Gesang vom Leben
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Gesang vom Leben

Biografie der Musikmetropole Leipzig

  1. 334 Seiten
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Biografie der Musikmetropole Leipzig

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MUSIKMETROPOLE DANK DER BÜRGERWarum zog gerade Leipzig so viele Künstler, Komponisten, Musiker und Musikerinnen aus der ganzen Welt an? Warum kulminiert in Leipzig europäische Musikgeschichte? Und was macht die Stadt bis heute so besonders? Deutlich wird: Was hier entstand, schufen die Bürger der Messestadt selbst, die schon immer selbstbewusst Kultur gestalteten. Aus kleinen Orchestern, die den hohen Anspruch dieses Bürgertums spiegeln, wurden bedeutende Traditionen, so zum Beispiel das "Große Concert", das heute als Gewandhausorchester zu den renommiertesten Ensembles der Welt gehört. Diese Biografie erzählt von Menschen, die Inspiration, Kreativität und Schöpfertum neu definierten. Acht Jahrhunderte Kulturgeschichte setzen sich auf diese Weise zu einem farbenprächtigen Mosaik zusammen, das von der Entstehung des Thomanerchors und legendären Opernerstaufführungen über die Beatdemo 1965 und die Etablierung der Leipziger Jazztage bis hin zur Passionsaufführung via Live-Stream im 21. Jahrhundert reicht.- kenntnisreiche und sehr nahbare Lektüre über das Leben und Musizieren in acht Jahrhunderten- Musik und Kultur im Wandel der Zeiten: vom Thomanerchor bis zur Livestream-Aufführung- Geschichten von Triumph und Tragödien bei Komponisten, Musiker*innen, Thomaskantoren, Dirigenten- Leben und Alltag von Johann Sebastian Bach, Clara und Robert Schumann, Felix Mendelssohn Bartholdy, Richard Wagner, Gustav Mahler, Kurt Masur u.v.a.- legendäre Opernaufführungen und Klavierkonzerte, Jazz und Neue Musik, Chorgesang RockkonzerteVOM "BURNOUT" BACHS BIS ZU DEN MUSIKALISCHEN EXPERIMENTEN IM 20. JAHRHUNDERT"Gesang vom Leben" lässt eintauchen in Musik und Kultur vergangener und heutiger Zeiten, berichtet von frierenden Sängern vor den Bürgerhäusern, vom "Burnout" Johann Sebastian Bachs, von den Verwüstungen während der Völkerschlacht und der Erschöpfung des musikalischen Wunderkinds Felix Mendelssohn Bartholdy. Zwischen ruhmreicher Vergangenheit und vergebenen Chancen, zwischen größtem Triumph und persönlicher Tragödie liegt manchmal nur ein Wimpernschlag. Das beweisen die Geschichten um Künstlerinnen und Künstler wie Clara und Robert Schumann, Max Reger, Gustav Mahler, Richard Wagner, Albert Lortzing, Franz Konwitschny und Kurt Masur."VOM LEBEN SINGEN" – UND NICHT SCHWEIGENAuch das zerrissene 20. Jahrhundert, das Leben und Sterben der Kultur unter dem Hakenkreuz, der schwierige Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg und die Friedliche Revolution gehören dazu. Zu DDR-Zeiten wagt man Experimente und will doch Musik zum Schweigen bringen. Nach 1989 erobern Kreative abseits der sogenannten Hochkultur mit viel Leidenschaft die Stadt: auf dem Jazzfestival, in den Clubs und Fabriken, auf Rock- und Popkonzerten. Am Karfreitag des Jahres 2020 schließlich sorgt eine weltweit übertragene Johannespassion mit drei Musikern dafür, dass die Reihe an Leipziger Passionsaufführungen nicht abreißt und die Welt nicht still bleibt. Denn schließlich fanden sich auch in einem mehrmals von der Pest heimgesuchten oder von Kriegen zermürbten Leipzig Musiker, Sänger und Publikum zusammen. Musik ist und bleibt der "Gesang vom Leben", wie im gleichnamigen großen Deckengemälde von Sighard Gille im Gewandhaus, das weithin in die Mitte der Stadt strahlt.

