, hörte zu und beobachtete: Den Umgang der Menschen miteinander, das Vorbeiziehen der Wolken am Himmel, die Unterhaltungen der Zirpen und Frösche (er war fest davon überzeugt, mit ihnen sprechen zu können — und das nicht nur als kleiner Junge), das Fließen des wundervollen Tennessee. Er konnte nicht verstehen, warum all die kleinen schwarzen Jungen und Mädchen, mit denen er arbeitete und spielte, nicht in dieselbe kleine Dorfschule wie er gehen durften; er registrierte die Ungerechtigkeit, mit der Menschen willkürlich allein aufgrund ihrer Hautfarbe getrennt wurden und dachte: Was wäre, wenn ich als Schwarzer zur Welt gekommen wäre?2 Und er bewunderte ihre Art und Weise, mit widrigen Umständen umzugehen — er beneidete sie um ihre Kraft der Widerstandsfähigkeit, um ihre Fähigkeit, in Situationen ihren Glauben zu bewahren, in denen er zweifelte, dass er dies selbst hätte tun können. Doch größtenteils, wohl wissend, wie andersartig seine Gefühle waren als selbst die seiner engsten Vertrauten, als selbst die seiner eigenen Familie, und da er wusste, wie viel andersartiger er noch vorhatte zu werden, behielt er seine Gedanken für sich selbst und hörte dem A-cappella-Gesang zu, der von den Feldern herüber drang, in seinen Augen Beweis für die unbesiegbare menschliche Seele und Spiritualität, ob nun geistlich oder weltlich.
Sie fanden einen Weg der Anbetung. Man konnte es hören. Man konnte es fühlen. Man musste sich nicht in einem Gebäude befinden, man konnte auf einem Baumwollfeld teilnehmen und dabei vier Reihen gleichzeitig pflücken, bei 43 Grad! Ich meine, ich sah die Ungerechtigkeit. Doch selbst im Alter von fünf oder sechs Jahren befand ich mich gefangen in einer Art emotionaler Reaktion, anstatt deprimiert zu sein — ich meine, das waren einige der cleversten Menschen, die ich je gekannt hatte, und sie wurden in [den meisten] Fällen nahezu vollkommen ignoriert, außer als Lasttier —, doch selbst in jenem Alter erkannte ich: Hey! Das Rückgrat dieser Menschen ist nicht gebrochen, sie [können] in ihrer Seele einen Weg finden, ein Leben zu leben, das einem den Spaß am Leben nicht nehmen wird.
Samuel Cornelius Phillips (denkt an Dr. Cornelius) wurde am 5. Januar 1923 geboren, in dem einzigen Zuhause, das sein Vater je besitzen sollte, in einem winzigen Nest zehn oder zwölf Kilometer nördlich von Florence namens Lovelace Community, benannt nach der Familie seiner Mutter und bevölkert von musikalisch talentierten Lovelaces und pragmatischen, hart arbeitenden Phillipses. Als er gerade einmal neun Monate alt war, brannte ihr Haus ab und die Familie zog in die Stadt, dann wieder aufs Land, dann in das alte Martin-Haus am Chisholm Highway und schließlich noch weiter raus aufs Land in das alte Pickens-Haus in Oakland, das in den Augen eines 8-Jährigen (und später 78-Jährigen) eine 130 Hektar große Vision des Garten Enden war. Sein überwältigender Eindruck, seine überwältigende Erfahrung, war von harter Arbeit geprägt. Seine Mama und sein Daddy hörten nie auf zu arbeiten, und sein um 14 Jahre älterer Bruder Horace, war ein „Genie mit Maschinen“ und sollte später Karriere in der Schwermaschinenindustrie machen. Die Empfindsamkeit der beiden Jüngsten jedoch, Sam und sein nassforscher, selbstbewusster Bruder J.W., war in ihrer Art, wenn nicht gar in ihrem ganzen Wesen, unterschiedlich. J.W. besaß diese Art robuster Persönlichkeit, zu der sich jeder, Erwachsene genauso wie Kinder, unweigerlich hingezogen fühlte. Er war selbstsicher, artikuliert, kontaktfreudig, ein geborener Anführer, selbst wenn Sam manchmal misstrauisch war, wohin genau seine Führungsqualitäten sie führen würden. Er war warmherzig und vertrauenswürdig, so wie ihr Daddy, doch anders als Daddy hielt er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg: Er verkündete seine Ansichten eloquent und überzeugend, obwohl sich sein jüngerer Bruder gelegentlich fragte, ob J.W. tatsächlich wusste, wovon er sprach.
