Gerechter Entscheiden
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Gerechter Entscheiden

Jenseits von Steinzeitgerechtigkeit, Fake News, alten und neuen Dogmen

  1. 206 Seiten
  2. German
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Gerechter Entscheiden

Jenseits von Steinzeitgerechtigkeit, Fake News, alten und neuen Dogmen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Justice is regarded as being the crucial yardstick for human behaviour. There is consequently an expectation or a demand that decisions should be taken fairly and justly in the widest variety of contexts in professional and private life, as well as in relation to social responsibilities. The same facts should not be measured by different standards; no one should be discriminated against because of natural characteristics such as race, gender or appearance; fundamental human rights should be recognized unreservedly all over the world; and in the spirit of intergenerational justice, we should behave in a sustainable fashion and not live at the expense of later generations. This volume initially demonstrates that we are only able to live up to such requirements to a limited extent, and shows how the contradictions involved come about. Major reasons for this include using standards of justice that go back as far as the Stone Age, inadequate knowledge of economic and social interrelationships, and also one-sided information. In addition, it is only rarely that an individual=s own understanding of justice is concretely articulated, and this stands in the way of consistent argumentation from the outset. In conclusion, on the basis of the available scientific findings, this monograph outlines ways of overcoming the contradictions mentioned and arriving at more just decisions.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783170391192
Auflage
1

1 Einführung und Überblick

1.1 Anspruch und Wirklichkeit

Unser Gerechtigkeitsempfinden könnte veraltet sein.1 (Yuval Noah Harari, Historiker)
Gerechtigkeit ist ein zentraler Wert menschlichen Zusammenlebens und häufiger Gegenstand privater und öffentlicher Debatten. Gerechtigkeit taucht in verschiedenen Kontexten als Leitlinie auf: Soziale Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit und Generationengerechtigkeit werden gefordert; Nichtdiskriminierung von bestimmten Personengruppen und entsprechend der Schutz von Minderheiten, Chancengerechtigkeit sowie Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe sind weitere »Gerechtigkeitsterrains«. Im Zeichen der Globalisierung wird zunehmend die Forderung nach globaler Gerechtigkeit erhoben. Aber es sind nicht nur die »großen« politischen Fragen, die zu beantworten sind. Auch im beruflichen und privaten Kontext muss beurteilt werden, wie z. B. Entgelt, Lob, Tadel etc. zu bemessen sind. Oder: Wie können wir uns im täglichen Leben als Konsumenten »fair« gegenüber denen verhalten, die irgendwo auf der Welt zum Teil unter ausbeuterischen Bedingungen unsere Kleidung, unsere Smartphones etc. herstellen. Was kann Klimagerechtigkeit für uns im täglichen Leben bedeuten?
Als Bürger, als Inhaber beruflicher Positionen, als Vertreter von Organisationen und erst recht als Politiker sind wir gefordert, uns zu verschiedenen Gerechtigkeitsfragen eine Meinung zu bilden und Stellung zu beziehen. Ohne Zweifel gibt es bei Gerechtigkeitsthemen nicht »die richtige« Lösung, »das richtige« Urteil. Wie wir in diesem Buch noch ausführlich erläutern werden, basieren solche Bewertungen letztlich immer auf Werturteilen, die nicht von allen Menschen gleichermaßen geteilt werden. Unabhängig von spezifischen Gerechtigkeitsvorstellungen gilt es allerdings zu beachten: In einer aufgeklärten Welt gibt es durchaus bestimmte Ansprüche an unsere Urteile und Handlungen in Sachen Gerechtigkeit. So z. B. sollten gleiche Sachverhalte nicht mit mehrerlei Maß gemessen werden. Unsere Gerechtigkeitsvorstellungen sollten nicht auf Dogmen – egal ob religiös oder sonst wie motiviert – beruhen. Bestimmte Mindestanforderungen wie die Einhaltung von Menschenrechten und der Schutz der Menschenwürde sollten unseren Entscheiden zugrunde liegen. Wenn man es mit globaler Gerechtigkeit ernst meint, dann dürfen Gerechtigkeitsüberlegungen nicht an der nationalen oder an der europäischen Grenze jäh aufhören. Indiskutabel ist sicher auch, wenn Gerechtigkeitspositionen beim eigenen Handeln keine Berücksichtigung finden. Und schließlich: Wenn wir uns ehrlich für ein Mehr an Gerechtigkeit einsetzen wollen, dann kommt uns eine Umsetzungsverantwortung zu. »Virtue Signalling« per Mausklick, reines Moralisieren oder wenig effizientes Engagement wären nicht bzw. wenig konsistent mit diesem Anspruch.
Wie ist es tatsächlich um unsere Entscheidungen und Handlungen in puncto Gerechtigkeit bestellt? Eine zentrale These dieses Buches ist, dass unsere Ansprüche und reales Verhalten oft weit auseinanderklaffen. Die zentralen Aspekte lassen sich wie folgt charakterisieren:

Wir messen mit mehrerlei Maß

Es ist uns ein Anliegen, nicht mit mehrerlei Maß zu messen. Unter sonst gleichen Umständen sollten Personen oder Sachverhalte nicht unterschiedlich beurteilt werden. Allseits bekannt ist, dass im Sport die eigene Mannschaft bei Niederlagen tendenziell immer die bessere war und eher Pech hatte oder ein schlechter Schiedsrichter die Ursache waren. Solche und ähnliche verzerrte Urteile lassen sich leicht in die Kategorien »harmlos« oder »allzu menschlich« einordnen. Nicht harmlos sind allerdings Beispiele wie das Folgende: Ärzte und Ärztinnen behandeln ihnen weniger sympathische oder weniger attraktive Patienten signifikant kürzer als ihnen sympathische bzw. ansehnliche. Weltweite Studien zeigen übereinstimmend diese Tatsache und weisen auf die gesundheitlichen Konsequenzen für die Betroffenen hin. Ein anderes Beispiel: Wie ein Politmagazin berichtete, waren bestimmte »Heuschrecken« bzw. Finanzinvestoren wegen Ihres Geschäftsgebarens im Visier einer großen Gewerkschaft. Die gleiche Gewerkschaft bot ihren Mitgliedern eine private Rentenversicherung mit überdurchschnittlicher Rendite an. Die hohe Rendite wiederum basiert auf einem Fonds, den genau jene Heuschrecken aufgelegt haben. Die Liste von Beispielen, bei denen wir – oft unbemerkt – mit zweierlei Maß messen, lässt sich beliebig erweitern. Diskriminierung von Menschen wegen bestimmter unveränderbarer Eigenschaften wie Alter, Behinderung, Hautfarbe etc. ist bei uns verpönt und entsprechende Gesetze wurden geschaffen. Es gibt allerdings auch unveränderbare Eigenschaften, nach denen Menschen eklatant und durchaus gesetzlich erlaubt diskriminiert werden – wie z. B. soziale Herkunft und Attraktivität. Attraktive Menschen werden im alltäglichen Umgang, in den verschiedenen Ausbildungsstufen oder schließlich im Berufsleben klar bevorzugt; im Durchschnitt – so zeigen Ergebnisse über akademische Berufe, bei denen Schönheit nicht Teil der »Job Description« ist – verdienen ansehnliche Menschen in akademischen Berufen über ihre Lebenszeit im Durchschnitt über hunderttausende von Euros mehr als weniger ansehnliche.2 Mit mehrerlei Maß messen wir auch bei Geflüchteten. Moralphilosophen wie Peter Singer stellen fest, dass wir bestimmte Geflüchtete bevorzugen – nämlich die, die es bis nach Europa schaffen oder die, von denen die »Gefahr ausgeht«, dass sie sich auf den Weg machen. Andere, die keine Chance haben, zu uns zu kommen, erhalten viel weniger oder schlicht nichts.3

