Die deformierte Gesellschaft
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Die deformierte Gesellschaft

Meinhard Miegel

  1. 304 Seiten
  2. German
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Die deformierte Gesellschaft

Meinhard Miegel

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Der Spiegel, den Meinhard Miegel hier der deutschen Gesellschaft vorhält, ist kein schmeichelnder. Schonungslos nimmt sich Deutschlands unbequemster Soziologe hier den Mythos vom fleißigen und strebsamen Deutschen vor und entlarvt ihn als Selbslüge. Mit einem analytischen Blick auf die Bereiche Demografie, Sozialstaat, Wirtschaft und Beschäftigung benennt Miegel die größten Probleme Deutschlands, von Überalterung bis Innovationsmangel. Viele der Probleme seien schon seit langem bekannt, doch würden die meisten lieber ihre Augen davor verschließen. Diese freiwillige Ignoranz sucht Miegel hier zu durchbrechen und hat damit ein schonungsloses und alarmierendes Buch geschaffen, das seine Leser animiert, die deutsche Gesellschaft neu zu denken.-

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Information

Jahr
2022
ISBN
9788728328460

WIRTSCHAFT UND BESCHÄFTIGUNG IM UMBRUCH

Massenarmut bis Mitte des 20. Jahrhunderts

Niemand kann heute eine auch nur ungefähr zutreffende Vorstellung davon haben, wie es sich in Deutschland vor der großen Bevölkerungsexplosion gegen Ende des 18. Jahrhunderts lebte, als das Land erst ein Sechstel seiner gegenwärtigen Bevölkerungsdichte aufwies und jeder Zweite noch keine achtzehn Jahre alt war. Alle, die um 1950 schon bei wachem Bewusstsein waren, können sich hingegen an die Zeit vor der großen Wohlstandsexplosion erinnern, als die Erwerbsbevölkerung in einer 48-Stunden-Woche bei zwei Wochen Jahresurlaub einen Lebensstandard erwirtschaftete, der im Durchschnitt weit unterhalb des derzeitigen Sozialhilfeniveaus lag.
Die heute ältere Generation ist in ihrer großen Mehrheit noch unter wirtschaftlichen Bedingungen aufgewachsen, die nach geltenden Maßstäben nur als kümmerlich angesehen werden können. Millionen von Menschen litten existenzielle Not. In Deutschland war das zum Teil kriegsbedingt. Grundlegend besser waren die Verhältnisse aber auch in den meisten anderen Ländern nicht. Selbst in den reichsten waren nur Minderheiten nach heutigem Verständnis wohlhabend. Die Masse war arm. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts galt für die Bevölkerung Deutschlands wie vieler anderer früh industrialisierter Länder noch immer, was der Soziologe Werner Sombart schon zum Jahrhundertbeginn festgestellt hatte: Sie bildete eine arme Bettelsuppe, auf der ein paar Fettaugen schwammen. 27