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Teil Eins

LIED DER STADT

SÄNGER

1212
Die Leipziger sind wütend und setzen Bauholz in Brand · Das neue Kloster entsteht trotzdem und Minnesänger Heinrich von Morungen bringt die Reliquien mit · Eine Schule nicht nur für Geistliche · Mehr als ein Vorsänger: Das Amt des Kantors
Kann man die Chancen für sein Seelenheil bessern, indem man ein Kloster gründet? Das steht zumindest in der Urkunde, die der sächsische Markgraf Dietrich am 20. März des Jahres 1212 auf dem Reichstag in Frankfurt erhält. Tatsache ist: Leipzig braucht dringend ein Kloster. Aber Landesherr Dietrich kann im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nicht einfach so eines errichten, die Genehmigung des Kaisers und sein Siegel auf besagter Urkunde sind unabdingbar. Doch es sind wohl weniger Sorgen um sein Seelenheil als vielmehr politische Gründe, die Dietrich nach Leipzig blicken lassen: Die aufblühende Stadt liegt strategisch günstig am Schnittpunkt zweier Handelsstraßen.1 Die Leipziger scheren sich kaum um die Belange ihres Markgrafen. Da könnte ein Kloster Wunder bewirken: Weil so der Geistlichkeit, die fortan vom Landesherrn abhängig ist, dank der Beichte nichts verborgen bleibt. Die Bestätigung der Schenkung am ersten Frühlingstag des Jahres 1212 durch den Welfenkaiser Otto IV. ist zugleich das Gründungsdatum von St. Thomas, auf das sich Thomanerchor, Thomaskirche und Thomasschule bis heute berufen.2 Genutzt wird das Kloster mehr als drei Jahrhunderte lang von den Augustinern – dem nach Franziskanern, Dominikanern und Karmelitern vierten mittelalterlichen Bettelorden.
Die Gründung fällt in eine politisch bewegte Zeit. Staufer und Welfen streiten sich in einem zwanzig Jahre währenden Bürgerkrieg um die Nachfolge des 1197 verstorbenen Heinrich VI. Als der Welfe Otto das Gründungsdokument der Thomaner siegelt, ist sein Stern jedoch schon merklich gesunken. Weil er es gewagt hat, das päpstliche Sizilien zu besetzen, wird er vom Kirchenoberhaupt mit dem Bann belegt. Die deutschen Fürsten schlagen sich nun nach und nach auf die Seite des Staufers Friedrich II., des Gegenkönigs. Der Sachse Dietrich, der Otto noch 1212 in Frankfurt die Treue schwört, nimmt das mit der Treue nicht ganz so genau und gehört zwei Jahre später zum Gefolge des Staufers. Weitere vier Jahre später erlebt er, wie die Welfen nach dem Tod ihres Oberhauptes die Reichsinsignien an Friedrich übergeben und diesen als Kaiser anerkennen.
Zurück nach Leipzig. Dort wundern sich die Einwohner über die Stiftung. Warum in aller Welt erwählt der Landesherr ausgerechnet den Jünger Thomas zum Patron für das neue Kloster? Schließlich sind Kirchen und Klöster nach Heiligen benannt, die eine besondere Beziehung zum Ort haben. Thomas aber hat so rein gar nichts mit der aufstrebenden sächsischen Handelsstadt zu tun. Der Grund für das Patrozinium sind Reliquien, die wichtigste Währung des Hochmittelalters. Überreste des Heiligen Thomas finden just zu dieser Zeit den Weg nach Leipzig, ein Sängerstar, der als einer der ersten Chorherren das Kloster bezieht, trägt sie im Reisegepäck: Zweifellos ist Heinrich von Morungen neben Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach einer der bedeutendsten Minnesänger seiner Zeit. Als Meister mittelhochdeutscher Liedkunst genießt er ein bewegtes Leben, das ihn bis nach Indien geführt haben soll.3 Gut möglich, dass der berühmte Sänger den sächsischen Markgrafen überhaupt erst auf die Idee mit dem Kloster bringt. Denn Heinrich hat mit knapp 60 Jahren genug von der Welt gesehen und bittet Dietrich, seinen letzten Dienstherren, sich zur Ruhe setzen zu dürfen. Für das neue Kloster lohnt sich der Eintritt des Stars gleich dreifach. Als Weltreisender übergibt Heinrich dem Stift die Kostbarkeiten, als Chorherr sorgt er für künstlerischen Ruhm. Und als ehemaligem Angestellten des Landesherrn steht ihm zudem eine jährliche Rente zu, die er bis zu seinem Tod4 dem Kloster spendet.
