Der Countertenor Jochen Kowalski
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Der Countertenor Jochen Kowalski

Gespräche mit Susanne Stähr

  1. 240 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Der Countertenor Jochen Kowalski

Gespräche mit Susanne Stähr

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Der im märkischen Wachow als Sohn eines Fleischers geborene Jochen Kowalski wusste schon früh, dass er unbedingt Sänger werden wollte. Doch seine Ausnahmebegabung wurde zunächst nicht erkannt, so dass er sich der Opernbühne auf Umwegen nähern musste: als Requisiteur. Fünf Jahre später gelang ihm als Tenor die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule, doch weltberühmt wurde er in einem anderen Stimmfach: als Altus. Mit dem festen Engagement an der Komischen Oper Berlin ab 1983 begann der Erfolg, der sich trotz Mauer bald auch im Westen fortsetzte, bis nach Tokio und New York. Jochen Kowalski begeistert sein Publikum nicht nur mit Barockmusik – auch namhafte Neutöner wie Olga Neuwirth oder Johannes Kalitzke wissen seine in jeder Hinsicht herausragende Stimme für ihre Kompositionen zu nutzen. In diesem Buch erzählt Jochen Kowalski der Musikautorin Susanne Stähr seine bewegte Geschichte: ehrlich, offen und mit erfrischendem Humor.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783894879358

Kapitel 1
»Olle Jochen ist halt etwas verrückt«

Eine Kindheit im Havelland
Herr Kowalski, das Erinnerungsvermögen des Menschen setzt zu ganz verschiedenen Zeitpunkten ein. Für manche ist alles, was vor dem fünften oder sechsten Lebensjahr geschah, im Dunkel des Vergessens weggeblendet, andere dagegen warten mit erstaunlichen Gedächtnisleistungen auf. Igor Strawinsky zum Beispiel will sich sogar an seine Taufe erinnert haben, die er im zarten Alter von sechs Wochen in der Petersburger Nikolski-Kathedrale empfangen hat – es war für ihn offenkundig ein traumatisches Erlebnis … Wie sieht das bei Ihnen aus: Was sind Ihre frühesten Erinnerungen?
An meine Taufe erinnere ich mich garantiert nicht, da kenne ich nur die Erzählungen, dass es ein schrecklich heißer Tag gewesen sein muss, irgendwann im Sommer 1954: ein Riesenfest in unserer Familie, mit vierzig oder fünfzig Gästen. Das waren alles wohlgenährte Handwerker, wir befanden uns in der DDR-Aufbruchszeit – die gab es ja wirklich. Nein, meine Taufe hat keine Erinnerungsspuren bei mir hinterlassen, da kann ich Strawinsky nur wieder einmal bewundern, nicht nur seines Gedächtnisses wegen …
Meine ersten Erinnerungen setzen ein auf Rügen, im Sommerurlaub in Binz, wo ich mit einem Eisbären fotografiert wurde. Es war damals Mode, dass Fotografen am Strand rumliefen, mit einem Komparsen im Eisbärenfell, und mit dem wurde ich dann aufgenommen. Eine andere ganz frühe Erinnerung betrifft einen Besuch im Zoo in West-Berlin 1961, kurz vor dem Bau der Mauer. Wir hatten damals ausdrücklich gesagt bekommen, dass wir im Kindergarten nicht darüber sprechen dürften, wo wir hinfahren, sondern nur erzählen sollten, dass wir im Tierpark gewesen wären, also in Ost-Berlin – aber tatsächlich waren wir im Westen, die Grenze war ja noch offen. Vor dem Zoobesuch sind wir auch über den Kurfürstendamm und den Tauentzien spaziert, haben in die Schaufenster des KaDeWe geguckt. Ich hatte noch nie solche Auslagen gesehen! Eine Vitrine zum Beispiel war voll mit bunten Kugelschreibern – so etwas gab es bei uns nicht. Und auf dem Bürgersteig begegneten wir einer Inderin, im Sari und mit einem schwarzen Punkt zwischen den Augen – die hat mich besonders fasziniert. Ich bin immer hinter ihr hergelaufen, sie sah so toll aus …
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Sommerurlaub in Binz 1957
© Privatarchiv Jochen Kowalski
Sie stammen aus Wachow im Havelland, einem Dorf von nicht einmal 1.000 Einwohnern, zwischen Nauen und Brandenburg an der Havel gelegen. Ihr Name aber, Kowalski, weist noch weiter ostwärts, nach Polen, und leitet sich von der Berufsbezeichnung »Schmied« ab, ist also der polnische Schmidt. Kommen Ihre Vorfahren aus Polen – oder lebt dieser Strang der Kowalskis schon im Märkischen, solang die Erinnerung zurückreicht?