Dabei hatte sich die Wirtschaft dank der zügig voranschreitenden Industrialisierung während des ganzen 19. Jahrhunderts dynamisch entwickelt. Das Einkommen aus Erwerbsarbeit, Unternehmertätigkeit und Vermögen, also das Volkseinkommen, dürfte sich in diesem Zeitraum real knapp versechsfacht haben. Da sich aber gleichzeitig die Bevölkerungszahl auf das Zweieinhalbfache erhöhte, blieb für den Einzelnen nicht viel von diesem Wachstum. Aus seiner Sicht stieg das Volkseinkommen in hundert Jahren nur auf gut das Doppelte. 28 Das entspricht einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 0,8 Prozent – ein Sechstel dessen, was in den neunziger Jahren in den Entwicklungsländern im Durchschnitt erzielt wurde. 29
Noch schleppender verlief die Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde das Wirtschaftswachstum in fast allen früh industrialisierten Ländern, einschließlich Deutschlands, durch ein ähnlich rasches Bevölkerungswachstum zum größten Teil wieder aufgezehrt. Wenn sich dennoch der Lebensstandard allmählich verbesserte, dann vor allem, weil sich im Lauf der Zeit ein wenig Vermögenssubstanz, zumeist in Form von Immobilien und Sachvermögen, angesammelt hatte. Die Verbesserungen wurden jedoch durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen weitgehend zunichte gemacht. 1925 war in Deutschland das reale Pro-Kopf-Volkseinkommen gegenüber 1900 um ein Achtel gesunken. Der Lebensstandard der meisten hatte sich verschlechtert.
Erst in den dreißiger Jahren beschleunigte sich die individuelle Vermögensbildung wieder, und das Volkseinkommen stieg spürbar an. 1939, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, war es pro Kopf gut ein Drittel höher als 1900. Der Bevölkerung kam diese Entwicklung jedoch nur in bescheidenem Umfang zugute. Die anschwellende Wirtschaftskraft diente zunehmend Rüstungszwecken. Die Nettoarbeitsentgelte beispielsweise hatten sich gegenüber 1925 nur um ein Fünftel erhöht.
1948, zum Zeitpunkt der Währungsreform, lag das Pro-Kopf-Volkseinkommen schätzungsweise wieder auf dem Niveau von 1925. Da aber im Gegensatz zu damals private Vermögen, namentlich Immobilien und Sachvermögen, sowie öffentliche Einrichtungen zum großen Teil vernichtet waren, war der Lebensstandard der großen Bevölkerungsmehrheit noch wesentlich niedriger als Mitte der zwanziger Jahre. Damit hatte sich in 150 Jahren oder rund sechs Generationen das reale Volkseinkommen pro Kopf und mit ihm der Lebensstandard der Mehrheit nur mäßig verändert. Noch immer beschlossen die meisten ihr Leben, wie sie es begonnen hatten – arm. Die Verbesserungen ihres wirtschaftlichen Status waren so geringfügig, dass sie vom Einzelnen kaum wahrgenommen wurden. Das gilt umso mehr, als die statistisch ausgewiesene Erhöhung des Volkseinkommens in erheblichem Umfang nur auf dem Papier stand. Im Zuge der Industrialisierung wurden nämlich immer mehr Güter und Dienste, die bis dahin in zumeist bäuerlicher Eigenarbeit erbracht worden waren, auf dem Markt erwirtschaftet. Dadurch wurden sie erfass- und messbar, ohne dass sich die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung wirklich verbesserte.