Doch die Leipziger wundern sich nicht nur, sie ärgern sich auch. Denn ihnen ist nicht entgangen, dass die Klostergründung ihre Freiheit beschneidet. Dank des 1190 erteilten Messeprivilegs ist die junge Stadt ein Handelsplatz mit selbstbewusster Bürgerschaft. Die Einrichtung eines Stifts, mit dem der Landesherr in einem Bürgerkrieg Partei ergreift, begreifen die Städter als Angriff auf ihre Souveränität. Warum sonst wird dem Kloster die soeben erbaute städtische Marktkirche zugesprochen, die zur Thomaskirche umgewidmet und nochmals erweitert werden soll? Sie sind darum nicht zimperlich mit ihrem Protest. Sie stürmen die Baustelle, werfen Kalk und Steine in die Pleiße, setzen das Bauholz in Brand und verjagen den Propst.5 Um einer Strafexpedition zu entgehen, verschwören sie sich sogar zum Mord am Landesherrn. Dazu kommt es jedoch nicht. Eine Magd warnt Markgraf Dietrich, die Verschwörer fliehen. Dennoch siegen die Bürger im Machtkampf: Dietrich bestätigt 1216 die Privilegien der Stadt und verzichtet sowohl auf die Fertigstellung des Kirchenbaus als auch auf Rache an den Aufständischen.
Insgeheim aber brütet er über einer Revanche. Denn allein schon, um sein Seelenheil nicht zu verwirken, muss der Bau wieder aufgenommen werden. Zu Michaelis 1217 weilt der Staufer-König Friedrich II. in Leipzig, in seinem Gefolge drängt auch Dietrich in die Stadt. Mit einer List unterwirft er die aufsässigen Städter. Eigentlich sollte er nur mit wenigen Männern eingelassen werden, aber sein Trupp schlüpft an jedem einzelnen Tor mit der erlaubten Anzahl hindurch. Weil die Soldaten zudem den Klöppel der städtischen Glocke stehlen, können die Bürger nicht gewarnt werden. Die überrumpelten Leipziger müssen zusehen, wie ihre Stadtmauer geschliffen und als Baumaterial zur Thomaskirche gebracht wird.6
Das von Dietrich im Jahr 1212 gestiftete Kloster braucht von Anfang an Sänger, um die zahlreichen liturgischen Dienste in den Gottesdiensten abzusichern. Dafür werden einige Knaben verpflichtet: die ersten Thomaner. Diese Rechnung funktioniert jahrhundertelang – selbst dann noch, als nach der Reformation die Stadt die Verantwortung für den Chor übernimmt. Dafür, dass die Jungen ihre musikalischen Aufgaben erledigen, werden sie im Gegenzug an einer Klosterschule unterrichtet, beherbergt und verköstigt. Obwohl die Thomasschule erst in einem Dokument von 1254 erwähnt wird,7 ist anzunehmen, dass sie schon kurz nach der Gründung des Klosters eröffnet wird. Für das Jahr 1221 berichtet die Chronik, dass der Bau des Klosters nunmehr vollendet wäre. Zweifellos ist damit auch die Klosterschule gemeint, denn Nachwuchsgewinnung ist eine der Grundaufgaben der Augustiner. Bis zu diesem Punkt unterscheidet sich das Thomasstift kaum von anderen mitteldeutschen Klöstern ihres Ordens. Die Augustinerklöster St. Afra in Meißen oder das Kloster Unser Lieben Frauen auf dem Berge in Altenburg sind nur wenige Jahre älter,8 auch dort gibt es von Anfang an stiftseigene Schulen.