Wir tragen zur weltweiten Verletzung von Menschenrechten bei

Die Einhaltung von Menschenrechten ist sozusagen ein Mindestmaß an Gerechtigkeit, das wir fordern. Wir propagieren den Schutz dieser Rechte und wollen uns nicht an Verstößen beteiligen. Uns ist es vielleicht nicht bewusst, aber: Als Teil einer globalen Welt tragen wir zur Verletzung grundlegender Menschenrechte bei. Unser Anspruch ist es, z. B. Ausbeutung, Kinderarbeit und Versklavung nicht zu unterstützen. Als Aktionäre beteiligen wir uns an internationalen, aber auch nationalen Unternehmen, die genau jene Untaten in Verbindung mit Lieferanten oder manches sogar direkt veranlassen. Rund ein Viertel der börsennotierten Unternehmen »mischt« direkt oder indirekt bei eklatanten Verstößen gegen Menschenrechte mit. Über unsere Vermögensanlagen wie Renten oder Lebensversicherungen sind wir selbst als Kleinbürger an solchen Geschäften beteiligt. Dieses Phänomen gibt es nicht erst durch moderne, globale Kapitalmärkte. Historiker wie Yuval Noah Harari weisen auf viele Beispiele hin, bei denen Kriegszüge oder der Sklavenhandel der europäischen Staaten nicht ohne die Finanzierung durch »ehrbare« Bürger Europas zustande gekommen wären.4 Und als Konsumenten sind wir selbst bei geringen Mehrkosten nicht bereit, Produkte zu kaufen, die nachweislich den Vorzug haben, dass sie nicht unter Ausbeutungsbedingungen hergestellt werden – ganz zu schweigen davon, dass sich die wenigsten die Mühe machen, die Herstellungsbedingungen zu recherchieren.
Wegen des grundlegenden Werts der Menschenwürde dürfen Menschenleben nicht gegeneinander abgewogen werden. Eine Passagiermaschine, die durch Terroristen über einer Stadt zum Absturz gebracht werden soll, darf nicht abgeschossen werden. 200 Menschen im Flugzeug dürfen nicht mit Zehntausenden aufgewogen werden.5 Deutschland ist z. B. der viertgrößte Produzent von Rüstungsgütern weltweit. Dadurch werden in Deutschland Arbeitsplätze gesichert; gleichzeitig ist bekannt, dass diese Waffen oft in Abnahmeländer gehen, die die Menschenrechte nicht einhalten und die diese Waffen in Kriegen gegen die Zivilbevölkerung einsetzen. So z. B. setzte Saudi-Arabien Tornados und Eurofighter im Jemen bei Bombardements ein, bei denen auch zivile Ziele bombardiert wurden.6 Zusätzlich landet – auch das ist im Vorfeld von manchen Waffengeschäften ersichtlich – ein Teil der Waffen in den Händen von Terrororganisationen. Menschenleben sind zudem anscheinend unterschiedlich wertvoll. So erhielten z. B. afghanische Bürger, deren Familien versehentlich bei einem Angriff durch westliche Streitkräfte getötet wurden und die wegen des Verlusts bei Gericht klagten, wenige hundert Euro pro Person. In Europa oder den USA werden allein schon bei Unfällen, die ein Fingerglied untauglich machen, mehrere Tausend Euro bezahlt. Die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in den Ländern erklären diesen horrenden Unterschied nicht alleine; es ist auch schlicht der Wert, den wir dem Leben und der Gesundheit von Menschen in anderen Ländern beimessen, der den Unterschied ausmacht.

Von den selbstauferlegten Gerechtigkeitszielen in Sachen Ökologie sind wir weit entfernt