Wohlstandsexplosion

Dieser Befund ist im Blick zu behalten, um Ausmaß und Wirkungen der Wohlstandsexplosion ermessen zu können, die Deutschland sowie weite Teile Europas und der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg von Grund auf umgestaltete. Vielen Zeitzeugen erschien sie wie ein Wunder, und nach allen vorherigen Erfahrungen war sie das auch. Allerdings beschränkte sie sich nicht, wie noch immer manche glauben, auf Deutschland. In diesem kriegszerstörten Land wurden die Veränderungen nur besonders intensiv erlebt. Doch sie fand in allen früh industrialisierten Ländern statt, in einigen, wie Italien, sogar noch stärker als hierzulande. Selbst für die USA begann erst in dieser Zeit der eigentliche wirtschaftliche Aufstieg.
Über die Ursachen dieser Explosion ist viel gesagt, geschrieben und gerätselt worden. Deshalb mag hier die Bemerkung genügen, dass sie insbesondere in ihrer Bündelung ohne geschichtliche Parallele sind und, zumindest in den früh industrialisierten Ländern, vermutlich auch bleiben werden: ein riesiger, ungesättigter Bedarf an lebensnotwendigen oder wenigstens höchst begehrenswerten Gütern und Diensten, eine junge, gut qualifizierte und motivierte Erwerbsbevölkerung, die Wiedereröffnung kriegsbedingt verschlossener Märkte, eine Reihe wichtiger Innovationen, verbesserte Voraussetzungen der Kapitalbildung und des Kapitalflusses, vor allem aber eine außergewöhnliche Aufbruchsstimmung, wie sie nur unter bestimmten historischen Bedingungen, nicht zuletzt nach Kriegen, zu beobachten ist.
Zwei Ursachen sind jedoch gesondert zu erwähnen, weil sie in der Regel unbeachtet bleiben. Die eine war die veränderte Bevölkerungsentwicklung. War das Wirtschaftswachstum bis dahin durch ein fast ebenso dynamisches Bevölkerungswachstum zum erheblichen Teil wieder aufgezehrt worden, so näherten sich nun erstmals die Wachstumsraten der Volkswirtschaft insgesamt den Pro-Kopf-Wachstumsraten an. Dem Einzelnen kam die zunehmende Wirtschaftskraft unmittelbarer zugute als jemals zuvor, und er brauchte sie kaum mit anderen zu teilen. Hieran änderten auch der Nachkriegsbabyboom und die Zuwanderer, die ab 1960 nach Deutschland strömten, nur wenig. Während der ganzen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg die Bevölkerungszahl Deutschlands nur wenig stärker als zwischen 1900 und 1915.
Die zweite herauszuhebende Ursache war die bereits erwähnte Überführung von Schattenwirtschaft in Marktwirtschaft. Krieg und Nachkrieg hatten in weiten Teilen Europas, besonders aber in Deutschland, Teilbereiche der Wirtschaft zurückgleiten lassen in Eigenarbeit, hauswirtschaftliche Tätigkeit oder Nachbarschaftshilfe, aus denen sie im 19. Jahrhundert in die Marktwirtschaft aufgestiegen waren. Viele private Haushalte waren – ähnlich wie in der agrarischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts – wieder ganz oder teilweise zu Selbstversorgern geworden, und die Tauschwirtschaft blühte. Unter Berücksichtigung der Reaktivierung dieser Bereiche für den Markt, die nicht immer gleichbedeutend war mit einer Verbesserung des Lebensstandards, nimmt sich die Wohlstandsexplosion der Nachkriegsjahre nicht ganz so spektakulär aus, wie die Zahlen nahe legen. Sie ist aber immer noch spektakulär genug.
Allein in den anderthalb Jahren von der Währungsreform im Juni 1948 bis zum Jahresende 1949 erhöhte sich in Westdeutschland das Volkseinkommen pro Kopf real um schätzungsweise ein Sechstel. Das war das Dreifache dessen, was auf ungefähr gleichem Niveau in den langen Friedensjahren von 1900 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erreicht worden war. In den fünfziger Jahren stieg das reale Pro-Kopf-Einkommen rasant weiter. Was das Einkommen anging, veränderte sich in diesem einen Jahrzehnt für die Bevölkerung vieler Länder, insbesondere Deutschlands, fast ebenso viel wie in den vorangegangenen 150 Jahren, auch wenn noch einmal hervorzuheben ist, dass dieser Anstieg des Volkseinkommens nicht mit dem Anstieg des Lebensstandards gleichgesetzt werden kann. Letzterer verbesserte sich weniger dramatisch. Dennoch erhöhte er sich in historisch einzigartiger Weise.
Doch schon in den sechziger Jahren gingen die Wachstumsraten wieder zurück. Der Wirtschaftsmotor beschleunigte nicht mehr. Die Detonation vom Ende der vierziger Jahre verhallte, und ihre Schockwellen verebbten. Aber das Wachstum blieb hoch. In absoluten Zahlen stieg das Volkseinkommen pro Kopf real stärker als in den fünfziger Jahren, um insgesamt rund 4090 Euro im Geldwert des Jahres 2000. Nur mäßig abgeschwächt setzte sich dieser Trend bis in die erste Hälfte der siebziger Jahre fort. Entsprechend kräftig erhöhten sich die Einkommen und mit ihnen die Vermögen der Bevölkerung. Zwischen 1950 und 1975 stiegen die durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelte auf mehr als das Dreifache. Die Bruttoarbeitsentgelte und die verfügbaren Einkommen der Haushalte erhöhten sich sogar auf annähernd das Vierfache, was im wesentlichen auf steigende Sozialtransfers und deren Finanzierung zurückzuführen war. So stieg die durchschnittliche Rente in der Arbeiterrentenversicherung – wiederum im Geldwert von 2000 – von durchschnittlich 125 Euro im Jahr 1950 auf 530 Euro im Jahr 1975. Sie erhöhte sich damit stärker als die Arbeitsentgelte.