Was die Thomasschule einzigartig macht, ist ihre Schülerschaft. Schola exterior nennt der Propst die Einrichtung in der Urkunde von 1254 – im Gegensatz zu den scholae interior in Meißen und Altenburg. Der Unterschied ist wesentlich. Dort wird nur Kleriker-Nachwuchs ausgebildet, die Thomasschule aber steht der Bürgerschaft gegen Zahlung von Schulgeld offen, arme Schüler erhalten Freiplätze. Den Unterricht – auch in Musik – leitet der Rektor, während dem Kantor (Vorsänger) nur die Ausbildung der Chorsänger obliegt. Von Anfang an sind diese späteren Thomaner nur eine Minderheit an der Schule. Die liturgischen Dienste versehen anfangs 12, dann 24 Sänger. Ihnen gegenüber stehen zu allen Zeiten deutlich mehr Schüler, die nicht Sänger sind. Es ist darum also nur gerecht, dass sich die Thomasschule aus diesem Grund als »älteste öffentliche Schule Sachsens« bezeichnet.
Heute ist die Frage, was Thomaner gewöhnlich singen, schnell beantwortet: Bach. Aber was singen die Knaben im 13. Jahrhundert? Dass die Augustiner Musik lieben, zeigt schon die Biografie des Augustiners Martin Luther, der gern Musiker geworden wäre. Die Kirchenmusik dieses Ordens kann im Mittelalter gar nicht festlich genug sein und bedient sich darum neben des in die Jahre gekommenen Klassikers des gregorianischen Chorals auch der allerneuesten Moden. Für die steht 1212 die Musik der Pariser Kathedrale Notre Dame. Dort entwickelt Chormeister Pérotin die zweistimmigen, noch in der Gregorianik verhafteten Gesänge seines Lehrers Léonin weiter zu drei- und vierstimmigen Werken. Man darf die mutige Tat zu Recht als größte musikalische Sensation des vergangenen Jahrtausends bezeichnen, ist dieser Schritt doch die Basis für die gesamte mitteleuropäische Musikgeschichte. Es dauert nicht lange, bis auch die Musik liebenden Leipziger Augustiner die neuesten Gesänge aus Paris anstimmen.
Der wachsenden Schülerzahl entsprechend engagiert der Rektor schon bald collaboratores (Mitarbeiter) als Aushilfslehrer. Das Amt des Kantors aber wird stets einem älteren Chorherrn übertragen. Deren Namen überliefern die frühen Chroniken nicht. Erst in der Mitte des 15. Jahrhunderts lichtet sich das Dunkel: Johannes Steffani de Orba (Johannes Urban) ist der erste bekannte Thomaskantor. Er amtiert von 1436 bis 1466. Die in dieser Zeit überarbeiteten Stiftsstatuten benennen seine Aufgaben: Orba muss in der Messe die Gesänge anstimmen und außerhalb der liturgischen Dienste für die Unterweisung des Sängernachwuchses sorgen.9
Dass man das mittelalterliche Repertoire der Thomaner recht genau kennt, hängt mit einem kostbaren Schatz zusammen, den die Leipziger Universitätsbibliothek bewahrt: ein im 13. und 14. Jahrhundert zusammengestelltes vierhundertseitiges Chorbuch – das St.-Thomas-Graduale. Der mit großer kalligraphischer Sorgfalt gestaltete Kodex zählt heute zu den besterhaltenen mittelalterlichen Choralsammlungen. Gestalterisch hervorgehobene Gesänge für den Apostel Thomas belegen, dass die prachtvolle Handschrift einst direkt in Leipzig entstand. Das Thomas-Graduale ist nicht nur ein Dokument des hohen musikalischen Könnens der hiesigen Chorherren. Es ist auch ein Beleg für eine besondere Leipziger Aufführungspraxis des gregorianischen Chorals, die sich von der offiziellen römischen Interpretation wesentlich unterscheidet. Anhänge zeigen zudem, dass die Handschrift zweieinhalb Jahrhunderte lang ständig benutzt wird, im 16. Jahrhundert spendiert man dem Buch sogar einen neuen Einband. Nach der Einführung der Reformation in Leipzig wird der Kodex nicht eingemottet, sondern zum Glück einfach weiterverwendet. Auch Bach blättert in der alten Handschrift und schöpft aus ihr Inspiration. Im Credo seiner h-Moll-Messe, die heute als eines der Hauptwerke geistlicher Barockmusik gilt, zitiert er zu den Worten »confiteor unum baptisma in remissionem peccatorum« notengetreu eine uralte liturgische Wendung in jener Form, wie sie im St.-Thomas-Graduale überliefert wird.

