Keinen Bock auf
Nutella-Werbung
Während wir an der Entstehung unseres ersten Sohns eine Weile tüfteln und werkeln mussten, ist unser zweiter Sohn einfach so passiert. Das klingt naiv, und das ist es ja irgendwie auch. Denn natürlich habe ich in der Schule aufgepasst und die Dr.-Sommer-Seite in der Bravo gelesen und weiß, wie die Geschichte mit den Bienchen und den Blümchen im besten Fall ausgeht. Aber wenn man mal einen cineastischen Vergleich bemüht: Angenommen, die Produktion von »Matrix« hat anderthalb Jahre gedauert, dann gehen die Produzenten nicht davon aus, dass sich der Fortsetzungsfilm in nullkommanix abdrehen lässt. Nein, sie planen vermutlich ebenso viel Zeit ein wie für Teil 1. Mindestens.
Und genauso hätte auch ich mir die Herstellung von Kind Nummer 2 vorgestellt. Aber nix da, der Kurze wuchs schon in mir, da hatten wir noch nicht einmal über das Drehbuch des Fortsetzungsfilms nachgedacht. Der Wurm machte sich also zu einer Zeit in mir breit, da war ich noch nicht mal sicher, ob ich überhaupt noch ein zweites Kind möchte. Der Große war gerade mal zehn Monate alt und forderte mich ordentlich. Neben Haushalt und einigen Jobs, die ich nebenbei schon annahm, blieb mir kaum Zeit, über eine Erweiterung der Familie nachzudenken, geschweige denn, regelmäßig mit Papi an dem Projekt zu arbeiten. Der Kurze wand quasi die Überrumplungstaktik an, die mich anfangs lähmte, der ich mich dann aber fügte und die mich schließlich doch sehr erfreute.
Nicht einmal ein Jahr nach der Geburt meines Großen wurde mein Körper schon wieder fremdbestimmt: von diversen Hormonen und natürlich dem kleinen Klümpchen in mir. Ich hatte also gar nicht die Chance, mich wieder an Dolce Vita mit Eierlikör und Grauem Burgunder zu gewöhnen, denn nur wenige Wochen nach Ende der Stillzeit des Großen musste ich dem Alkohol schon wieder entsagen. Statt zum schweißtreibenden Yoga ging’s jetzt abermals zum gemütlichen Schwangeren-Yoga. Und beim Japaner musste ich erneut auf die etwas öde schmeckende Avocado-Gurke-Sushi-Variante zugreifen und schweren Herzens auf mein geliebtes Lachs-Sashimi verzichten.
Als meine Murmel nicht mehr zu übersehen war, kamen natürlich von allen Seiten die Fragen nach dem Geschlecht unseres zweiten Babys. Keine Ahnung warum, aber ich war mir recht schnell sicher, dass da wieder ein Embryo mit Pipimatz in mir heranwuchs. Hellsehen konnte ich natürlich nicht, nennen wir es einfach mal mütterlichen Instinkt. Deshalb war ich auch kein bisschen überrascht, als mir der Zoom am Ultraschallgerät meiner Frauenärztin genau diese Vermutung bestätigte. Ich haderte keine Sekunde damit, weil ich noch nie zu den Frauen gehört habe, die sich Hand in Hand mit einem blonden Mädchen mit geflochtenen Zöpfen und einem Blumenkleid über die Wiese rennen und Blumenkränze binden sah. Ein Mädchen stand also nie auf meiner Wunschliste. Ein Junge aber auch nicht. Was ich wollte, war ein gesundes Kind – ob nun mit oder ohne Zipfel oder Zöpfe. Ein Mädchen wär schön gewesen, aber so war’s auch in Ordnung. Und zugegeben auch geldbeutel-freundlicher: Denn für einen Jungen hatten wir ja bereits alles. Und so freute ich mich, dass mir zukünftig zumindest der nervige Bibi-,Tina-, Elsa-, Anna- und Conni-Kram erspart bleiben würde und sich niemand später an meinem Kleiderschrank vergreifen würde.
Ich hatte mein Schicksal, eine zweifache Jungs-Mama zu werden, also sehr schnell angenommen. Das sah man in meinem Umfeld jedoch gar nicht so lässig. Häufig musste ich mir Sachen anhören wie: »Was, noch ein Junge … Ach Mensch, das tut mir leid. Du hast dir doch sicher noch ein Mädchen gewünscht, oder?« Ich dann immer: »Neihein! Hab ich nicht!« Aber irgendwie wollte mir das kaum jemand glauben. Als sei nur die Tochter-Sohn-Kombination erstrebenswert und eine Familie mit zwei Jungs dagegen ein mitleiderregendes Trauerspiel. Ich musste unzählige Male erklären, dass sich nicht jede Frau das bilderbuchhafte Mutter-Vater-Tochter-Sohn-Modell aus dem Nutella-Werbespot wünscht und dass mir die Gesundheit meines Kindes wichtiger sei als das Geschlecht.
