ZugÀnge zu Religion und ReligiositÀt
In seinem Aufsatz ĂŒber die âIdee des Menschenâ weist Max Scheler darauf hin, dass der Mensch nicht ohne weiteres auf eine Definition zu bringen sei: Er sei nicht einfach ânurâ Geistwesen, sondern auch biologische Gattung und Werkzeugwesen â zumal er auch als Geistwesen nicht nur als âVernunftwesenâ, sondern auch als liebendes Wesen, fĂŒhlendes Wesen und als das Hier und Jetzt âtranszendierendeâ Wesen verstanden werden könne (vgl. Scheler 1955, 186). Entsprechend hĂ€lt Scheler fest: âEr hat zu viele Endenâ (ebd., 175). Mit der Religion scheint es sich grundsĂ€tzlich Ă€hnlich zu verhalten: Religion und religiöse Praxis begegnen uns regelmĂ€Ăig in den Nachrichten, in Romanen, Filmen und Musik, in Kirchen oder religiösen Vereinigungen in der eigenen Nachbarschaft, bei FreizeitaktivitĂ€ten wie Meditation oder Yoga, bei Festen wie Weihnachten oder Hochzeiten, als Symbole an Ketten oder gar tĂ€towiert. Obwohl Religion damit in unserer alltĂ€glichen Lebenspraxis nicht gerade unterreprĂ€sentiert ist, fĂ€llt es auch hier keineswegs leicht, die ganze Bandbreite einschlĂ€giger PhĂ€nomene auf eine bĂŒndige Definition von Religion oder ReligiositĂ€t zu bringen. Wie bei vielen anderen philosophischen und wissenschaftlichen Problemen lĂ€sst sich also auch hier sagen, dass sich das SelbstverstĂ€ndliche genauer betrachtet als erstaunlich vielschichtig und kompliziert herausstellt. Entsprechend verwundert es nicht, dass das wissenschaftliche Interesse an Religion und ReligiositĂ€t entgegen des in der Ăffentlichkeit gerne konstatierten âRĂŒckzugsâ der Religion aus dem gesellschaftlichen Leben gröĂer denn je zu sein scheint: So erscheinen jedes Jahr neue Grundlagenwerke, historische Darstellungen und eine kaum zu ĂŒberblickende Anzahl von Arbeiten zu Detailfragen.
Es wĂ€re reichlich viel verlangt, an dieser Stelle wirklich alle möglichen ZugĂ€nge zur Religion darstellen zu wollen. Stattdessen begnĂŒgen wir uns mit einigen Ă€lteren und jĂŒngeren âKlassikernâ und Alternativen. Ein (zumindest im westlichen, monotheistisch geprĂ€gten Kulturkreis) naheliegender Zugang bestĂŒnde zunĂ€chst einmal in der Frage nach Gott und seiner Erkenntnis. In der Tat wurde seit Platon und Aristoteles ĂŒber Thomas von Aquin, Luther, Descartes, Leibniz, Kant, Hegel und Schleiermacher, ferner Nietzsche, Ritschl und Barth bis heute immer wieder ĂŒber begriffliche Bestimmungen Gottes (bzw. des Göttlichen oder Absoluten), sein VerhĂ€ltnis zum Sein der Welt, zum Menschen und zur Geschichte nachgedacht (vgl. Burkert et al. 1974; Zinser et al. 2008). Dabei wurde oftmals angenommen, dass die Vernunft das entscheidende Vermögen zum Begreifen des Göttlichen (und uns Menschen womöglich sogar eben dafĂŒr verliehen) sei.1 Umgekehrt wurden ReligiositĂ€t oder Glauben bis heute immer wieder als bloĂe Erkenntnisakte aufgefasst und als (ungesichertes) âVermutenâ oder âMeinenâ, dass etwas Göttliches existiere oder existieren könnte, einem gesicherten âWissenâ gegenĂŒber gestellt.2
Religion und ReligiositĂ€t erschöpfen sich offenkundig nicht in Erkenntnisakten, sondern gehen auch mit sehr unterschiedlen Erlebnissen, Erfahrungen und GefĂŒhlen einher. Entsprechend kann ein Zugang zu dem gesamten Themenkomplex der Religion auch darin bestehen, derartige âreligiöse Erfahrungenâ zu beschreiben und auszulegen. Dieser Zugang â der im vorliegenden Band eine herausgehobene Rolle spielt â soll in den weiteren Abschnitten dieser Einleitung noch genauer thematisiert werden. Da sich die Diskussion jedoch auf die im 20. Jahrhundert entwickelten AnsĂ€tze beschrĂ€nken wird, sei an dieser Stelle zumindest angemerkt, dass die Erlebnisdimension von Religion bereits vorher eine Rolle spielte: Abgesehen davon, dass sich Denker wie Rudolf Otto gerne auf Friedrich Schleiermachers Ăberlegungen zum GefĂŒhl in den Reden Ăber die Religion oder auch auf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und dessen Begriff des âsensus numinisâ beriefen (Otto 1932, 6), wĂ€re hier an die lange Tradition der Mystik zu erinnern.