VON DEN HÖHEN DER KIRCHTÜRME

1230 bis 1479
Jedem Orden seine Kirche · Orgeln und Glocken, die die Lebenden rufen · Ein Refektorium wird zur Aula der neuen Universität · Vom täglich Brot und den Nöten der Stadtpfeifer
Lange Zeit ist die Leipziger Musikpflege bestimmt vom Gesang in Kirchen und Klöstern. 17 Jahre nach den Augustinern, die ihre Heimstatt an der westlichen Stadtmauer in St. Thomas haben, siedeln Dominikaner am entgegengesetzten Punkt der Stadt. Nahe dem Grimmaischen Tor bauen sie eine Kirche, die 1240 dem Apostel Paulus geweiht wird. Später firmiert sie als Universitätskirche, 728 Jahre nach ihrer Weihe wird sie von den realsozialistischen Machthabern gesprengt. Noch zwei weitere Orden werden in Leipzig heimisch: Zisterzienserinnen richten 1230 im Südwesten das St.-Georgs-Kloster ein, in Nordwesten bauen Franziskaner die 1253 erstmals erwähnte Barfüßerkirche.10 Lediglich die Nikolaikirche als fünftes Gotteshaus der Stadt ist keine Klosterkirche. Sie untersteht bis 1540 der Aufsicht des Thomaspropstes, danach wird sie zum Sitz des lutherischen Superintendenten.
Zur Kirchenmusik gehört nicht nur Gesang, sondern auch die Orgel. Die älteste heute noch erhaltene sächsische »Königin der Instrumente«11 stammt aus dem 17. Jahrhundert und steht in Pomßen in der Nähe von Grimma, zwanzig Kilometer von Leipzig entfernt. Eine Urkunde aus dem Jahr 1384 belegt, dass schon im mittelalterlichen Leipzig Orgelmusik zu hören ist. Denn die Stiftung eines Marienaltars in der Thomaskirche durch den Markgrafen Wilhelm I. (»den Einäugigen«) schreibt vor, dass an allen Sonnabenden und an den Marienfesttagen eine Messe »mit Orgel« aufgeführt werden solle. Die pedallosen Instrumente, die sich in dieser Zeit in vielen Kirchen finden, sind die Gewinner in einem Streit um die »richtige« Sakralmusik. Den Dominikanern nämlich sind die anspruchsvollen Chorgesänge der Augustiner ein Dorn im Auge. Ganz abschaffen lassen sich diese zwar nicht, aber als Kompromiss zwischen den Orden gilt fortan, dass sich Chor und Orgel gerecht abwechseln: Mal sind innerhalb der Liturgie die Sänger zu hören, dann wieder erklingen die mehrstimmigen Sätze rein instrumental. Die Orgel der Thomaskirche hat mit den kleinen Musikapparaten, wie sie in anderen Kirchen zu finden sind, jedoch kaum etwas gemeinsam. Eine Chronik aus dem Jahr 1525 beschreibt sie als großes Instrument, das damals schon fast 170 Jahre alt ist.12 Zwar weiß man nicht genau, wann die 1356 im Augustinerkloster Eicha bei Naunhof erbaute Orgel dem Thomaskloster übereignet wird. Aber es ist wahrscheinlich, dass sich die Stiftung Wilhelms I. aus dem Jahr 1384 bereits auf diese prachtvolle Orgel bezieht.
