1 Sprachbildung in den Naturwissenschaften
1.1 Sprachbildung und sprachliche Bildung
Warum rücken Sprachbildung, Bildungssprache, sprachsensibler Unterricht zunehmend in den Fokus der Bildungspolitik, der Bildungssysteme, der Schulen, der Aus- und Fortbildung? Sprache ist kein Phänomen, das plötzlich und unerwartet in der schulischen Bildung und Ausbildung auftaucht und dem sich Schule neuerdings annehmen müsste. Unterricht war schon immer an Sprache jedweder Form gebunden. Ist es ein altes Thema, dem aus welchen Gründen auch immer, mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird? Untersuchungen belegen die Relevanz von Sprache beim Lernen, zeigen die Abhängigkeit des Schulerfolgs von den sprachlichen Kompetenzen der Lernenden.1 Die Sensibilität dafür, dass sich Fachlernen und Sprachlernen im Fach gegenseitig bedingen, ist bei den Lehrpersonen vor Ort und bei den für Bildungspolitik, Bildungssysteme, Aus- und Fortbildung verantwortlichen Personen gewachsen. Die Dringlichkeit zeigt sich den Lehrkräften in der Tatsache, dass die sprachliche Heterogenität in den Lerngruppen durch die Mehrsprachigkeit der Zuwanderungsgesellschaft größer ist als früher, sodass diese nicht mehr unreflektiert davon ausgehen können, dass alle Lernenden gut »Deutsch können«. Über die Themen Deutsch als Zweitsprache (= DaZ) und Sprachförderung wuchs die Erkenntnis, dass sprachliche Bildung ein Thema für alle Lernenden ist, dass der Unterricht per se sprachsensibel sein muss und bereits immer hätte sein müssen.
Bildungssprachliche Kompetenzen in der deutschen Sprache sind für alle Schülerinnen und Schüler die wesentliche Voraussetzung zum Lernen und für den Schulerfolg. Sie haben daher herausragende Bedeutung bei der Verbesserung der Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. (Kultusministerkonferenz, 2019, S. 2)
Dieses Zitat der Kultusministerkonferenz aus dem Beschluss »Bildungssprachliche Kompetenzen in der deutschen Sprache stärken« vom 9.12.2019 ist bildungspolitisch wegweisend. Demzufolge hat die Kultusministerkonferenz zehn Grundsätze (ebd., S. 4-5) für die Stärkung bildungssprachlicher Kompetenzen in der deutschen Sprache formuliert, die als Orientierung für die Arbeit und Bilanzierung der Maßnahmen der Länder dienen.
Mit dieser Beschlussfassung ist ein Bedeutungsrahmen gleichermaßen für den vorschulischen Bereich, den schulischen Bereich über alle Schulformen und Schulstufen hinweg, für die Lehreraus- und -weiterbildung und für die Schulentwicklung gegeben. Die Begriffe ›Sprachbildung‹ und ›sprachliche Bildung‹ werden im Folgenden synonym verwendet.
Sprachliche Bildung […] erfolgt alltagsintegriert, aber nicht beiläufig, sondern gezielt. Sprachliche Bildung bezeichnet alle durch das Bildungssystem systematisch angeregten Sprachentwicklungsprozesse und ist allgemeine Aufgabe im Elementarbereich und des Unterrichts in allen Fächern. Die Erzieherin [bzw. der Erzieher] oder [die] Lehrperson greift geeignete Situationen auf, plant und gestaltet sprachlich bildende Kontexte und integriert sprachliche Förderstrategien in das Sprachangebot für alle Kinder und Jugendlichen. (ebd., S. 3)
Sprachbildung ist an Unterweisung und Unterricht gekoppelt, also an systematisch geplante und gesteuerte Bildungsveranstaltungen, die im Wesentlichen als Unterricht vorkommen. Sprachbildung ist nicht auf den Sprachunterricht, also den Deutschunterricht, den Deutsch-als-Fremdsprachen-Unterricht (= DaF-Unterricht) und den Deutsch-als-Zweitsprachen-Unterricht (= DaZ-Unterricht) beschränkt, sondern ist Aufgabe aller Fächer und aller an der Bildung beteiligten Institutionen und Personen. Damit ist es eine Querschnittsaufgabe der Institutionen und läuft somit Gefahr, dass die beauftragte und die persönlich empfundene Zuständigkeit divergieren und die Querschnittsaufgabe im »Schwarzen Loch der Nichtzuständigkeit« versinkt. Sprachliche Bildung wird dieses Schicksal anderer Querschnittsaufgaben jedoch nicht erleiden, geht es hier doch um eine Herausforderung, die von fast allen Lehrkräften wahrgenommen wird und diese in einen täglich akuten Handlungsnotstand bringt. Sprachliche Bildung ist in der Wahrnehmung der Lehrkräfte ein dringliches Desiderat der Unterrichts- und Schulentwicklung mit großen Erwartungen an Unterstützung und Hilfe. Denn die Zuständigkeit der Fachlehrkraft für diese Querschnittsaufgabe in den eigenen Lerngruppen ist immanent und kann nicht delegiert werden.