Im Laufe des letzten Jahrhunderts sind zu den beiden gerade genannten ZugĂ€ngen zur Religion noch weitere hinzugekommen, die sich auf verschiedene âTatsachenâ berufen: So gab es insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutende Versuche, Religion ausgehend von unserer sozialen und kulturellen Praxis zu thematisieren. Dabei wurden etwa von Ămile Durkheim kollektive Praktiken der Ekstase untersucht (Durkheim 1981), Ernst Troeltsch entwickelte in seinen berĂŒhmten Soziallehren eine Typologie sozialer Gruppierungen innerhalb der Kirche (Troeltsch 1912) und Wilhelm Dilthey stellte sich die Frage, inwiefern sich Religionen und Weltanschauungen im geistigen Leben einer Epoche ausdrĂŒcken oder sich auf andere Bereiche des geschichtlichen Lebens auswirken (Dilthey 1911).3 Besonders wirkmĂ€chtig waren auch Max Webers Untersuchungen zu den Wechselwirkungen von Religion einerseits und gesellschaftlichen Prozessen sowie der wirtschaftlichen Ordnung des Kapitalismus andererseits, woraus Kategorien wie âRationalisierungâ, âBĂŒrokratisierungâ und âEntzauberungâ hervorgingen (Weber 1920/1921; Weber 1972).4 Zuletzt haben im Laufe der letzten Jahrzehnte insbesondere die von Karl Jaspers geprĂ€gte Rede von den âAchsenzeitâ (Jaspers 1957, 14â32) sowie das Narrativ der SĂ€kularisierung Karriere gemacht.5
Obwohl man vermutlich all diesen Denkern und ihren Kategorien bzw. âNarrativenâ heute aus der Perspektive historischer Quellenanalyse oder vergleichender Kulturforschung die eine oder andere Einseitigkeit attestieren kann, ist dabei doch ziemlich unstrittig, dass diese Kategorien nach wie vor einen wichtigen Beitrag zum inter- und transdisziplinĂ€ren Austausch leisten, indem sie Ausgangspunkte anbieten, von denen aus die hoch spezialisierten Disziplinen miteinander ins GesprĂ€ch kommen können.6 ErgĂ€nzt werden die Diskurse rund um die âgroĂenâ Narrative durch Fachdebatten wie beispielsweise die interdisziplinĂ€re Ritualforschung (vgl. Stollberg-Rilinger 2013) â ganz zu schweigen von zahlreichen Einzelstudien aus der Religions- und Kirchengeschichte (vgl. u. a. Angenendt 2004).
Eine weitere Möglichkeit, sich der Religionspraxis ausgehend von âTatsachenâ zu nĂ€hern, besteht in einer Analyse der Sprache. Hier lieĂe sich beispielsweise aus der Perspektive einer Sprachphilosophie untersuchen, was sich im Bereich der Religionspraxis oder -theorie sinnvoll sagen lĂ€sst, inwiefern sich die Bedeutungen der AusdrĂŒcke von anderen Formen des Sprechens unterscheiden (z. B. alltĂ€glichen oder wissenschaftlichen) bzw. welche âSprachspieleâ (mit Wittgenstein gesprochen) vorkommen (Schneider 2008). Ebenso lieĂe sich aus einer kultur- und sprachwissenschaftl...