1 Theoretische Grundlagen und Hintergründe
1.1 Herausforderungen im polizeilichen Führungsalltag
Herausforderungen im polizeilichen Führungsalltag stellen sich vor allem auf der Ebene der Arbeits- und Rahmenbedingungen sowie der Ebene Personalführung und Zusammenarbeit. Die beiden Bereiche sind allerdings eng miteinander verknüpft und bedingen sich oft gegenseitig. Einerseits bestimmen Arbeits- und Rahmenbedingungen, wie z. B. mehr oder weniger große Handlungs- und Entscheidungsspielräume das Führungshandeln von Führungskräften. Sie sind hier gefordert, aktiv Gestaltungsspielräume zu identifizieren und auszufüllen. Und andererseits ist die Ebene der (Mitarbeitenden-) Führung und Zusammenarbeit unmittelbar von Arbeits- und Rahmenbedingungen betroffen, wenn z. B. hinreichende oder unzulängliche personelle und materielle Ressourcen das Verhalten von Polizistinnen und Polizisten positiv oder negativ beeinflussen, die Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit entweder stimuliert oder gehemmt werden oder in verschärfter Ausprägung kontraproduktives Verhalten von Mitarbeitenden hervorgerufen wird.
Wir unterscheiden nachfolgend innere und äußere Herausforderungen und beginnen mit einer kurzen Erörterung einiger bedeutender, aktueller Herausforderungen aus Sicht der Autoren, gefolgt von einer Einschätzung aus Sicht von Führungskräften und einer abschließenden Betrachtung, die aus Erwartungshaltungen an Führungskräfte auf Seiten der Mitarbeitenden resultieren.
Herausforderungen von außen ergeben sich zunächst aus den Gegebenheiten einer sich verändernden Sicherheits- und Rechtslage, mit der sich die Polizei entsprechend ihres gesetzlichen Auftrages lösungsorientiert auseinandersetzen muss.
Die erforderlichen Anpassungen der materiellen und personellen Ausstattung, der persönlichen fachlichen Qualifikation sowie der Einsatz- und Ermittlungstaktiken bei Einsatz- und Bedrohungslagen, wie z. B. dem islamistischen und rechtsextremistischen Terrorismus, beanspruchen Führungskräfte fortwährend. Hier sind auch die einem Wandel unterliegenden gesellschaftlichen Entwicklungen einzubeziehen. Als Schlaglichter eignen sich aktuelle Beispiele wie die Veränderung der Parteienlandschaft einhergehend mit nationalistischen Tendenzen, begleitet von wachsendem Rechtsextremismus, die besondere Thematisierung des Klimawandels, die Bewegung um (vermeintliche) Polizeigewalt und die sog. „Black Lives Matter“-Bewegung sowie die aus der Corona-Pandemie hervorgegangene Bewegung der „Querdenker“, unterstützt von Reichsbürgern sowie rechtsextrem gesinnter Bürger und Bürgerinnen.
Aber auch die mit der schnell voranschreitenden Digitalisierung einhergehenden, neuen Kriminalitätsformen stellen die Polizei vor große Herausforderungen. Hier müssen entsprechende IT-Kompetenzen, Hard- und Softwarekapazitäten auf- bzw. ausgebaut werden.
In einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Gegensätze, ungelöster sozialer Konflikte und damit einhergehender Radikalisierungstendenzen sinkt zumindest in Teilen der Bevölkerung darüber hinaus offensichtlich auch die Bereitschaft, (rechtmäßige und verhältnismäßige) staatliche Maßnahmen zu akzeptieren. Daraus resultieren zum Teil erheblich erschwerte Einsatzbedingungen, was ein Erfordernis intensiverer Kommunikation nach sich zieht, sich u.a. aber auch in einer Zunahme von Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehr, Rettungsdienste und der Polizei spiegelt. Viele dieser Vorfälle zeigen leider auch, dass in Teilen der Bevölkerung die Hemmschwellen für die Anwendung massiver Gewalt gegenüber Polizisten und Polizistinnen offensichtlich deutlich gesunken sind.
In diesem Zusammenhang ist auch die große Herausforderung zu erwähnen, in Zeiten von Twitter, Facebook und Co. eine den Tatsachen entsprechende, faire und ausgewogene Berichterstattung über die Polizei und polizeiliche Einsätze in den (sozialen) Medien möglichst zu befördern und einer unfairen, falschen und einseitig negativen Berichterstattung entgegenzuwirken.
Nicht selten liegen dieser Berichterstattung von Unbeteiligten mit Smartphone erstellte Videosequenzen zu Grunde. Dieses Filmen geht oft damit einher, den agierenden Beamten und Beamtinnen vielfach lautstark und unreflektiert die Berechtigung zur Durchführung der polizeilichen Maßnahmen abzusprechen. Mitunter wird rechtmäßiges Handeln als Polizeigewalt und/oder Racial Profiling unterstellt. So muss sich Polizei mit einer gesteigerten kritischen Haltung gegenüber hoheitlichen Maßnahmen auseinandersetzen. Hieraus resultiert auch die nicht zu unterschätzende psychische Herausforderung für Polizisten und Polizistinnen sowie deren Angehörige, sich mit erhöhten Einsatzrisiken oder einer negativen Berichterstattung bzw. medialen Aufmerksamkeit auseinandersetzen zu müssen. Führung ist gefragt, diese Belastungen mit allen und insbesondere den bisweilen verunsicherten eher jüngeren Polizisten und Polizistinnen gerade im Wechselschichtdienst zu reflektieren und letztlich den notwendigen Rückhalt zu vermitteln.
