Es sind die Traditionen, die ich pflegen möchte.
Damals, als ich in Biel in den Religionsunterricht ging, war die Gemeinde noch aktiver. Ein Lehrer unterrichtete uns jeden Mittwochnachmittag in Hebräisch. Wir waren eine altersgemischte Klasse mit bis zu sechs Kindern. Zu einigen habe ich bis heute Kontakt.
Es lief auch sonst mehr. Mindestens einmal in der Woche gab es etwas in der Synagoge, für die, die hingehen wollten. Heute ist das höchstens noch einmal im Monat der Fall. Ich bin gerne da, um die Leute wieder einmal zu sehen. Früher ging ich öfter, aber seit wir Kinder haben, haben sich meine Prioritäten etwas verschoben.
Es sind die Traditionen, die ich pflegen möchte. Die gängigsten Feste und Feiertage feiern wir zu Hause – oft gemeinsam in der Grossfamilie, das heisst mit meinen Eltern und meiner Schwester mit ihrer Familie.
Koscher essen wir nicht. An gewisse Traditionen halten wir uns. Milch und Fleisch zum Beispiel mischen wir nicht, und wir essen kein Schweinefleisch. Aber Schabbat halten wir nicht wirklich ein. Einige Dinge versuche ich zu befolgen. Ich arbeite zum Beispiel nicht gerne am Schabbat. Wenn ich aber Auto fahre oder Licht mache, ist das in meinem Verständnis keine Arbeit. Grundsätzlich finde ich es gut, einen Ruhetag zu haben. Kiddusch, den Segnungsspruch zur Eröffnung des Schabbats am Freitagabend, machen wir auch ab und zu. Aber eher sporadisch, wenn wir gerade Zeit und Lust haben, nicht jede Woche.
Meine Mutter ist ursprünglich aus dem Jemen. Als sie ein Jahr alt war, kam ihre Familie nach Israel. Mein Vater ist Schweizer und arbeitete zehn Jahre lang in Israel. Sie lernten sich dort kennen und kamen später in die Schweiz. Er konvertierte zum Judentum. Die Sprache konnte er bereits, und er wusste viel über die Religion. Aber klar, der Übertritt ist anspruchsvoll. Die Eltern meiner Mutter hätten es wohl nicht gerne gesehen, wenn sie jemanden geheiratet hätte, der nicht jüdisch ist. Eigentlich hätte es für uns Kinder keine Rolle gespielt, die jüdische Religion wird ja immer von der Mutter- und nicht von der Vaterseite übertragen.
Bis ich sechs Jahre alt war, lebten wir in Niederried bei Kallnach. Das war damals ein 200-Seelen-Dorf mit mehr Kühen als Einwohnern. Für meine Mutter war das wohl ein Schock, und für die Leute war es vielleicht auch ungewohnt. Meine Mutter mit etwas dunklerer Hautfarbe war die Exotin. Das war vor 45 Jahren, heute wäre das vielleicht anders, ich weiss es nicht. Sie hatte es gut mit den Leuten, sie wurde nie ausgegrenzt, es war einfach eine andere Kultur.
Als wir dann in die Nähe von Biel zogen, gingen wir auch da in die Gemeinde und in den Religionsunterricht. Damals hatten wir noch einen Rabbiner, Herr Daum. Das war der letzte Rabbiner der Bieler Gemeinde. Später hatten wir noch einen Chasan, einen Vorbeter, Herr Mandelbaum. Er unterrichtete uns auch.
Meine Mutter hat mit uns immer Hebräisch gesprochen. Mit meiner Schwester habe ich früher auch Hebräisch gesprochen, heute sprechen wir eher Deutsch. Hebräisch sprechen wir nur noch, wenn es die anderen nicht verstehen sollten. Deutsch ist mir natürlich viel geläufiger, vor allem schriftlich, da bin ich im Hebräisch in der dritten Klasse stehen geblieben. Ich lese nicht fliessend und auch nicht oft. Wenn du es nicht anwendest, geht es verloren. Nur die Haggada, die wir in der Familie traditionell an Pessach vorlesen, lese ich jeweils. Auch als Kind war ich nicht so motiviert, meine Mutter musste mich immer dazu anhalten, etwas Hebräisches zu lesen. Ich könnte wieder einmal ein hebräisches Buch lesen.