Nein, meine Großeltern väterlicherseits kamen als Saisonarbeiter aus Südostpolen nach Brandenburg, sie stammten aus dem Gebiet um Kielce. Das war noch vor dem Ersten Weltkrieg, sie heuerten bei hiesigen Bauern an, um überhaupt überleben zu können. In den ersten Jahren gingen sie über Winter noch immer nach Polen zurück, aber irgendwann entschieden sie sich dafür, ganz hierzubleiben. Mein Vater Franz Kowalski jedenfalls wurde 1911 schon in Natterheide in der Altmark geboren.
Haben Sie in Ihrer Kindheit noch die polnische Sprache zu hören bekommen?
Aber natürlich, meine Großeltern haben miteinander nur polnisch gesprochen! Es war für sie gewiss nicht ganz einfach hier. Stellen Sie sich nur vor: Der einzige Sohn, der geliebte Franz, heiratet eine Deutsche, und diese Deutsche ist zu allem Überfluss auch noch evangelisch – ganz im Gegensatz zu den erzkatholischen Polen. Auch meine Mutter wiederum hatte es nicht leicht, in eine Familie zu heiraten, die, wenn man unter sich war, nur polnisch sprach.
Mein Vater allerdings hatte schon früh den Drang, sich selbstständig zu machen und etwas Eigenes aufzubauen. Er ist mit vierzehn von zuhause fortgegangen, abgehauen mit dem Fahrrad, denn er wollte um keinen Preis in die Landwirtschaft. Deshalb hat er sich in die nächstgrößere Stadt aufgemacht, nach Rathenow an der Havel, und hat dort Fleischer gelernt. Und da hat er dann auch meine Mutti Katharina kennengelernt, 1934/35 war das: Sie war damals noch blutjung, Jahrgang 1919. Wenig später, 1936, haben sie schon gemeinsam in Berlin die Olympischen Spiele besucht. Als ich sie einmal fragte: Und habt ihr denn in Berlin auch zusammen übernachtet, da hat sie nur gelacht …
Geheiratet haben die beiden allerdings erst 1941, und das war eine reichlich komplizierte Geschichte. Denn mittlerweile befanden wir uns im Zweiten Weltkrieg, Deutschland hatte zwei Jahre zuvor Polen überfallen, und mein Vater galt als Staatenloser, er hatte ein »P« in seinem Pass: »P« wie »Pole«. Ich weiß nicht, wie er es angestellt hat, aber meinem Vater ist es noch 1941 gelungen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Dadurch konnten meine Eltern zwar vor den Traualtar treten, aber anschließend ist mein Vater gleich in den Krieg eingezogen worden. Da er Fleischer war, hatte er wiederum Glück und wurde für die Versorgung eingesetzt: Er war in Kiel in einer Küche tätig. Meine Mutter blieb zunächst in Rathenow, wo 1942 mein ältester Bruder Gerhard zur Welt kam, wechselte dann aber auch nach Kiel. Und nach Kriegsende sind sie zu dritt wieder zurückgekehrt, aus dem Westen freiwillig in die Ostzone! Aus Heimweh!
Da noch alles am Boden lag und mein Vater anfangs keinen Job hatte, arbeitete er eine Zeitlang als Privatchauffeur für den Architekten Hermann Henselmann, der später die Stalinallee, die heutige Karl-Marx-Allee, bauen sollte. Bis er schließlich erfuhr, dass in einem kleinen Dorf, in Marzahne bei Rathenow, ein Fleischerbetrieb zu verpachten war. Da hat er dann zugegriffen, 1947 muss es gewesen sein, und fing ganz klein an – mit einem Handwagen ist er in der ersten Zeit noch über die Dörfer gezogen. Immerhin hatte er sich dadurch etwas ansparen können, und als er 1950 hörte, dass in Wachow bei Nauen ein größerer Fleischerladen zum Verkauf stand, hat er diesen Betrieb übernommen.