Umso problematischer sind in diesem Zusammenhang natürlich die Fälle, in denen sich Polizisten und Polizistinnen nicht vorschriftsmäßig verhalten, nicht verhältnismäßig reagieren oder sogar rechtswidrig handeln. Bei diesen Vorfällen, die scharf zu verurteilen und (so weit wie möglich) zu vermeiden sind, handelt es sich um innere Herausforderungen, denen sich die Polizei stellen muss. Abgesehen von persönlicher Betroffenheit und auch Leid für die Geschädigten, das Fehlverhalten von Polizisten und Polizistinnen verursachen kann, schadet dies massiv dem Ansehen der Polizei. Insbesondere wird das Fehlverhalten einzelner schnell auch zum Risiko für alle Kollegen und Kolleginnen, da sich durch solche Vorfälle die Stimmung zwischen bestimmten Teilen der Bevölkerung und der Polizei weiter aufheizt und negative Vorurteile gegenüber der Polizei subjektiv bestätigt werden. Daher muss sich die Organisation Polizei, müssen sich Führungskräfte auf allen Ebenen, vor dem Hintergrund des beschriebenen zunehmend schwierigen gesellschaftlichen und politischen Klimas auch mit der Frage auseinandersetzen, wie man die demokratische Resilienz von Polizisten und Polizistinnen effektiv schützen und stärken kann, um Fehlverhalten, Radikalisierungstendenzen und Rassismus in der Polizei vorzubeugen und zu bekämpfen. Führungskräfte sind gefordert, den offenen Diskurs zu diesen Fragen zu fördern. Sie müssen dabei sowohl die Erfahrungen ihrer Mitarbeitenden mit dem polizeilichen Gegenüber als auch deren Wirkung offensiv thematisieren. Die individuelle Feststellung von Beamten „das macht etwas mit mir“ muss aktiv durch Führung begleitet werden. In der gesamten Diskussion müssen Führungskräfte unmissverständlich und klar Haltung zeigen und dennoch balanciert und angemessen Rückhalt und Vertrauen bieten.
Darüber hinaus stellen Themen wie Generationenwechsel, Förderung einer Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Erhalt und Förderung der (psychischen) Gesundheit sowie die Gleichstellung der Geschlechter etc. innere Herausforderungen für die Polizei dar, die in einer engen Beziehung mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozessen stehen. In diesem Zusammenhang ist abschließend die Corona-Pandemie zu nennen, die die Polizei auch im inneren vor vielfältige Probleme und Herausforderungen stellt (z. B. Aufrechterhalten der Einsatzfähigkeit, Umsetzen politischer Vorgaben im Zusammenhang mit dem Infektionsschutzgesetz, permanente Umorganisation aufgrund der hochgradig dynamischen Lage, Kulturwandel, z.B. mit Blick auf erweitere Homeoffice-Modelle etc.).
Die Polizei Rheinland-Pfalz z.B. befindet sich in einem Erneuerungsprozess. Innerhalb von 10 Jahren werden knapp fünfzig Prozent des Personals ausgetauscht, was einen Generationenwechsel in besonderem Ausmaß darstellt. Dieser Prozess wird im Wechselschichtdienst am deutlichsten spürbar und verlangt u.a. den Dienstgruppenleitern und Dienstgruppenleiterinnen ab, eine hohe Anzahl von neuen Mitarbeitenden innerhalb kurzer Zeit zu entwickeln. Dabei müssen sie vielfach erfahren, dass die z.B. im Ermittlungsdienst der Schutz- und Kriminalpolizei freiwerdenden Stellen eine unausweichliche Sogwirkung erzeugen und Beamte und Beamtinnen mit Erreichen eines angestrebten Niveaus den Arbeitsbereich wechseln.
Nicht zuletzt hat sich Führung von Mitarbeitenden angesichts eines sich über Jahrzehnte wandelnden Führungsverständnisses deutlich verändert. Das kooperative Führen hat mittlerweile eine deutlich pointiertere Mitarbeiterorientierung erfahren und dies wird von Mitarbeitenden auch so eingefordert.