Es lässt sich sehr gut darüber streiten, welches Musikinstrument das lauteste sei. Zählt man die Kirchenglocke zu den Instrumenten (und es spricht mehr dafür als dagegen), dann gebührt zweifellos ihr die Krone. Denn der Klang einer Glocke trägt wesentlich weiter als jener der Orgel. Im spätmittelalterlichen Leipzig gibt es gleich zwei bewundernswerte Exemplare davon. 1452 wird die von Lucas Hall gegossene 92 Zentner schwere Osanna in der Nikolaikirche geweiht. Die Gemeinde hat an ihr jedoch nicht lange Freude: Während der Belagerung durch kaiserliche Truppen im Dreißigjährigen Krieg wird die Osanna 1633 zerstört. Ein Vierteljahrhundert nach der Nikolaikirche erhält auch die Thomaskirche 1477 eine prachtvolle Glocke. Die 100 Zentner schwere Gloriosa stammt aus der Werkstatt von Theodor Reinhard. Wie wertvoll das Instrument ist, zeigt die Tatsache, dass der Rat den Gießern 16 Kannen Wein spendiert. Denn die Gloriosa ist schon äußerlich eine der schönsten Glocken ihrer Zeit: Ritzzeichnungen von Nikolaus Eisenberg zeigen Kreuzigung und Auferstehung Christi sowie den Heiligen Thomas als Namenspatron der Kirche. Die Inschrift verrät die Funktion: »Vivos voco, mortus plango, fulgura quoque frango« (»Die Lebenden rufe ich, die Verstorbenen betrauere ich, die Blitze breche ich«). Das gilt nach wie vor: Die Gloriosa wird bis heute regelmäßig geläutet – wenngleich nur noch an hohen Feiertagen, um die über 500 Jahre alte Glocke länger zu erhalten.
Doch zurück von den Höhen der Kirchtürme in die Niederungen der Pädagogik der Klosterschulen. Sogar beim Papst klopfen die Leipziger im 14. Jahrhundert mehrfach mit dem Anliegen der Gründung einer zweiten Schule an. Die Zusage, dass die Thomasschule auch Bürgersöhnen offen sein müsse, reicht den Städtern nicht. Zu eng scheint ihnen die Verbindung des Klosters mit dem sächsischen Landesherrn, in Sachen Bildung wünscht man Unabhängigkeit von Meißen. Als Papst Bonifatius IX. 1395 endlich die Erlaubnis für eine städtische Bildungseinrichtung gibt, bleibt die Vollmacht jedoch ungenutzt – ein Rätsel, das selbst mutig spekulierende Historiker nicht lösen können. Nach 1409 aber brauchen die Leipziger eine zweite Schule gar nicht mehr. Als infolge eines Streits an der Prager Karls-Universität mehr als tausend deutsche Lehrer und Studenten von dort wegziehen und am 2. Dezember 1409 mit der Wahl des Rektors eine neue Universität in Leipzig gründen, ist das Bedürfnis der Städter nach höherer Bildung erst einmal gestillt.
Die Geschichte der Universität ist mit der Thomaskirche e...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. INHALT
  4. Prolog
  5. TEIL 1: LIED DER STADT
  6. TEIL 2: ORCHESTER
  7. TEIL 3: MÄCHTE DER FINSTERNIS. LIED VOM GLÜCK
  8. Epilog
  9. Impressum