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Mit den Eltern Katharina und Franz sowie den Brüdern Gerhard (l.) und Reinhard (r.) 1955
© Privatarchiv Jochen Kowalski
Ging das damals so einfach in der DDR, eine Fleischerei zu kaufen? Konnte Ihr Vater denn als freier Unternehmer arbeiten, oder war er in irgendeine genossenschaftliche Struktur eingebunden?
Damals war das noch nicht so, die eigentliche Bodenreform, die Kollektivierung fand erst 1960 statt, im sogenannten sozialistischen Frühling, als die Landwirte reihenweise in die LPGs getrieben wurden. Das führte dazu, dass damals diverse Wachower Bauern einfach in die S-Bahn gestiegen sind und nicht mehr wiederkamen – es war ja nicht weit nach Berlin. 1950 sah das noch anders aus: Die Großbauern waren zwar schon weg, aber der Mittelstand funktionierte noch, es gab Handwerker aller Arten, Bäckereien, Fleischereien. Insofern konnte auch mein Vater als selbstständiger Fleischer tätig werden. Ich erinnere mich allerdings an einige Diskussionen in meiner Kindheit, als meinen Eltern ans Herz gelegt wurde, doch besser in eine PGH, eine Produktionsgenossenschaft des Handwerks, einzutreten. Das wäre dann eine Verstaatlichung gewesen, meine Eltern wären zu Betriebsleitern degradiert worden. Aber meine Mutter sagte: »Nur über meine Leiche!«
Sie hat auch im Geschäft mitgearbeitet?
Ja, sie war die Chefin, überhaupt von allem. Und hat den Laden mit ihrem Optimismus und Elan geschmissen.
Und heute existiert die Fleischerei Kowalski noch immer …
Die gibt’s noch immer, die leitet mein mittlerer Bruder Reinhard. Und die Wurst von meinem Bruder ist wirklich unvergleichlich, das kann ich beurteilen, denn ich habe ein fast krankhaftes Verhältnis zu Wurstwaren, ich kann kaum an einem Wurststand vorbeigehen, ohne etwas zu kaufen. Aber sehr oft bin ich enttäuscht, denn so etwas Tolles wie bei meinem Bruder kriegt man nicht mal im KaDeWe: Alles ist selbstgeräuchert, mit ausgewählten Hölzern. Sie müssen nur diese verschiedenen Schlackwürste probieren oder die Leberwurst – ich schicke das bis nach München, und alle kriegen strahlende Augen, wenn es Kowalski-Wurst gibt. Alle zwei Jahre gebe ich in Wachow ein Konzert, nur für die Wachower, die Einheimischen. Das steht auch nicht im Internet, sondern wird ausschließlich über die Kirchengemeinde angekündigt. Als Gage erhalten die Mitwirkenden, also zum Beispiel die Musiker der Staatskapelle Berlin, jeweils ein Wurstpaket, Leckerli von Kowalski. Die ganze Kirche hat danach geduftet, und anschließend waren alle zum Schwein am Grill eingeladen. Sogar Manfred Stolpe war einmal dabei und hat sich gar nicht mehr eingekriegt.
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Konzert in der Heimat: mit dem Salonorchester Unter’n Linden und Pfarrer Zastrow in der Dorfkirche Wachow, September 2012
© Marlies Schnaibel
Zwischen den drei Brüdern im Hause Kowalski: Wie war da das Binnenverhältnis? Gab es eine bestimmte Rollenverteilung oder spezielle Etiketten, die den drei Jungs jeweils angeheftet wurden?
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Jochen Kowalski (l.) mit seinen Brüdern Reinhard und Gerhard 1956
© Privatarchiv Jochen Kowalski
Na klar. Der große war immer der Star, der ging nach Leipzig, um dort Sprachen zu studieren, Französisch und Russisch und was weiß ich nicht alles. Wenn er am Wochenende nach Hause kam, haben wir uns zwar zunächst gefreut, aber dann versuchte er immer, die Erziehungsmaßnahmen, die meine Eltern bei mir nicht so furchtbar wichtig fanden, durchzusetzen. Weshalb ich manchmal dachte: Hoffentlich ist der nur bald wieder in Leipzig! Im Alter hat sich das allerdings gegeben, und er ist inzwischen nicht nur ein gefragter Raumfahrtjournalist, sondern auch mein treuester Konzertbesucher.