Zum Thema Gerechtigkeit gehört die Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen. Unabhängig davon wie man ökologische Nachhaltigkeit genau definiert – über CO2-Ausstoß, Energieverbrauch, Raubbau an Ressourcen etc. – unsere Gerechtigkeitsbilanz sieht hier negativ aus. In den westlichen Industrieländern verbrauchen wir weiterhin mehrere Erden und leben auf Kosten ärmerer Länder und nachfolgender Generationen. Unwissen über die reale Situation ist weit verbreitet und konsistente Konzepte und Handlungen sind nicht immer erkennbar. Wir als Privatpersonen vermelden es z. B. als Erfolg, wenn wir weniger Flugreisen machen, auf Papierservietten verzichten oder ein neues Auto kaufen, welches etwas weniger Benzin verbraucht oder mit elektrischem Antrieb fährt. Allein die Produktion eines neuen Autos verursacht schon mehrere Tonnen CO2. Insgesamt ist unsere CO2-Bilanz horrend schlecht. Etwa 10 Tonnen CO2-Äquivalente entfallen im Schnitt auf einen Bundesbürger pro Jahr; etwa ein Fünftel müsste es sein, damit von deutscher Seite die Klimaziele zur Reduktion der Erderwärmung zu erreichen wären. Manche Aspekte werden in der ökologischen Debatte ausgeblendet: Die weltweite – politisch durchaus sehr positiv betrachtete – Digitalisierung ist ein zentraler Treiber des CO2-Verbrauchs. Neben der CO2-Problematk gibt es noch ganz andere Themenfelder, die bei uns noch kaum im Fokus sind. Die Wassermengen, die zur Gewinnung von Lithiumbatterien notwendig sind und die Veränderungen von Landschaften und Grundwasserspiegeln hervorrufen, schaffen enorme Probleme.7

Wir haben überkommene, unklare und inkonsistente Gerechtigkeitsvorstellungen

Wenn wir selbst Gerechtigkeitsvorstellungen formulieren, dann sollten diese bestimmten Anforderungen genügen. Dogmatische Positionen sind in einer aufgeklärten Welt sicher fehl am Platz; sie finden sich aber zuhauf. Neben religiös motivierten Dogmen finden sich »genug« weitere ideologische bzw. dogmatische Gerechtigkeitspositionen, die vor logischen und/ oder wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht haltbar sind. Verschiedene Ausprägungen der Political Correctness kommen z. B. mit dogmatischen Standpunkten daher. Das Denken in Identitäten und die Einteilung dieser Identitäten in Täter- und Opfergruppen führt zwangsläufig zu Widersprüchen. So ist es dann z. B. nicht verwunderlich, dass bei einer von einer Professorin initiierten Konferenz, bei der prominente Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen über das Tragen von Kopftüchern einen öffentlichen Diskurs führen wollten, islamfreundliche Aktivisten Proteste erhoben.8
Zum Teil absurde Auseinandersetzungen finden sich ebenfalls in anderen Gerechtigkeitskontexten: Ein beliebtes Thema sind Managergehälter. Diese werden als viel zu hoch oder als »unmoralisch« tituliert. Eine Deckelung auf das 30-fache des Einkommens eines Facharbeiters wurde von Gewerkschaftsvertretern als gerecht erachtet. »Warum«, so entgegnete in einer Talkshow der Ökonom Hans-Werner Sinn »nicht das 40- oder 50-fache« – welcher Maßstab wird zugrunde gelegt? Angesprochen auf die ebenfalls hohen Gehälter von Bundesligaspielern vertrat ein Spitzenpolitiker die Meinung, dass dieser Sachverhalt nicht mit Managergehältern vergleichbar wäre; schließlich müssten Spitzensportler jeden Tag »sehr hart trainieren«. Generell scheint recht viel Unwissen über den Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und Gerechtigkeit zu bestehen. Marktwirtschaften entlohnen nach dem Prinzip der Knappheit – und nicht per se nach hehren Prinzipien wie Fleiß, Anstrengung und Leistung. Ein wenig fleißiger Mensch, der gefragte Ressourcen wie z. B. ein bestimmtes Talent, Grundstücke, Zugänge zu bestimmten Netzwerken etc. besitzt, kann viel reicher werden als jemand, der sein Leben lang viel leistet, aber in Bereichen tätig ist, die auf wenig kaufkräftige Nachfrage treffen. Ähnlich unreflektiert wie die Marktwirtschaft werden Meritokratien beurteilt. Meritokratien sind Herrschaftssysteme, bei denen Personen wegen ihrer Leistungen und Fähigkeiten in gesellschaftliche Verantwortung kommen (sollen). Ämter, Führungspositionen etc. sollen nicht vererbt und nicht wegen sozialer Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit u. a. verwehrt werden. Die Durchlässigkeit des Systems ist allerdings oft nicht gegeben und wir finden bisweilen eine »Abgehobenheit von Eliten«.9
Selbstverständlich lassen sich Fragen nach gerechten Chancenverteilungen, gerechtem Einkommen oder nach Generationengerechtigkeit zielführend diskutieren. Es gibt nicht zuletzt durch renommierte Wissenschaftler und Philosophen klare und gut zu verstehende Konzepte, was unter Gerechtigkeit verstanden werden kann. Alternative Konzepte liefern zweifellos unterschiedliche Gerechtigkeitsergebnisse. Allerdings gestatten solche Konzepte die jeweiligen Vorstellungen konkret darzulegen und konsistent das Für und Wider zu diskutieren sowie letztlich jeweilige Interessenslagen zu identifizieren! Idealerweise sollten Vorstellungen von Gerechtigkeit konkretisiert und transparent dargelegt werden. So bestünde die Möglichkeit, im Diskurs Positionen zu prüfen, gegeneinander abzuwägen etc. Manchmal haben verschiedene Akteure kein übergroßes Interesse, ihr Weltbild von Gerechtigkeit im Detail zu klären oder ganz konkret zu werden. Das beste Beispiel bieten Parteien beim Thema soziale Gerechtigkeit. Jede Partei trifft in ihrem Wahlprogramm Aussagen dazu. Diese bleiben oft unkonkret, bieten bestimmten Klientelgruppen Chancen auf eine nicht näher spezifizierte Besserstellung und zeigen nicht klar, wer durch die jeweilige Besserstellung wie stark belastet wird.

