Alexander der Große wird im Anhang zu Ulrichs von Etzenbach Antikenroman auf ungewöhnliche Weise dazu gezwungen, seine Herrscherkompetenzen zu beweisen: Weil die Stadt Trîtôniâ im Land Bractanâ problemlos allen Belagerungsversuchen standhält, muss Alexander seine Gegner oratorisch davon überzeugen, ihn als Herrscher zu akzeptieren.1
Er demonstriert, dass er nicht nur gewaltsam, sondern klug und weise zu regieren versteht, indem er eine argumentativ und sprachlich anspruchsvolle Allegorie des Staatskörpers verfasst. Darin bringt er sein Selbstverständnis als gottgewollter Herrscher in Einklang mit der Freiheit der Trîtônier und entwirft ein politisches Gemeinwesen, das auf dem freiwilligen Dienst der Untertanen an ihrer Herrscherin, der personifizierten Weisheit, beruht.2 Alexanders Rede, die dem trîtônischen Rat von einem angesehenen Gesandten präsentiert wird, imponiert den Stadtbewohnern. Dies artikuliert sich in einer weiteren Rede, die ein alter Ratsherr vorträgt und die die Entscheidung für Alexander herbeiführt:
‚wir haben lange wîs
ervunden daz in astrîs,
des die ganzheit dâ genomen,
daz ein keiser sulle komen,
der in allen rîchen
nâch reht gewaldeclîchen
gar der werlde dieten
sol vorderlich gebieten:
der mac dirre hêrre sîn.
wir haben starc beswæret in.
wanne merket ir in nuo,
wie bescheiden er dâ tuo,
sô starc er doch gebâret,
noch er arclich uns vâret:
mit gedult wil erz überkomen.
er ist uns guot în genomen
und loben in: daz rât ich.‘
(UvEAA, V. 1667 – 1683)
Wir haben schon lange in den Sternen erkannt – und davon leiten wir Rechtswirksamkeit ab –, dass ein Kaiser kommen soll, der in allen Reichen rechtmäßig und mächtig, über die Menschen in aller Welt, ausgezeichnet herrschen soll: Das könnte dieser Herr sein. Wir haben ihn sehr betrübt. Wenn ihr ihn jetzt beobachtet, wie klug er sich verhält – wiewohl er gewaltig auftritt, benimmt er sich uns gegenüber dennoch nicht übel: Mit Geduld will er verhandeln. Er ist uns wohlgesonnen – und ihn zu loben, dazu rate ich.
Alexanders rhetorisch demonstrierte Klugheit (bescheidenheit) ist die zentrale Eigenschaft, die die Bürger überzeugt. Für die Trîtônier drückt sich diese Klugheit in entscheidender Weise in der Gestaltung der Rede aus, wie sich an der Forderung erkennen lässt, die Antwort der Trîtônier müsse sich mit Alexanders rhetorischem Niveau messen können, ‚seinen Worten ebenbürtig‘ sein.
dô rief daz volc gemeinlich
‚ez ist unser wille wol,
unser hêrre er wesen sol.‘
dô die comûne an in jach,
der alde wîse aber sprach
‚râtet wie wir diz an in
bringen, daz die rede sîn
muge sînen worten eben
und wir im antwurte geben
nâch sîner bescheidenheit
und keiserlîcher wirdekeit.‘
(UvEAA, V. 1684 – 1694)
Da rief das Volk einstimmig: „Es ist durchaus unser Wille, er soll unser Herr sein.” Als die Kommune sich zu ihm bekannte, sprach der alte Weise noch einmal: „Ratet dazu, wie wir ihm dies übermitteln, sodass die Ansprache seinen Worten ebenbürtig sein kann und wir ihm eine Antwort entsprechend seiner Klugheit und kaiserlichen Würde geben.”
Immer wieder kommt die Verbindung von bescheidenheit und Rede im Alexander-Anhang zur Sprache. Klugheit manifestiert sich in der Oratorik, d. h. in der rednerischen Performanz der Figuren. Die handlungstragenden Figuren erweisen sich durch ihre Rede- und Argumentationsfähigkeit als klug und kompetent, angefangen beim Fürsten Alexander und den Stadtbewohnern Trîtôniâs, über die Gesandten der beiden Parteien, bis zum Gelehrten Aristoteles. Die beschriebene Szene illustriert, dass dieses Ideal sich nicht auf Herrscherfiguren beschränkt. Das Konzept der Herrschaftstugenden erstreckt sich auf alle Beteiligten und die Tugenden werden als politische Tugenden präsentiert.
Wie das Eingangsbeispiel und der weitere Verlauf der Handlung im Alexander-Anhang zeigen, können Alexander und die Trîtônier eine Gemeinschaft bilden, weil beide Seiten die Rhetorik als gemeinsamen Wert anerkennen. Diese rhetorische Gemeinschaft ist Voraussetzung für die politische Gemeinschaft, in die die freien Stadtbürger und der monarchische Herrscher gleichermaßen integriert werden. Herrschaftlich-politische und rhetorische Kompetenz verbinden sich so zu einem Ideal politischer Oratorik.
Im Zentrum dieser Studien steht ‚erzählte Oratorik‘, d. h. die narrative Darstellung politischer Rede, die in Texten aus dem 13. bis frühen 15. Jahrhundert in den Blick genommen wird. Als Gegenstück zum theoretischen System der ‚Rhetorik‘ bezieht sich der Begriff ‚Oratorik‘ auf die praktizierte Rede, die in enger Auseinandersetzung mit der rhetorischen Lehre entstehen und umgesetzt werden kann, aber vielfach auch eigene Wege geht.3 Die folgenden Studien gehen aus von der Beobachtung, dass deutschsprachige narrative Texte wie der Alexander-Anhang ein verstärktes Interesse daran zeigen, Herrschafts- und Ordnungsvorstellungen mit der Darstellung rednerischer Kompetenz zu verbinden. Der Alexander-Anhang steht in dieser Hinsicht nicht allein, denn auch in anderen Erzähltraditionen des Mittelalters sowie in didaktischen Texten lässt sich beobachten, dass politischer Beredsamkeit eine wichtige Funktion zugesprochen wird.
Unter Rekurs auf einen verbreiteten Merksatz betont Thomasin von Zerklaere zu Beginn des 13. Jahrhunderts in seiner Erziehungslehre Der Welsche Gast nicht nur, dass es wichtig ist, gut sprechen zu können, sondern auch, dass diese Fähigkeit reflektiert einzusetzen ist:
ich wil iu sagen, swelich man
mit sinne niht erahten kan
von wem, ze wem, waz, wie und wenne
er rede, ez schadet im etwenne. 4
Ich will euch sagen: Wenn ein Mann nicht mit Verstand erwägen kann, von wem, mit wem, was, wie und wann er spricht, schadet ihm das mitunter.
Erziehungslehren wie der Welsche Gast dienen der Einübung in einen höfisch-adligen Habitus, Thomasins Aussage bezieht sich somit allgemein auf jedes Sprechen am Hof. Indem diese Erziehungslehren sich an Angehörige der Elite richten, die als zukünftig...