Wir gingen als Kinder sehr oft nach Israel zu den Grosseltern, fast jedes Jahr während der ganzen Sommerferien. Ein grosser Teil der Familie meiner Mutter lebt dort. Heute fahren wir etwa alle zwei Jahre hin. In der Regel besuchen wir Verwandte, mieten aber eine Wohnung am Meer, meistens in Tel Aviv. Das ist praktisch mit den Kindern, du kannst baden, und auch Einkaufsmöglichkeiten gibt es in der Nähe. Letztes Mal hatten wir eine coole Wohnung, etwa drei Minuten zu Fuss vom Meer. Das war wirklich genial. Mit Kindern mag ich es, wenn es praktisch ist.
Im Herbst ist die beste Zeit, um nach Israel zu gehen. Dann ist es hier ein bisschen kühler und dort immer noch knapp dreissig Grad warm. Im Sommer ist es sehr heiss. Als Kinder störte uns das nicht. Ich besuche sehr gerne das Tote Meer. Die Mineralien sind gesund für die Haut. Das Rote Meer ist auch schön, aber eben sehr heiss im Sommer. Mir scheint, die Leute sind in Eilat am Roten Meer ruhiger als in Tel Aviv, ich kam mir fast ein bisschen vor wie in der Schweiz. In Tel Aviv hupen alle, wenn du mit dem Auto an der Ampel nicht gleich losfährst.
Am liebsten machte ich jeweils Rundreisen kombiniert mit Badeferien in Eigenregie, aber mit Kindern ist das zu hektisch. Kinder brauchen keine unterschiedlichen Orte. Du kannst mit ihnen an den Strand gehen, ihnen ein «Kübeli» und ein «Schüfeli» geben und dann sind sie happy. Wir könnten auch an den Bielersee fahren. Das Meer ist aber schon sehr schön für Kinder. Wir haben sie jeweils fast nicht mehr aus dem Wasser gebracht.
Ich habe viele Freunde aus der Kindheit in Israel. Mein bester Freund lebte ein Stockwerk unter meinen Grosseltern, und wir verbrachten die ganzen Sommerferien zusammen. Jetzt treffen wir uns mit unseren Familien in Israel. Das ist schön. Sie waren auch schon bei uns. Eine andere Kollegin in Tel Aviv kommt ursprünglich aus Orpund. In Amerika lernte sie einen Israeli kennen und zog mit ihm nach Israel. Jetzt treffen wir sie dort mit ihrer Familie.
Viele Junge aus der Region Biel sind in grössere Städte gezogen, viele nach Zürich. Oder sie sind eben auch nach Israel ausgewandert. Es gibt aber auch Israeli, die hierhin gekommen sind. Ich kenne einige Männer, die gekommen sind, weil sie eine Schweizerin geheiratet hatten. In Bern gibt es einen Israeli-Club. Da steht aber nicht die Religion im Vordergrund, sondern einfach das Treffen als Israeli. Der Club organisiert verschiedene Anlässe gerade für Familien mit Kindern.
Wir gehen manchmal nach Biel und manchmal nach Bern in die Gemeinde. Selten ist der Rabbiner aus Bern in Biel, vielleicht zwei Mal im Jahr. Ich weiss nicht mehr, wann es das letzte Mal war. Vielleicht an Chanukka? Zum Teil werden Anlässe auch drei Mal organisiert: in Bern, von der jüdischen Organisation Chabad und in Biel. Dann nimmst du halt einfach das Datum, das dir am besten passt. Du möchtest ja nicht gleich drei Mal feiern.
Als Familie bietet Bern mehr Aktivitäten für uns, es gibt mehr Leute in unserem Alter mit Kindern oder Jugendlichen. Feste wie Chanukka oder Purim sind für sie viel lustiger, wenn es noch andere Kinder hat, die sich verkleiden. In Biel hingegen gibt es nur noch wenige jüdische Kinder und Jugendliche.