Rückkehr zur Normalität

In den siebziger Jahren endete diese historisch einzigartige Periode stürmischen Wirtschaftswachstums in Deutschland, der Europäischen Union und anderen früh industrialisierten Regionen der Welt in einer spürbaren Rezession. Politik und Bevölkerung reagierten hierauf wie auf eine unverdiente Heimsuchung. Sie konnten kaum fassen, dass eine klar umrissene historische Phase ihren Abschluss gefunden hatte. Um das kaum Fassbare wenigstens begreiflich zu machen, wurden – wie oft in solchen Situationen – Verschwörungstheorien bemüht. Scheichs und Multis sollten durch eine perfide Erhöhung des Erdölpreises die westlichen Industrieländer ins Stolpern gebracht haben, und manche verinnerlichten diese Geschichte so sehr, dass sie sie auch heute noch gläubig nacherzählen. Sie haben sich offenbar nie die Frage gestellt, warum die Industrieländer nicht wieder Tritt fassten, nachdem der Olpreis auf sein Ausgangsniveau und dann sogar weit darunter gefallen war. Der Preis für Erdöl konnte noch so tief sinken – zu den Wachstumsraten der fünfziger und sechziger Jahre kehrten die Industrieländer nie wieder zurück.
Doch die Politik beschränkte sich nicht auf trotziges Räsonieren. Zugleich stemmte sie sich mit allen Kräften gegen das Einschwenken der Wirtschaft auf einen ruhigeren und beständigeren Wachstumspfad. Unter den Wissenschaftlern fanden jene ein besonders lebhaftes Echo, die sich der Katastrophenstrategien eines John Maynard Keynes erinnerten, der in den dreißiger Jahren unter den Bedingungen einer lang anhaltenden, tiefen und weltweiten Depression dem Staat empfohlen hatte, sich von den Bürgern Geld zu borgen, es auszugeben und so die Wirtschaft anzukurbeln. Zwar konnte in den siebziger Jahren von einer solchen Depression keine Rede sein. Nur in einem einzigen Jahr, 1975, schrumpfte die Güter- und Dienstleistungsmenge. Ansonsten pendelten die Wachstumsraten um real 2,5 Prozent und erreichten einmal sogar 6 Prozent, immer pro Kopf einer zahlenmäßig wachsenden Bevölkerung. Ein derartiges Wachstum erschien vor dem Hintergrund vorangegangener Erfahrungen aber nicht ausreichend.
Der Staat sah sich bemüßigt, durch kreditfinanzierte Konjunkturprogramme die Wirtschaft anzuheizen. Wie viel oder ob er damit überhaupt etwas erreichte, ist bis heute umstritten. Gewiss ist, dass er nicht mehr als Strohfeuer entfachte. Die Wirtschaft reagierte nur kurzfristig. Als die Regierung zu Beginn der achtziger Jahre diesen Kampf gegen Windmühlenflügel aufgab, hatte sie mit ihrer keynesianischen Politik innerhalb von zehn Jahren den Wert der Mark um vierzig Prozent heruntergewirtschaftet und die Staatsschulden, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, von 18,7 Prozent im Jahr 1971 auf 35,5 Prozent im Jahr 1981 annähernd verdoppelt. Dennoch hatte sich die Arbeitslosenquote von 0,9 Prozent auf 4,2 Prozent fast verfünffacht. 30 Helmut Schmidt hatte geglaubt, die Wahl zwischen fünf Prozent Arbeitslosen und fünf Prozent Inflation zu haben. Doch die hatte er nie.
Zur Wahl stand nur, das Ende atypischer Wachstumsbedingungen anzuerkennen oder den kostenintensiven und letztlich untauglichen Versuch zu unternehmen, dieses Ende hinauszuzögern. Entschuldigend ist anzumerken, dass sich fast alle Regierungen, gleichgültig welchem politischen Lager sie angehörten, ähnlich verhielten und sich auf diese Weise gegenseitig bestärkten. Hätten sie einfallsreicher und zugleich gelassener auf den Rückgang der Wachstumsraten reagiert, die Veränderungen im Bevölkerungsaufbau zur Kenntnis genommen und einen Taschenrechner zu Rate gezogen, wäre den früh industrialisierten Ländern einiges von dem erspart geblieben, worunter sie zum Teil heute noch leiden.