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die bei den Arbeits- und Rahmenbedingungen festgestellte Kumulation von hoher Arbeitsdichte, Zeitdruck, öffentlicher Kritik, zunehmenden Arbeitsanforderungen, Erfordernissen im Bereich der Personalführung und Personalentwicklung, einer hohen Personalfluktuation und oftmals knappen personellen und materiellen Ressourcen, die Führungskräfte auf allen Ebenen in hohem Maße beansprucht. Darüber hinaus müssen sich Führungskräfte jedoch auch den klar formulierten vielfältigen Erwartungen der Mitarbeitenden stellen. Nicht zuletzt muss Führungshandeln den Blick nach vorne richten und einen Beitrag im Sinne von Gestaltung und Entwicklung bei Personal und Organisation leisten. Eine kreative und ambitionierte Auflösung des von Führungskräften gesehenen zeitlichen Dilemmas reiht sich nahtlos in die Herausforderungen im polizeilichen Führungsalltag ein.
Wenn man Führungskräfte direkt nach ihren aktuellen Herausforderungen im Führungsalltag fragt, dann werden insbesondere die folgenden genannt5:
• Im Bereich der Arbeits- und Rahmenbedingungen wird durch Führungskräfte vornehmlich die zunehmende quantitative Arbeitsbelastung problematisiert. Dafür werden vor allem geringe Personalressourcen in Kombination mit einer hohen Arbeitsdichte, zunehmender Bürokratie, Informationsüberflutung und der Übernahme sachfremder Aufgaben etc. verantwortlich gemacht. Die quantitative Arbeitsbelastung wird von Führungskräften zum einen deshalb als nachhaltige Beeinträchtigung empfunden, weil dadurch vielfach keine oder zumindest nicht hinreichend Zeit für die Mitarbeiterführung bleibe. Zum anderen führe diese hohe Arbeitsdichte auf Seiten der Mitarbeitenden (und Führungskräfte) zu Unzufriedenheit, Motivationsverlusten, Personalfluktuation und erhöhten gesundheitlichen Risiken wie z. B. Burnout, Depression und Ängsten. Hier sehen sich viele Führungskräfte in der Verantwortung und suchen nach Mitteln und Wegen, die zunehmende quantitative Arbeitsbelastung zu bremsen bzw. die daraus resultierenden negativen Konsequenzen möglichst zu minimieren oder zu kompensieren. Dies stellt für Viele in der Praxis (nicht zuletzt aufgrund der begrenzten Entscheidungsspielräume) jedoch ein schwierig zu lösendes Problem dar.
• Darüber hinaus schildern viele Führungskräfte eine zunehmende qualitative Arbeitsbelastung, die im Wesentlichen mit permanent steigenden Qualitätsanforderungen, der zunehmenden Digitalisierung sowie einer komplexen und dynamischen Sicherheitslage zusammenhängt. Führungskräfte sehen sich selbst und ihre Mitarbeitenden dabei einer hohen Erwartungs- und Anspruchshaltung von Seiten der Gesellschaft, der Politik, der Justiz, aber auch von Seiten höherer Führungskräfte innerhalb der Polizei ausgesetzt. Dies führt nach Einschätzung vieler Führungskräfte bei Vorgesetzten und Mitarbeitenden oftmals zu einem Gefühl der (qualitativen) Überforderung.
• Trotz der steigenden Herausforderungen und der vielfältigen Belastungen auf der einen Seite, schwindet auf der anderen Seite bei vielen “gefühlt” die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung bei gleichzeitiger Zunahme von Kritik an der Polizei. In Kombination mit einer oftmals als ungerecht empfundenen Beförderungspraxis stellt es für viele Führungskräfte vor diesem Hintergrund eine große Herausforderung dar, daraus resultierende Unzufriedenheiten, Motivationsverluste bzw. Gratifikationskrisen auf Seiten der Mitarbeitenden zu reduzieren bzw. zu kompensieren.
• Als besonders belastend werden darüber hinaus Auseinandersetzungen mit subjektiv als „schwierig“ empfundenen Mitarbeitenden erlebt. In diese Kategorie fallen aus Sicht der Führungskräfte insbesondere Mitarbeitende, die sich nicht an die Regeln halten und bei denen sich eine Unzufriedenheit chronifiziert hat. Die Auseinandersetzung mit diesen Mitarbeitenden erfordert u.a. das Führen von Korrektur- und Kritikgesprächen sowie letztlich das Androhen und Umsetzen von negativen Konsequenzen. Die Wahrnehmung dieser Führungsaufgaben stellt zum einen eine große psychische Belastung für viele Führungskräfte dar. Zum anderen wird jedoch auch oftmals beklagt, dass den Führungskräften subjektiv kaum effektive Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stünden, was eine aus Sicht der Führungskräfte erfolgreiche Auseinandersetzung mit diesen Mitarbeitenden zusätzlich erschwert. Hinzu tritt hier gelegentlich die Problematik der Klarheit über den eigenen Auftrag bzw. die eigene Rolle der Vorgesetzten. Nicht selten streben sie danach, Teil der „Mannschaft“ zu sein, werden aber von ihren Vorgesetzten berechtigterweise als Teil der Leitung gesehen. Aus dieser „Sandwich-Position“ heraus erwachsen nicht selten Dilemmata bei der Aufgabenwahrnehmung, insb. wenn es um konsequentes Handeln oder erforderliche Unterstützungsmaßnahmen geht. Daraus mehren sich häufig die Konflikte, die eigentlich gelöst werden sollt...