Auch für die Kinder selbst gibt es ein grösseres Angebot. Es gibt die Dubim, das ist eine Jugendgruppe, die verschiedene Aktivitäten anbietet, zum Beispiel wöchentliche Treffen, Lager in den Bergen oder auch Reisen nach Israel. Die Nachfrage ist gross. Fürs nächste Lager haben sich über dreissig Kinder angemeldet, alle aus der Region Bern. Diese Berner Jugendgruppen gab es schon zu meiner Zeit, damals bekam man diese Anlässe in Biel aber gar nicht mit.
Meine Tochter geht sehr gerne in den Religionsunterricht in Bern. Die Leiterin ist Israelin, sie macht das sehr gut. Sie lernen Hebräisch lesen und schreiben und auch die Feiertage und Feste. Es ist eine Kombination aus Sprache und Religion. In der Klasse sind alle gleich alt.
Ein Religionsunterricht in Biel wäre für uns logistisch einfacher. Es war einmal Thema, hier eine altersgemischte Klasse anzubieten. Es wären sicher auch sechs Kinder zusammengekommen. Wir haben uns dann aber für Bern entschieden. Es ist etwas aufwendiger, aber dafür lernen die Kinder andere jüdische Gleichaltrige kennen. Eine Sechstklässlerin und ein Erstklässler haben vielleicht nicht so viele Gemeinsamkeiten. Besuchen sie ein Lager, ist es einfacher, wenn sie schon ein paar Kinder kennen. Für die Kleineren gibt es in Bern auch noch eine Spielgruppe, wo sie Lieder singen und so.
In der Bieler Gemeinde sind die Leute älter, und viele in unserem Alter – wobei ich mich da selbst auch an der Nase nehmen muss – gehen nicht so oft in die Synagoge. Viele kommen nur an den vier höchsten Feiertagen. An Rosch ha-Schana und Jom Kippur ist die Synagoge voll. Das ist vielleicht wie an Weihnachten, da besuchen auch mehr Leute die Kirche.
Genau, das Berufliche: Ich habe Informatik studiert und berufsbegleitend einen Executive Master in BWL abgeschlossen. Heute arbeite ich in der SAP-Beratung. ERP, Enterprise Resource Planning, das ist eine Software, mit der du Unternehmen in den Bereichen Finanzen, Immobilien, Logistik und Personalwesen steuerst. Da gilt es zunächst, einen Prozess abzubilden und dann das System so einzustellen, dass es funktioniert. Etwa seit 15 Jahren mache ich das. Mein Büro ist in Bern, aber ich arbeite regelmässig von zu Hause aus. Das geht gut. Meine Frau und ich teilen die Kinderbetreuung unter uns auf.
Nach Israel auszuwandern, war immer ein Traum von mir, vor allem in der Jugendzeit. Vielleicht bin ich da geprägt durch die Sommerferien meiner Kindheit. Ferien sind immer cool. Meine Mutter hat fünf Geschwister und unzählige Cousins und Cousinen. Die Familie dort ist sehr gross, hier ist sie vergleichsweise klein. Nach Israel auszuwandern, überlegen sich wohl viele Juden einmal im Leben. Während des Studiums dachte ich, ich ginge gleich im Anschluss, und dann begann ich zu arbeiten und im Nu waren zwei, drei Jahre vorbei. Ich bekam Jobangebote aus Israel, entschied mich dann aber doch für die Schweiz. In Israel zu arbeiten, ist schwieriger und hektischer als in der Schweiz, habe ich das Gefühl. Hightech ist zwar für israelische Verhältnisse eine gut bezahlte Branche, im Vergleich zur Schweiz verdienst du aber weniger. Und trotzdem kosten in Israel zum Beispiel Essen oder, je nach Region, Immobilien gleich viel wie hier. Ich glaube, auch die Vereinbarung von Job und Familie ist hier einfacher. Ich möchte Zeit mit meinen Kindern verbringen und sie nicht wie in Israel oft üblich jeden Tag in einen Ganon, eine Kinderkrippe, schicken.