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Sam und J.W. (Jud). Mit freundlicher Genehmigung der Familie Sam Phillips.
Sam sah sich selbst als vollkommen anders und würde sich dafür auch nicht entschuldigen. Er schätzte Unabhängigkeit und Kunst, selbst wenn er noch zu jung war, die richtigen Worte dafür zu finden. Er sah Daddy als einen Künstler des Ackerbodens, er sah Musik als Ausdruck einer angeborenen Spiritualität. Er war ein zierliches Kind, „ein Kümmerling, der es wirklich schwer hatte, zu überleben“, wie er häufig sagte, doch trotz all dem war er entschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen. „Ich wurde ungeduldig mit Kindern, die dasselbe wie andere Kinder machten. Ich hatte die Fähigkeit, andere Menschen zu lieben, doch ich hatte auch die Fähigkeit, ihnen zu sagen, was ich dachte, selbst in jungen Jahren. Ich war nicht verwöhnt, doch aus irgendeinem Grund war ich ein vollkommen unabhängiger Typ, und um das zu sein, so kränklich wie ich war, muss schon etwas geheißen haben.“ Sam war fest davon überzeugt, dass er seine eigenen Augen und Ohren hatte, mit denen er die Dinge beurteilen konnte, und sie würden ihn zu dem größeren Ziel führen, das er im Sinn hatte, auch wenn er nicht ganz genau sagen konnte, was das war. Es entging ihm jedoch nicht, was er an Popularität opferte. Es war unmöglich, J.W. nicht zu mögen, was seinem jüngeren Bruder sehr wohl bewusst war, und für J.W. war die Anerkennung anderer die größte Bestätigung. Was ihn betraf, so vermisste er trotz seiner großen Klappe genau jene ungezwungene Kameraderie. Er war, das gestand er etwas unwirsch, „die grünste Kaki am Baum. Wer einen Biss von mir nahm, dem schmeckte ich nicht allzu sehr.“
Er wuchs umgeben von Musik auf — Squaredances, Tanzabende, einmal im Monat, bei einem Nachbarn, bei Verwandten, manchmal auch zu Hause. Bei solchen Veranstaltungen schob man das gesamte Mobiliar aus dem Zimmer und alle sangen und spielten: Fiddle, Banjo, Ukulele, Gitarre — manchmal gab sein eher zurückhaltender Daddy sogar den Ansager. Seine Schwester Irene sorgte zuverlässig dafür, dass er und J.W., damals kaum älter als vier oder fünf Jahre, immer mit dabei waren, und Sam saß dann in einer Ecke und sah seinen erwachsenen Brüdern und Schwestern und all den anderen, hart arbeitenden Farmern mit ihren Frauen dabei zu, wie sie tanzten und Spaß hatten. Als er sechs Jahre alt war, kurz vor dem Börsencrash im Oktober, kauften sie sich im Kilgore Furniture Store einen Graphophone-Plattenspieler; sie stellten ihn auf den Boden, zogen ihn auf und spielten immer wieder die eine Platte, die sie sich zusammen mit ihrer ursprünglichen Anschaffung hatten leisten können — Jimmie Rodgers’ Waiting for a Train.3 Obwohl Rodgers gemeinhin als „Vater der Country-Musik“ gilt, so war der Song ein Blues, ein tiefgründiges Portrait von Verlust und Entfremdung, das auf unheimliche Weise die Weltwirtschaftskrise erahnen ließ, die direkt hinter dem Horizont lauerte. „‚All around the water tank‘“, zitierte Sam noch 60, 70 Jahre später auf Kommando, „‚Waiting for a train/A thousand miles away from home/Sleeping in the rain.‘… Und dann ging er zum Bremser ‚to give him a line of talk‘ — du weißt schon, er versuchte in diesen Güterwagen zu klettern — und dieser Bremser sagte: ‚Well, you got any money, I’ll see that you don’t walk.‘ Doch Jimmie hatte kein Geld, und ‚he slammed the boxcar door.‘ Wenn du dir das bildlich vorstellen kannst — Wirtschaftskrise, harte Zeiten, kein Zug mehr für eine sehr lange Zeit. Ich sag dir eins: Jimmie Rodgers verschwendete keine Worte.“
Die Weltwirtschaftskrise traf die Phillips-Familie nicht so schwer wie manch andere, doch sie traf sie schwer genug, um den Verlauf und Ausgang ihres Lebens unwiederbringlich zu verändern. Charlie Phillips konnte sich die ersten paar Jahre noch über Wasser halten, doch 1933, als der Preis für Baumwolle auf fünf Cent pro Pfund gefallen war, wurde ihm klar, dass er nicht länger von der Landwirtschaft würde leben können und die Familie zog in die Stadt. Es war, als wären sie aus dem Paradies vertrieben worden.