Dem Wollen folgt kein Handeln – »Virtue Signalling« statt effektives Engagement

Idealerweise sollten unseren Gerechtigkeitsurteilen auch entsprechende Handlungen folgen. Dem ist allerdings häufig nicht so. Oft bleibt es in der Politik oder bei Unternehmen bei reinen Verlautbarungen von gerechterem Handeln. Die Reduktion von Rüstungsexporten in Staaten, die Menschenrechte verletzen, wird angekündigt, aber nicht durchgeführt. Unternehmen propagieren einen besseren Umgang mit der Umwelt, aber es bleibt beim »Greenwashing«. Die Liste solcher Beispiele ließe sich beliebig fortführen. Auch bei uns Bürgern lassen sich deutliche Diskrepanzen zwischen dem »Propagierten« und dem eigenen Handeln erkennen. Hier ein einfaches Beispiel: Viele Menschen sind sehr für die Aufnahme von Migranten und die Integration der Kinder in Schulklassen. Nicht selten versuchen allerdings Befürworter der Aufnahmepolitik, ihre eigenen Kinder auf andere Schulen mit geringerem Migrationsanteil zu bringen.10
Auch mit unserer globalen Gerechtigkeit ist es nicht so weit her: Die meisten unserer Entscheide legen implizit oder explizit unsere ethischen Bewertungen und damit unsere realen Gerechtigkeitsvorstellungen offen – auch wenn uns dies meist nicht bewusst ist. So z. B. geben wir als deutsche Bürger im Durchschnitt allein für Schönheitskosmetik über 300 € pro Jahr aus. Unsere persönlichen Ausgaben pro Jahr in Form von Entwicklungshilfe (über unsere Steuerzahlungen) sowie in Form von direkten Spenden für die Menschen, die in bitterer Armut leben und vom Hungertod bedroht sind (rund 800 Millionen), betragen zusammen noch nicht einmal 100 €.
Unter Umständen wollen wir uns aktiv gegen Ungerechtigkeit engagieren. Eine Forderung, die hier ins Feld geführt werden kann – und auch von einigen Moralphilosophen ins Feld geführt wird – ist die Frage nach der Effektivität. Unser Engagement für mehr Gerechtigkeit ist häufig wenig effektiv und zum Teil eher eine »Alibiübung«.11 Reines Moralisieren, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. 1 Einführung und Überblick
  7. 2 Anspruch und Wirklichkeit
  8. 3 Ursachen und Lösungsansätze
  9. 4 Gerechter urteilen, entscheiden und handeln
  10. 5 Fazit
  11. Literatur