1.1 Allgemeine EinfĂŒhrung
ErzĂ€hlt wird fast ĂŒberall: in AlltagsgesprĂ€chen, in Interviews, in Gerichtsverhandlungen, in der Geschichtsschreibung2; in einem weiteren, nicht-verbalen Sinne auch im Film, in der bildenden Kunst, der (Instrumental-)Musik und im Ballett. Die komplexesten Formen des ErzĂ€hlens finden sich im verbalen Medium jedoch in der Literatur. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Text literarischer ErzĂ€hlungen entstand die ErzĂ€hltheorie oder Narratologie, die ihre AnfĂ€nge im russischen Formalismus hat (z. B. Jakobson, TomaĆĄevskij) und nach wichtigen Impulsen durch Bachtin im französischen Strukturalismus (Todorov, Genette), vor allem ab der zweiten HĂ€lfte der 1960er Jahre, weiterentwickelt wurde, wobei sie auch eine enge Verbindung zur Semiotik pflegte (Barthes, Lotman).3 Auch Theorien aus der deutschsprachigen Literaturwissenschaft fanden international Beachtung, insbesondere die von Eberhard LĂ€mmert, Franz K. Stanzel und KĂ€te Hamburger. Mittlerweile gehört die Narratologie zu den Kerngebieten der Literaturwissenschaft.
Seit der zweiten HĂ€lfte der 1980er Jahre sind zahlreiche Forschungsarbeiten entstanden, die eine Neuorientierung der Narratologie bewirkten. Hierzu trug einerseits die Tendenz bei, neben den Texten auch ihre Kontexte in den Blick zu nehmen, andererseits der narrative turn in den Kulturwissenschaften, nach dem auch nicht-literarische Formen der ErzĂ€hlung wie die oben genannten in den Fokus rĂŒckten.4 Heute ist die Narratologie ein weites Forschungsfeld mit einer groĂen DiversitĂ€t an AnsĂ€tzen: So gibt es die feministische bzw. gender-Narratologie5, die kognitive6 und die intermediale7, auĂerdem die diachrone und die historische8 sowie die transkulturelle9 Narratologie. In Abgrenzung von den weitestgehend strukturalistisch bestimmten âKlassikernâ der ErzĂ€hltheorie ist auch von einer postklassischen10 Narratologie die Rede.
Wenn die Narratologie in der Kritik steht, dann hĂ€ufig noch immer wegen ihrer ehemals strukturalistischen Ausrichtung, die mit einem UniversalitĂ€tsanspruch einherging, sowie aufgrund der Tatsache, dass die âklassischeâ Narratologie in erster Linie anhand des modernen Romans ab dem 18. Jahrhundert entwickelt wurde. Das AusmaĂ, in dem dieser UniversalitĂ€tsanspruch infrage gestellt wird, variiert jedoch stark â so auch in der Forschung zur vormodernen Literatur Japans. Wo die Narratologie oder sogar westliche Theorie generell aber ganz grundsĂ€tzlich abgelehnt wird, erfolgt erst gar keine BeschĂ€ftigung mit ihr, auf deren Grundlage ein fundiertes Urteil gebildet werden könnte. Mitani Kuniaki hatte 1998 die GrĂŒndung einer eigenen Narratologie ausgerufen, die auf japanischen Texten basiere; dennoch verweist er gelegentlich auf westliche Theoretiker und verwendet Kategorien wie die âfreie indirekte Redeâ (er kommt sogar zu dem fragwĂŒrdigen Schluss, diese habe es in Japan nur in der Vormoderne gegeben; s. Kap. 3.2). So hat es zwar pauschale Kritik an der Narratologie als solcher gegeben, aber kaum an bestimmten Modellen oder Kategorien â bis Jinno Hidenori 2016 die Kategorie der grammatischen Person, die in narratologischen Typologien traditionell eine groĂe Rolle spielt, fĂŒr das Japanische zurĂŒckgewiesen hat (s. Kap. 4.1.2).