Die Antwort auf die Herausforderungen der sprachlichen Heterogenität ist der sprachsensible Unterricht. Der Begriff »Sprachsensibler Fachunterricht« geht auf das Handbuch »Sprachförderung im Fach - Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis« (Leisen, 2010) zurück und hat sich in fast allen Bundesländern flächendeckend durchgesetzt (Röttger, 2019). Das Thema des sprachsensiblen Fachunterrichts ist die Sprachbildung in allen Fächern und der Erwerb der Bildungssprache (
Kap. 2.1). In der Bildungssprache treffen Fachlernen und Sprachlernen zusammen und bedingen einander.
Neben dem Begriff der Sprachsensibilität sind weitere Begriffe in Verwendung: Sprachförderung, Sprachunterstützung, Sprachbegleitung, Sprachaktivierung, Sprachaufmerksamkeit, Sprachbildung:
• Der Begriff »Sprachförderung« war lange Zeit vorherrschend und resultierte aus den Beobachtungen und Erfahrungen mit Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und wurde auf sprachschwache Lernende erweitert. Dem Fördergedanke liegt die Auffassung zugrunde, dass die festgestellten Defizite durch Fördermaßnahmen ausgeglichen werden können und müssen. Das Sprachförderkonzept resultiert aus der Defizitsicht und verfolgt die Idee des Defizitausgleichs durch Förderung und Unterstützung durch Zusatzunterricht und spezifische Fördermaßnahmen.
Sprachförderung bezeichnet in Abgrenzung zur sprachlichen Bildung gezielte Fördermaßnahmen, die sich insbesondere an Kinder und Jugendliche mit besonderen Schwierigkeiten oder Entwicklungsverzögerungen richten, die diagnostisch ermittelt wurden. Die Maßnahmen können in der Schule unterrichtsintegriert oder additiv erfolgen. Sprachförderung ist häufig ausgerichtet auf bestimmte Adressatengruppen und basiert auf spezifischen sprachdidaktischen Konzepten und Ansätzen, die den besonderen Förderbedarf berücksichtigen […]. Sprachförderung erfolgt oftmals in der Kleingruppe, aber nicht zwingend, und hat kompensatorische Ziele. (Kultusministerkonferenz, 2019, S. 4)
• Die Begriffe »Sprachunterstützung« und »Sprachbegleitung« sind weniger von den Sprachdefiziten geprägt als mehr von der Auffassung, dass das Lernen der Sprache im Fach begleitet und unterstützt werden muss, sie sind also dem Prinzip des Scaffoldings verschrieben.
• Der Begriff »Sprachaktivierung« suggeriert eine stärker unterrichtsmethodische Sicht. Die Lerner sollen im Unterricht - wie auch immer das methodisch angegangen wird - sprachlich aktiviert werden. Der Auffassung ist insofern zutreffend, da Sprache durch sprachliches Handeln in einem bildungssprachlichen »Sprachbad« gelernt wird. Die Lernenden werden im sprachaktivierenden Unterricht in sprachwirksame Sprachhandlungen gebracht.
• Der Begriff »sprachintensiver Unterricht« verweist ebenfalls auf die methodische Seite des Unterrichts und setzt auf einen intensiven Gebrauch der Sprache mit dem Ziel eines intensiven Sprachlernens.
• Die Begriffe »Sprachaufmerksamkeit« und »Sprachbewusstheit« haben Ähnlichkeit zum Begriff »Sprachsensibilität« und fokussieren stark auf die Wahrnehmung der Lehrkraft im sprachlichen Handeln. Auf die Lernenden bezogen verweisen die Begriffe darauf, dass sie sprachlichen Phänomenen gegenüber aufmerksam sind und Sprachbewusstheit entwickeln. In der Fremdsprachenforschung ist die sprachförderliche Relevanz der Sprachbewusstheit belegt.