Es lag zwischen uns natürlich auch ein gravierender Altersabstand, wir kamen im Turnus von jeweils sechs Jahren zur Welt, Gerhard war also zwölf Jahre älter als ich. Und Reinhard als der Mittlere hatte es naturgemäß am schwersten: Für ihn war von Anfang an vorgesehen, den Betrieb zu übernehmen, auch wenn er ursprünglich wohl lieber etwas anderes gemacht hätte. Er musste einfach in den sauren Apfel beißen, weil die Fleischerei erhalten bleiben sollte.
Von solchen Ambitionen blieb ich glücklicherweise verschont, ich war das Nesthäkchen, der Liebling, der kleine Prinz. Und hatte es sicher am besten von allen Dreien, darüber witzeln wir noch heute.
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Jochen mit Kindermädchen Lotti, Weihnachten 1963
© Privatarchiv Jochen Kowalski
Wer war in der Familie Ihre wichtigste Bezugsperson?
Das war Lotti, mein Kindermädchen Charlotte Wulsche. Nach dem Krieg kam sie als Flüchtling mit Mutter und Bruder aus Schlesien nach Wachow. Dort bewohnten die drei zwei Dachkammern in der Fleischerei, die meine Eltern 1950 kauften, und noch im gleichen Jahr fing Lotti als »Mädchen für alles« bei uns im Haushalt zu arbeiten an. Nach und nach wurde sie immer unentbehrlicher und gehörte bald fest zur Familie. Das ist bis heute so geblieben, und ich hoffe, dass es noch viele Jahre weitergehen wird.
Ansonsten war ich eher ein Vatersohn. Mein Vater war viel emotionaler als meine Mutter, er hatte diese slawische Seele, er liebte es, andere in den Arm zu nehmen oder zu streicheln. Wie nah wir einander standen, das habe ich vor allem am Ende gemerkt, als er schon sehr krank war. Er hatte schweren Diabetes, und ich habe noch alles unternommen, ihn in das Institut von Manfred von Ardenne nach Dresden zu bringen, denn ich wollte einfach noch nicht akzeptieren, dass er sterben musste. Über den Bariton Theo Adam, der mit Ardenne befreundet war, konnte ich das bewerkstelligen. Dort wurde dann bei meinem Vater die ebenso berühmte wie umstrittene Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie angewandt. Ich hab ihn dabei mehrfach nach Dresden begleitet, wir waren dort viele Stunden allein miteinander, und im Grunde haben wir uns erst dabei richtig kennengelernt. Vorher hatte er eigentlich nie Zeit, der Mann hat immer und pausenlos gearbeitet, er hat auch nie Urlaub gemacht. Es war ihm völlig unverständlich, wie man den ganzen Tag nur im Strandkorb sitzen kann.
Und mit wem waren Sie dann auf Rügen?
Mit meiner Mutter natürlich. Sie fuhr immer mit uns drei Kindern in den Sommerurlaub, wir mussten jedes Jahr mit ihr an die Ostsee, das brauchte sie einfach. Sie hatte Verkäuferinnen im Laden, die sie in der Zwischenzeit vertraten und alles regelten; die gehörten fast zur Familie, bis heute übrigens. Und so konnte meine Mutter für ein paar Tage ausspannen. Sobald wir in Wachow ins Auto stiegen, fing sie an zu singen und hörte erst wieder auf damit, als wir angekommen waren, vier oder fünf Stunden ging das also – es gab noch keine Autobahn, und so nahm die Fahrt kein Ende, wie eine Weltreise kam sie mir vor. Heute schaff ich das mit meinem Flitzer in zwei Stunden! Aber irgendwie haben diese frühen Urlaube abgefärbt, mich zieht es noch immer an die Ostsee, mehrfach im Jahr. Das gehört zum Sommer wie der Weihnachtsbaum zu Weihnachten. Ich liebe die Ostsee, besonders die Insel Usedom, und ich verbinde meine Stippvisiten oft mit Konzerten. Viele Musiker aus der Staatskapelle haben dort ihre Datschen, wir treffen uns dann und machen Musik, aus Lust und Laune heraus. Das gibt zwar kein Geld, macht aber viel mehr Spaß als die »offiziellen« Auftritte.
Haben Sie von Ihrer Mutter die Musikalität geerbt?