Mit Hilfe eines Taschenrechners wäre beispielsweise offenbar geworden, dass den Trends der unmittelbaren Nachkriegszeit keine Dauerhaftigkeit beschieden sein konnte. Denn wäre das Volkseinkommen im vierten Jahrhundertquartal mit den gleichen Raten wie im dritten gewachsen, betrüge es im heutigen Geldwert pro Kopf der Bevölkerung derzeit nicht 18 300 Euro, sondern 48 000 Euro, also das 2,6fache des tatsächlich Erwirtschafteten. Im Jahr 2001 hätten die Bruttoarbeitsentgelte der abhängig Beschäftigten bei durchschnittlich weit über 77 000 Euro und ihre Nettolöhne bei immerhin noch 49 000 Euro im Jahr und 4090 Euro im Monat gelegen. Unter Berücksichtigung von Transfereinkommen, wie Renten oder Kindergeld, sowie von Kapitaleinkommen, wie Sparzinsen, Dividenden und ähnlichem, stünden gegenwärtig jedem Einwohner Deutschlands im Durchschnitt 43 000 Euro im Jahr zur Verfügung, was sich bei einem dreiköpfigen Haushalt zu mehr als 10 225 Euro im Monat addieren würde.
Das alles ist zwar irgendwie vorstellbar und würde von vielen begrüßt werden. Aber wie realistisch ist es? Das Volkseinkommen hätte sich innerhalb von fünfzig Jahren pro Kopf vervierzehnfacht und damit stärker entwickelt als in der gesamten bekannten Menschheitsgeschichte. Wäre nur Deutschland auf diesem Wachstumspfad vorangeschritten, würde es den Rest der Welt heute turmhoch überragen. Mit einem Drittel der Bevölkerung und auf einem Sechsundzwanzigstel des Territoriums der USA würde ein Volkseinkommen erwirtschaftet, das bei etwa zwei Dritteln des US-amerikanischen läge. Und wären alle anderen früh industrialisierten Länder diesen Pfad mitgegangen, hätten sich entweder die Wirtschaftsstrukturen weltweit radikal verändern müssen, oder die Welt stünde jetzt vor gänzlich unlösbaren Umweltund Ressourcenproblemen.
Doch angenommen, alle diese Probleme wären lösbar gewesen: Irgendwann hätte der Trend brechen müssen. Würde nämlich die Wirtschaft auch in den nächsten fünfzig Jahren mit den westdeutschen Raten der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wachsen, betrüge im Jahr 2050 das Volkseinkommen pro Kopf 665 000 Euro – im Geldwert von 2000. In der Lohntüte steckten im Durchschnitt 87 000 Euro im Monat, und jeder Bürger, vom Säugling bis zum Greis, könnte monatlich über gut 51 000 Euro verfügen, das heißt fast das Vierzigfache der heutigen Summe.
Alle diese Zahlen sind derart wirklichkeitsfern, dass sie getrost als Spielerei abgetan werden könnten, wenn sich nicht so viele in ihrem Gespinst verfangen hätten und sie das Fühlen, Denken und Handeln von Politik und Öffentlichkeit nicht so nachhaltig bestimmen würden. Noch immer wird den Wachstumsraten und Beschäftigungsbedingungen des dritten Jahrhundertquartals nachgetrauert, und zumindest in der Öffentlichkeit – am Stammtisch nimmt sich die Welt meist freundlicher aus – ist des Jammerns kein Ende. Mit Wachstumsraten, wie sie in den zurückliegenden 25 Jahren in Deutschland, Europa und weiten Teilen der Welt erzielt worden seien, könnten – so wird geklagt – die Arbeitslosigkeit nicht überwunden, die Völker nicht regiert und die Demokratie nicht gewährleistet werden. Die Bedingungen des dritten Jahrhundertquartals sind zum ehernen Maßstab für Erfolg oder Misserfolg geworden. Insbesondere die Deutschen ergehen sich gern in solchen Betrachtungen und sehen den wirtschaftlichen Niedergang ihres Landes zum Greifen nahe. »Vorsprung durch Panik«, spotten die Briten. Den Deutschen aber ist es bitterernst. Nur ändern wollen sie nichts. Jedenfalls nicht wirklich. Dazu haben sie sich im Bestehenden viel zu behaglich eingerichtet.