• Der Begriff »Sprachsensibilität« umfasst die Wahrnehmung, die Diagnose und das sprachliche Handeln aller Akteure im Unterricht, verbunden mit der Maßgabe eines sensiblen, d. h. genau passenden und herausfordernden Sprachhandelns, das sprachbildend wirkt.
• Der Begriff »Sprachbildung« ist auf das Ziel hin ausgerichtet, nämlich in der »(Bildungs)Sprache zu bilden«, also Bildungssprache zu lernen und bildungssprachliche Kompetenzen zu erwerben. Dieser Begriff lässt den Weg im Unterricht offen und ist frei von Aussagen über das Sprachlernen im Fach.
Für jeden Begriff gibt es gute Argumente und jede Sicht ist legitim und vernünftig. Fasst man die Überlegungen zusammen, dann wird das Thema des vorliegenden Bandes am besten ausgedrückt durch folgende Formulierungen:
• Sprachbildung im sprachsensiblen Fachunterricht
• Sprachlernen und Fachlernen im sprachsensiblen Fachunterricht.
Im sprachsensiblen Unterricht geht es um das untrennbar miteinander verbundene, integrierte Fachlernen und Sprachlernen. Fachlernen und Sprachlernen bedingen einander. Daraus folgt, dass es kein Sprachlernen auf Vorrat geben kann, sondern die Sprache zusammen mit dem Fach gelernt wird. »Sprache ist wie ein Werkzeug, das man benutzt, während man es noch schmiedet« (Butzkamm, 1989, S. 110). Den Zusammenhang von Sprache und Lernen formuliert Ahrenholz treffend: »Lernen heißt – in welchem Fach auch immer – Aneignung von Sprache. Gleichzeitig ist sie aber auch immer Voraussetzung für Lernen« (Ahrenholz, 2010, S. 17).
Im sprachsensiblen Fachunterricht treffen somit drei didaktische Bereiche zusammen:
• Fachdidaktik: Lehren und Lernen des Faches
• Bildungssprachendidaktik: Lehren und Lernen der Bildungssprache im Fach (
Kap. 1.2 und
Kap. 2.1).
• Fremdsprachendidaktik: Lehren und Lernen der Fremdsprache Deutsch
Lehrkräfte, die über Expertise in allen drei didaktischen Bereichen verfügen, sind prädestiniert für den sprachsensiblen Unterricht. Mit Fug und Recht darf behauptet werden: Sprachsensibel werden heißt von der Fremdsprachendidaktik lernen. Die Fremdsprachendidaktik kennt Prinzipien, die in jedem Fachunterricht lernwirksam sind. Der Unterricht gemäß den oben aufgeführten Begrifflichkeiten findet ausschließlich in der Sprache Deutsch statt, die sowohl Zielsprache im Sinne von Bildungssprache als auch Vermittlungssprache ist. Das Ziel der Sprachbildung ist die Vermittlung der Bildungssprache in und mit der Sprache Deutsch.
1.2 Der Begriff der Bildungssprache
In der Sprachbildung erwerben die Lernenden Kompetenzen in der Bildungssprache. Im letzten Jahrzehnt wurde von verschiedenen Seiten (Leseman, Scheele, Mayo & Messer, 2007; Gogolin, 2009; Vollmer & Thürmann, 2010; Leisen, 2010; Gogolin & Lange, 2011; Morek & Heller, 2012; Tajmel, 2013; Kempert, Schalk & Saalbach, 2018) um eine Definition des Begriffs Bildungssprache gerungen, »allerdings steht eine eindeutige und operationalisierbare Definition von Bildungssprache noch aus; eine klare Abgrenzung zur sogenannten Alltagssprache ist nach wie vor schwierig« (Kempert, Schalk & Saalbach, 2018, S. 11). Das in der Diskussion befindliche Spektrum der Definitionen wird in diesem Kapitel gezeichnet. Zuvor wird die Bildungssprache von anderen sprachlichen Registern abgegrenzt.
Die »Standardsprache« ist durch die Allgemeinverbindlichkeit einer sprachlichen Norm vom Rat für deutsche Rechtschreibung definiert, die in Grammatiken und Wörterbüchern (z. B. Duden) für alle wichtigen Lebensbereiche festgeschrieben ist. Als Hochsprache bezeichnet erhält sie eine soziale Wertung und ist der gebildeten Ober- und Mittelschicht zugeordnet. Das damit einhergehende soziale Prestige ist für bestimmte gesellschaftliche Schichten ein kulturelles Kapital und gleichzeit...