Ja, das denke ich. Sie hatte eine unglaublich schöne Stimme, so klar und jubelnd. Wenn sie in der Kirche anfing zu singen, dann hat sie alle übertönt – als Kind war mir das manchmal so peinlich, dass ich mich zwischen den Kirchenbänken verkroch … Dabei sang sie überhaupt nicht schrill oder ätzend, eher so wie Elisabeth Grümmer, mit Inbrunst und Innigkeit – vielleicht liebe ich diese Sopranistin auch deshalb so besonders.
In der Kirche habe ich übrigens auch selbst zu singen begonnen und habe bei den Krippenspielen jahrelang den Josef gesungen, noch über den Stimmbruch hinaus, bis ich fünfzehn oder sechzehn war. Und als es gar nicht mehr ging, hab ich wenigstens noch die Weihnachtsgeschichte vorgelesen.
Eine »Rampensau« waren Sie also damals schon?
Wahrscheinlich, dabei ist es etwas paradox, denn eigentlich hat mir nie jemand zugehört. In geselligen Runden falle ich nicht besonders auf und bin eher still. Aber als ich da vorne im Altarraum stand, fand ich plötzlich eine Beachtung, die ich sonst nicht erhielt. Das ist übrigens bis heute so geblieben: Mir hört doch nur jemand wirklich zu, wenn ich neben einem Klavier oder vor einem Orchester stehe.
Wie sah es bei Ihnen in der Familie aus: Wurde da Hausmusik gespielt?
Es gab ein Klavier, das extra für meinen ältesten Bruder angeschafft worden war, und er hat auch hervorragend gespielt. Reinhard und ich sollten es dann dem Großen nachtun. Aber wie habe ich das gehasst! Zunächst musste ich Akkordeon lernen, musste immer nach Nauen zu einem Musikdirektor, jeden Montagnachmittag – ein echter Alptraum! Diese Etüden und der ganze Kram haben mich so zur Verzweiflung gebracht, dass ich schließlich die Stricknadeln meiner Mutter nahm und den Blasebalg durchlöcherte. Aber das Teil spielte immer weiter! Irgendwann haben auch meine Eltern gemerkt, dass sie sich das Geld für den Unterricht sparen konnten. Mein Verhältnis zum Akkordeon ist jedenfalls bis heute ziemlich belastet: Wenn Gerhard bei irgendwelchen Familienfeiern nur mit diesem Ding ankommt und es auspackt, werde ich schon aggressiv.
Wie sind Sie dann zur Musik gekommen? Hatten Sie Radio und Plattenspieler?
Wir hatten alles, Radio, Plattenspieler und auch ziemlich früh schon, seit Anfang der sechziger Jahre, einen Fernseher. Meine Eltern hatten ja Geld, es war alles da: Wir besaßen ein Auto, wir waren die ersten, die eine vollautomatische Waschmaschine bekamen …
Kam man denn da so einfach ran als »normaler« DDR-Bürger?
Ach, die Handwerker der DDR kannten doch alle ihre Tricks! Meine Eltern hatten Schinken, Wurst und Fleisch, und da wurde dann einfach ein bisschen umgeschichtet. Die privaten Geschäftsleute haben sich untereinander alle geholfen, das war das perfekteste Netzwerk, das man sich vorstellen kann. Wir waren einfach J...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Kurzbiografie
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. Danksagung
  7. Inhaltsverzeichnis
  8. Prolog »Bloß keine Lobhudeleien«
  9. Kapitel 1 »Olle Jochen ist halt etwas verrückt«
  10. Intermezzo 1 »Entweder singen oder saufen«
  11. Kapitel 2 »Und damit machst du Weltkarriere!«
  12. Intermezzo 2 »Da stand das ganze Haus Kopf«
  13. Kapitel 3 »Lass dich jetzt nicht vom Erfolg irre machen«
  14. Intermezzo 3 Geheimpost an Herbert von Karajan
  15. Kapitel 4 »Ey, Jochen, die Mauer ist auf!«
  16. Intermezzo 4 »Nach dem November 1989 wurden wir mit einem Mal richtig mutig …«
  17. Kapitel 5 »Ich dachte, ich hör nicht recht«
  18. Intermezzo 5 »Du musst die Führung übernehmen«
  19. Kapitel 6 »Jochen, mit Ihnen stimmt etwas nicht!«
  20. Epilog »Warum soll König Lear nicht mal ein Counter sein?«
  21. Anhang