Die israelische Mentalität ist ganz anders, Israel lebt. Tel Aviv schläft nie. Die Leute sind herzlicher, haben mehr Lebensfreude. Wenn du in der Schweiz mit jemandem abmachen willst, nehmen beide ihre Agenden hervor. Einen gemeinsamen Termin findest du vielleicht in einem Monat. In Israel ist das ganz anders. Dort rufst du jemanden aus dem Auto aus an: «Du, in fünf Minuten bin ich bei dir.» Die Leute sind sehr direkt, es fühlt sich vielleicht nicht jeder wohl mit dieser ehrlichen, direkten Art. Es ist ein ganz anderes Leben. Mir gefällt die israelische Mentalität sehr. Ferien sind super dort, aber für die Arbeit ist es in der Schweiz einfacher. Klar, wenn ich Multimillionär wäre, würde ich nach Tel Aviv gehen und einfach das Leben geniessen. Ich kann mir gut vorstellen, als Rentner die kalten Monate dort zu überwintern.
Das zweite Argument dagegen, in Israel zu leben, ist die politische Unsicherheit. Du weisst nicht, was morgen geschieht. Im Land selbst hatte ich dieses Gefühl zwar nie so stark, du spürst eine gewisse Spannung, ich hatte aber nie Angst. Es kann dir überall etwas passieren, die Entwicklungen in Europa sind bedenklich. In Israel sind sich die Leute der Gefahr wahrscheinlich bewusster.
Mein Grossvater in Israel ging drei Mal täglich in die Synagoge: morgens um fünf Uhr, am Mittag und am Abend nach der Arbeit. Er las oft den ganzen Nachmittag lang in seinem Siddur, seinem Gebetsbuch. Es war wohl sein Hobby. Seine Söhne haben im Kindergartenalter damit begonnen, die Thora zu lesen. Von allen Seiten sassen sie um das Buch herum und konnten es von jedem Blickwinkel aus lesen. Mein Grossvater drängte mich aber nie, mit ihm zu lesen. Für seine Generation war er sehr weltoffen. Heute bereue ich es, dass mich das Thoralesen damals nicht so interessierte. Aber als Kind willst du einfach mit Freunden draussen spielen. Eigentlich werden in diesen Büchern Themen behandelt, die immer noch ihre Aktualität haben. Heute fände ich das interessant. Aber es ist, wie es ist. Im Nachhinein kenne ich ja auch die Lottozahlen.
Meine Mutter lebt auch in der Schweiz eher traditionell, sie geht oft in die Synagoge. Vielleicht kommt das auch daher, dass sie weg von Israel und in die Diaspora zog. In Israel bekommst du die Feste mit, egal, ob du mitmachst oder nicht. Hier bekämen wir nichts davon mit, wenn wir nicht selbst dazu beitragen würden. Ich finde es schön, wenigstens eine minimale Tradition zu pflegen, ansonsten ginge alles verloren.
Ich habe mich daher auch bewusst dafür entschieden, mit meinen Kindern Hebräisch zu sprechen. Wir fahren regelmässig nach Israel, und ich möchte, dass sie sich mit der Familie und Freunden in Israel verständigen können. Manchmal muss ich mich aber zusammenreissen. Wenn ich ungeduldig oder genervt bin, wechsle ich häufig ins Deutsche. Gerade kürzlich habe ich mir vorgenommen, dabei wieder konsequenter zu sein. Ich will von meinen Kindern nie den Vorwurf hören, ich hätte mit ihnen nicht Hebräisch gesprochen. Wenn schon, dann müssen sie sich selbst an der Nase nehmen.
Da ich fliessend Hebräisch spreche, haben die Israeli meistens das Gefühl, ich sei einheimisch. In den USA meinten lustigerweise viele, ich hätte einen brasilianischen Akzent. Durch das Hebräische kommst du überall auf der Welt sofort in Kontakt mit Leuten. Auch in den jüdischen Gemeinden in Biel und Bern spreche ich gerne Hebräisch.
Ich wählte bewusst einen Beruf, bei dem ich sicher war, einmal Arbeit zu finden. Natürlich ist heute nichts mehr sicher, die Technologie entwickelt sich rasant. Lange habe ich Software entwickelt, da lösten sich neue Technologien in einem Zyklus von sechs Monaten ab, heute passiert das noch schneller. Es sind immer wieder neue Themengebiete, in die du dich einarbeiten musst. Wenn du jung bist, ist das cool, mit zunehmendem Alter hast du aber andere Interessen. Irgendwann habe ich mich entschieden, mich anders zu positionieren und bin in d...