Sams Daddys erster Job außerhalb der Landwirtschaft bestand darin, den Verkehr auf der alten L&N-Eisenbahnbrücke zu regeln. Für 30 Dollar arbeitete er von 18 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, sieben Tage die Woche. Im Verlauf der nächsten paar Jahre zog er mit seiner Familie immer wieder zurück aufs Land und wieder zurück in die Stadt, wobei er seinen Job beibehielt, da sein Lohn auf 35 und schließlich 40 Dollar die Woche stieg, er aber weiterhin in der Landwirtschaft arbeitete, ganz einfach, weil er das Land so sehr liebte. Er arbeitete im Straßenbau, legte mit Maultieren die Terrassen im Amphitheater des Florence State Teachers College an und bepflanzte sie mit Bermudagras („Er war der großartigste Gestalter von Ackerboden, den ich je gekannt habe“, sagte Sam), er legte einen experimentellen Gemüsegarten für Dr. Willingham, den Präsidenten des College, an. Er reichte anderen eine helfende Hand, obwohl er selbst die Miete kaum aufbringen konnte — und sein jüngster Sohn sog dies alles auf. Wie er mit Menschen umging, wie er mit Tieren umging, seine Hilfsbereitschaft anderen gegenüber. Auf der anderen Seite waren die Erwartungen, die er an sich selbst hatte. „Mein Daddy tat nichts, was ich nicht gesehen hätte. Er wusste nicht, dass ich ihn beobachtete, ich starrte ihn nicht an — doch mein Daddy erstaunte mich immer wieder. Er verstand die Landwirtschaft. Er verstand Maultiere. Ich meine, er verstand Maultiere! Mein Daddy benutzte niemals einen Stecken oder eine Peitsche oder so was. Maultiere arbeiteten einfach so für ihn, Menschen arbeiteten einfach so für ihn — und sie wuchsen über sich hinaus.“ Sein Daddy war in der Stadt nie jemals glücklich, das spürte der kleine Junge. Selbst als kleines Kind sah er, wie sein Vater von einer landwirtschaftlichen Vision angetrieben war — obwohl er dies zu jener Zeit sicherlich nicht hatte ausdrücken können. Da war ein Idealismus, so glaubte er, der seinen Vater über seinen Glauben und harte Arbeit hinaus nährte. Sein Daddy hätte sich nie dafür entschieden, von der Landwirtschaft zu leben, wenn er dies nicht gemusst hätte. „Der Ackerboden hatte etwas Reines, das Pflügen mit einem Maultier hatte etwas Reines — er konnte einfach den Boden in seine Hände nehmen und zusehen, wie er für ihn arbeitete.“ Es war die Reinheit eines Traums.
Er war ein zartes aber entschlossenes Kind. Obwohl sein Bruder doppelt so groß war wie er, und körperlich auch weitaus eindrucksvoller, stritten er und J.W. wie Hund und Katz — doch hinterher vertrugen sie sich immer wieder. Man musste J.W. einfach lieben, doch es war seine Tante Emma, die ihn aufrichtig faszinierte; wegen ihrer Weigerung, sich intellektuell ausbremsen zu lassen, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Widmung
  4. Titel
  5. Inhalt
  6. Anmerkungen des Autors
  7. 1 | „I dare you!“ 1923 — 1942
  8. 2 | Radio-Romanze 1942 — 1950
  9. 3 | Der Preis der Freiheit Januar 1950 — Juni 1951
  10. 4 | „Where the Soul of Man Never Dies“ Juni 1951 — Oktober 1952
  11. 5 | Perfekte Unvollkommenheit Juni 1952 — Juli 1953
  12. 6 | Prisoner’s Dream Juli 1953 — Februar 1955
  13. 7 | Spirituelles Erwachen Januar 1955 — Dezember 1956
  14. 8 | „I’ll Sail My Ship Alone“ 1957 — 1961
  15. 9 | „Sie zerren dich zur Klippe und schubsen dich runter“ 1979 — 1961 — 1979
  16. 10 | „How Lucky Can One Man Get“ 1980 — 2003
  17. Anmerkungen
  18. Bibliografie
  19. Diskografische Anmerkungen
  20. Danksagung
  21. Index