Systematischere Anwendung haben Modelle der westlichen Narratologie in der internationalen Japanologie erfahren. WĂ€hrend zwar die US-amerikanische Japanologie, die auĂerhalb Japans die meisten Arbeiten zur vormodernen Literatur hervorbringt, derzeit wenig Interesse an der Narratologie zeigt, sind in den letzten Jahren einige deutsch- und englischsprachige Studien mit narratologischem Schwerpunkt entstanden.11 Doch obwohl kommentiert wurde, dass die Auseinandersetzung mit japanischen Texten Schwachpunkte narratologischer Theorien offenlegen könne12 sowie dass die Theorien gegebenenfalls modifiziert und ergĂ€nzt werden mĂŒssten,13 stehen solche japanologischen BeitrĂ€ge zur âallgemeinenâ Narratologie bislang noch aus.14 Dies mag als Hinweis darauf gesehen werden, dass die grundlegenden narratologischen Kategorien tatsĂ€chlich universal sind. Allerdings verstanden sich bisherige narratologische Untersuchungen in der Japanologie vor allem als Textstudien und weniger als TheoriebeitrĂ€ge.15 Auch wenn es in den letzten Jahren hiervon einige Ausnahmen gegeben hat,16 stellt eine umfassende ĂberprĂŒfung narratologischer Kategorien anhand der japanischen Literatur noch immer ein Desiderat dar.17
Dabei ist zu bedenken, dass die moderne Literatur Ostasiens wesentlich durch die westliche geprĂ€gt ist. Wie sich der chinesische Schriftsteller Lu Xun éŻèż
(1881â1936) narrative Techniken des spĂ€ten 19. Jahrhunderts wie Wechsel der ErzĂ€hlperspektive durchs Ăbersetzen aneignete,18 hatte sich zuvor auch Tsubouchi ShĆyĆ ćȘć
éé„ (1859â1935), der mit ShĆsetsu shinzui ć°èȘŹç„é« (âDas Wesen des Romansâ, 1885) die erste japanische Romantheorie vorlegte, der englischen Literatur durchs Ăbersetzen genĂ€hert, und Futabatei Shimei äșèäșćèż· (1864â1909), dessen unvollendet gebliebenes Werk Ukigumo æ”źéČ (âTreibende Wolkenâ, 1887) als erster moderner Roman Japans gilt, ĂŒbersetzte Texte russischer Realisten. So nĂ€herte sich die japanische Literatur allmĂ€hlich den westlichen Litraturen an, auch wenn sich nie ein schlagartiger Bruch vollzogen hat, der sich auf ein bestimmtes Jahr datieren lieĂe.19 âVormoderneâ, in diesem Fall vor allem frĂŒhneuzeitliche, ErzĂ€hlformen wirkten fort und wurden auch nach langer Zeit noch von Autoren wie Inoue Hisashi äșäžăČăă (1934â2010) explizit aufgegriffen.20 Doch auch wenn es keinen plötzlichen Bruch mit der âVormoderneâ gegeben hat, ist der westliche Einfluss auf die moderne japanische Literatur unĂŒbersehbar. Hinsichtlich ihrer Implikationen fĂŒr das ErzĂ€hlen sind neben der inhaltlichen und stilistischen Neuorientierung auch die durch den Kontakt mit europĂ€ischen Sprachen herbeigefĂŒhrten Ănderungen im Japanischen nicht zu unterschĂ€tzen (siehe S. 293).
Gegenstand dieses Buches ist die narratologische Beschreibung japanischen ErzĂ€hlens vor dem westlichen Einfluss. Als Ausgangsmaterial wurden Texte des 10. bis 14. Jahrhunderts gewĂ€hlt. Da narratologische Theorien ĂŒberwiegend auf moderne, westliche Werke bezogen sind, ergibt sich notwendigerweise ein kontrastiver Ansatz. Doch auch diese scheinbar âdoppelteâ, kulturelle und historische, AlteritĂ€t erfordert es nicht, grundlegende narratologische Kategorien zu ersetzen. SelbstverstĂ€ndlich ist die Modifikation klassischer Modelle wie der von GĂ©rard Genette erforderlich, das wĂ€re sie allerdings auch bei der Anwendung auf moderne westliche Literatur, denn die âklassischenâ Modelle sind keineswegs frei von WidersprĂŒchen. Auch wenn die strukturalistischen Modelle keine universale GĂŒltigkeit behaupten können, ist es der neueren kognitiv-linguistischen Forschung gelungen, Grundkonstanten des ErzĂ€hlens aufzuzeigen â in der Form komplexer Theorien statt vereinfachender Typologien.21 Das Ziel dieser Studie ist daher vornehmlich, narratologische Grundkonstanten hinsichtlich ihrer Rolle im vormodernen japanischen ErzĂ€hlen zu kontextualisieren. Damit soll ebenso ein Beitrag zur Narratologie geleistet werden wie auch ein reflektierterer Umgang mit narratologischer Methodik innerhalb der Japanologie ermöglicht werden. Durch die ausfĂŒhrliche Kritik der bisherigen Forschungsliteratur soll dieses Buch weiterhin zu einem besseren VerstĂ€ndnis der Terminologie der japanischen Literaturwissenschaft (kokubungaku ćœæćŠ)22 beitragen.
Nachdem Charakteristika vormodernen japanischen ErzÀhlens herausgearbeitet wurden, zeigt sich, dass einige von ihnen auch heute noch eine gewisse Relevanz besitzen. Dazu gehört auch die in den Kapiteln 3.5.2 und 4.1 behandelte Unbestimmtheit japanischen Er...