Reiche Deutsche

Die Oberflächlichkeit, vor allem aber die Folgenlosigkeit, mit der hierzulande Fragen von Wirtschaft und Beschäftigung oft behandelt werden, ist rational erstaunlich und emotional beklemmend. Gedankenlos werden Behauptungen aufgestellt, Theorien verkündet und Forderungen erhoben, die mit der Wirklichkeit unvereinbar sind. West- und Ostdeutsche unterscheiden sich hierin nur mäßig. Statt die Gegenwart anzunehmen, neigen beide dazu, ihre Vergangenheit zu verklären. Nicht wenige Ostdeutsche träumen noch immer von einem Arbeiter- und Bauernstaat, dessen wirtschaftliche und soziologische Wurzeln in Deutschland schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgestorben und auch nicht wiederzubeleben waren. Und viele Westdeutsche haben sich mental in den sechziger und siebziger Jahren verankert, weshalb auch noch am Ende des 20. Jahrhunderts mit deren Beschwörung erfolgreich Wahlkämpfe bestritten werden konnten. Diese rückwärts gewandte Sichtweise ist ein gemeinsames Erbe der Deutschen, das ihnen oft genug den Blick nach vorn versperrt.
Die Zeit ist reif, einige Sachverhalte nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, wobei ein unbefangener Blick auf das vierte Jahrhundertquartal durchaus hilfreich ist. Von 1975 bis 2000 nahm in Westdeutschland das reale Volkseinkommen pro Kopf jährlich um durchschnittlich knapp 1,8 Prozent zu. Damit wuchs es mehr als doppelt so schnell wie während des ganzen 19. Jahrhunderts 31 – dem Jahrhundert der Industrialisierung –, und das auf einem sechsmal so hohen Niveau. Im Geldwert von 2000 stiegen die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte pro Kopf von jährlich etwa 11 040 Euro auf 16 360 Euro. Allein dieser Zuwachs war höher als die Einkommen, die der Bevölkerung pro Kopf Ende der fünfziger Jahre zur Verfügung standen. Schwächer stiegen die Bruttound noch schwächer die Nettoarbeitsentgelte. Doch umso reichlicher sprudelten Transfer- und Vermögenseinkommen.
Deutlich anders verlief die Entwicklung in Ostdeutschland. Von 1975 bis zur Wiedervereinigung wuchs die Wirtschaft extrem langsam. 1991 lag das ostdeutsche Pro-Kopf-Volkseinkommen bei einem Drittel des westdeutschen. Nur neun Jahre später, im Jahr 2000, hatte es jedoch bereits 61 Prozent erreicht. Noch geringer waren die Abstände bei Brutto- und Nettoarbeitsentgelten sowie den verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte.
Diese Wirtschafts- und Einkommensentwicklung schlug sich in den privaten Vermögen und öffentlichen Einrichtungen nieder. Von 1950 bis 2000 versiebenfachten sich in Deutschland die realen Nettovermögen der privaten Haushalte von rund einer Billion Euro auf über 6,6 Billionen Euro, 32 wobei die Ostdeutschen trotz nach wie vor bestehender Unterschiede auch hier zügig aufholen. Während die Westdeutschen im statistischen Mittel pro Kopf über Vermö...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kolophon
  3. Inhalt
  4. Vorbemerkung
  5. DIE DEMOGRAPHISCHE ZEITBOMBE
  6. WIRTSCHAFT UND BESCHÄFTIGUNG IM UMBRUCH
  7. SOZIALSTAAT VOR DEM OFFENBARUNGSEID
  8. Schlussbemerkung
  9. Bibliographie
  10. Danksagung
  11. Über Die deformierte Gesellschaft
  12. Anmerkungen
Zitierstile für Die deformierte Gesellschaft

APA 6 Citation

Miegel, M. (2022). Die deformierte Gesellschaft ([edition unavailable]). SAGA Egmont. Retrieved from https://www.perlego.com/book/3473330/die-deformierte-gesellschaft-pdf (Original work published 2022)

Chicago Citation

Miegel, Meinhard. (2022) 2022. Die Deformierte Gesellschaft. [Edition unavailable]. SAGA Egmont. https://www.perlego.com/book/3473330/die-deformierte-gesellschaft-pdf.

Harvard Citation

Miegel, M. (2022) Die deformierte Gesellschaft. [edition unavailable]. SAGA Egmont. Available at: https://www.perlego.com/book/3473330/die-deformierte-gesellschaft-pdf (Accessed: 15 October 2022).

MLA 7 Citation

Miegel, Meinhard. Die Deformierte Gesellschaft. [edition unavailable]. SAGA Egmont, 2022. Web. 15 Oct. 2022.