Jedes Mal wenn ich in so ein Gespräch verwickelt wurde, tat mir der Kleine im Bauch unfassbar leid, und ich hoffte inständig, dass er gerade pennte und nichts von dem Unsinn mitbekam. Nach so einer Diskussion tätschelte ich dann immer mit übertriebener Inbrunst meine Kugel und versicherte dem Bewohner darin, dass ich froh bin, dass er ein Junge sei, und dass ich mir genau das gewünscht habe. Ich wollte damit einfach ausschließen, dass er schon jetzt mit einer pränatalen Belastungsstörung zu kämpfen hatte.
Mit der Geburt des Kurzen endeten diese Sprüche zum Glück. Nun waren wir also zu viert – und das geschlechtliche Ungleichgewicht lag bei 3:1. Doch nur, weil ich schon einmal einen Jungen bekommen hatte, bedeutete das nicht, dass ich das komplett gleiche Programm noch einmal genauso abspulen konnte wie in Teil 1. Denn auch wenn meine Jungs das Pipimatz-Schicksal teilen, sind sie dennoch grundverschieden. Und auch ich habe mich bei Sohn Nummer 1 komplett anders verhalten als bei Sohn Nummer 2.
Denn als ich mit unserem Kurzen ein paar Tage nach seiner Geburt nach Hause kam, wartete da kein entspanntes Wochenbett auf mich, sondern ein quirliger Anderthalbjähriger, der kaum sprechen konnte, noch in die Windeln kackte, dessen Nacht-Nucki ich regelmäßig abkochen musste und der genauso viel Fürsorge und Liebe brauchte wie sein kleiner Baby-Bruder. Ich hatte zwar keine Zwillinge, aber manchmal, wenn beide zeitgleich nach mir plärrten oder beide im selben Moment eingekackert hatten, fühlte es sich genau so an.
Meine leisen Befürchtungen, nach der Geburt wieder ins Tal des Babyblues gezogen zu werden, wie bei Kind Nummer 1, entpuppten sich glücklicherweise dieses Mal als völlig unbegründet. Vielleicht lag es daran, dass ich mit zwei Kleinkindern an der Backe schlichtweg keine Zeit für düstere Grübelmomente hatte.
Eigentlich würde ich mich als sonniges und optimistisches Gemüt bezeichnen – nicht umsonst schleppe ich den Spitznamen Susi Sonnenschein bis heute mit mir rum. Deshalb hätte ich auch niemals gedacht, dass mir die Geburt unseres ersten Sohnes so dermaßen den Boden unter den Füßen wegreißen könnte.
Ich hatte zuvor zwar schon vom Babyblues und postnatalen Depressionen gehört, war aber immer der Meinung, ich sei dafür nicht anfällig. Pustekuchen!
Nur ein paar Tage nach der Entbindung – wir waren wieder daheim und gerade dabei, uns in den Alltag ›einzugrooven‹ –, da tat sich unter mir ein großer schwarzer Höllenschlund auf, der mich vollständig einsog. Ich saß von jetzt auf gleich mitten im Tal der Tränen … Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich, die positive Glas-ist-immer-halb-voll- und Mir-kann-keiner-was-Type, die sich sehnlichst ein Kind gewünscht hatte, saß nun heulend auf dem Sofa und stellte ihr ganzes Leben in Frage: Kann ich eine gute Mutter sein? Will ich überhaupt eine Mutter sein? Werde ich der Verantwortung gerecht? Wo bleibe ich in dem Spiel? Und kann ich jetzt überhaupt noch allein das Haus verlassen? Solche und andere Fragen stellte ich mir. Ernsthaft. Als mich in dieser Zeit einmal eine damals noch kinderlose Freundin besuchte, hübsch zurechtgemacht, mit Farbe auf den Nägeln und im Gesicht, schluchzte ich sie an: »Du siehst so schön aus. Ich werde nie wieder Zeit haben, meine Nägel zu lackieren, mich zu schminken oder schöne Sachen zu kaufen. Weil ich jetzt komplett fremdbestimmt bin und kein eigenes Leben mehr habe … Heul. Schnief. Seufz.« Und in diesem Moment glaubte ich diesen Blödsinn wirklich.
Mein Über-Ich wusste natürlich, was da gerade in mir abging, und dass nur die Hormone schuld an diesem Elend waren, dennoch fand ich nicht die Stopp-Taste für mein Dauergejammer. Der Endorphinrausch, der mich gerade noch auf Wolke 7 katapultiert hatte, hatte nun einem Cortisol-Überschuss Platz gemacht, der mich vom Himmel runter in die Hölle klatschen ließ. Genauso musste sich eine Depression anfühlen, und ich war froh, als ich ein paar Tage später wieder Licht am Horizont sah und Stück für Stück zu meinem alten Ich zurückfand. Zumindest fast.
Bis dahin war ich eigentlich eine Frau, die sehr auf ihr Bauchgefühl vertraute. Ich hielt mich für souverän, wenig grüblerisch und recht pragmatisch. Statt Lebensratgeber zu lesen, konsumierte ich lieber Thriller, Biografien oder seichte Frauenromane. Doch nun, in meiner Rolle als frischgebackene Mutter, entdeckte ich plötzlich ganz neue Seiten an mir. Ich fing an, Babyratgeber zu verschlingen: »Babyjahre«, »Baby – eine Betriebsanleitung«, »Babys erstes Jahr« und »Oje, ich wachse« – all die Klassiker fanden sich innerhalb kürzester Zeit in meinem Bücherregal ein. Warum? Damals hätte ich geantwortet: weil ich nur das Beste für mein Kind will. Heute würde ich es eher so formulieren: weil ich komplett unsicher, hilflos und überfordert war. Jeden Tag stellte ich mir Fragen wie: Warum schreit mein Kind jetzt? Hat es Bauchweh? Ist es ihm zu warm, oder ist er einfach nur müde? Wie oft sollte ich mein Kind stillen? Und dann nur eine Brust oder immer beide? Wie oft am Tag schläft ein Baby? Wann lege ich es abends hin? Braucht mein Baby schon einen Rhythmus? Muss ich es nachts jedes Mal stillen, wenn es wach wird, oder reicht es, ihn umherzutragen? Was ziehe ich ihm an? Ist der Schlafsack zu dünn oder zu dick? Wasche ich es in der Badewanne oder lieber auf dem Wickeltisch? Wie halte ich mein Kind am besten? Lieber Trage oder Wickeltuch? Oder am besten Kinderwagen? Ab wann beginnt eigentlich Fieber? Nehme ich Babyöl, Babycreme oder gar nichts? Oder alles im Wechsel? Und wie war das noch mal mit dem plötzlichen Kindstod?
Puh, vor lauter Fragen, die ich selbst täglich auf mich niederprasseln ließ, wurde ich immer unsicherer. Leider halfen mir auch die angeschafften Bücher nicht wirklich weiter. Entweder waren die Antworten zu vage oder sie widersprachen sich, oder ich fand erst gar keine. Ich war hilflos und rief regelmäßig bei meiner Freundin an, die wenige Wochen zuvor ihr zweites Kind bekommen hatte und deutlich erfahrener und abgeklärter war als ich, und fragte sie Löcher in den Bauch. Was ich dabei nicht bedachte: So sehr wir Erwachsene uns unterscheiden, so verschieden sind auch Kinder. Was das eine Baby mag, verachtet das andere. Was bei dem einen Baby klappt, misslingt bei dem nächsten. Ihr Kind gab sich mit drei langen Trinkeinheiten tagsüber zufrieden, mein Sohn hing mir gefühlt ein Dutzend mal an der Brust – pro Tag. Ihr Sohn schlief problemlos im Kinderwagen ein, meiner verlangte jedes Mal nach der Babytrage … Je mehr ich las und herumfragte, umso verwirrter wurde ich.
Der Liebste war deutlich souveräner im Umgang mit unserem Erstgeborenen, obwohl die Elternschaft ja auch für ihn eine Premiere war. Doch trotz meiner eigenen Dauer-Unschlüssigkeit meinte ich, er hätte noch weniger Ahnung von Babys als ich. Was er sich in dieser Zeit an Belehrungen und Ratschlägen von mir anhören musste! Zieh dem Kind noch eine Jacke an. Vergiss nicht, sein Köpfchen zu stützen. Und ja nicht ohne Mützchen rausgehen. Und um Gottes willen, vergiss bloß nicht, seinen Nucki heiß abzuspülen, wenn er runtergefallen ist … Dass ich damals ständig Frau Schlau-Schlau raushängen ließ und ihn dermaßen bevormundete, tut mir rückblickend sehr leid. Ist ja nicht so, dass er selbst bei zehn Grad Celsius das Haus ohne Jacke verlassen würde. Warum ich dachte, er zöge seinem Sohn keine an, kann ich mir selbst nicht erklären. Er nahm – und das rechne ich ih...