II.
AUFRÄUMARBEITEN UND NEUBAU
4
Kristell Köhler
Viel geht, wenn Vertrauen geht
Wie wir einen Kulturwandel „ausprobierten“
Es ist der 17. September 2018, ein Montagmorgen. In einem Besprechungsraum der Kirchengemeinde St. Elisabeth in Köln-Höhenberg ist der Tisch reichlich gedeckt – Kaffee und Wasser, Kuchen und belegte Brötchen, Schokolade und Obst. Drum herum blicken zehn Augenpaare gespannt, erwartungsfroh, zum Teil auch skeptisch in die Runde. Die fünf Männer und fünf Frauen wissen, dass sie von nun an für zwei Jahre eng verzahnt miteinander arbeiten werden. Sie sind aufgerufen, den pastoralen Erneuerungsprozess im Erzbistum Köln mitzugestalten, und sollen eines von fünf thematischen Arbeitsfeldern aufbereiten. Was das bedeuten kann und soll, welcher Beitrag von ihnen erwartet wird und welche Expertise sie einbringen können – all das erwarten sie nun zu erfahren. Nur wenige kennen sich gut, die meisten eher flüchtig. Einige haben voneinander gehört, andere haben eine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun bekommen. Den meisten aber drängt sich wohl die Frage auf, warum genau sie in dieser Konstellation aufeinandertreffen.
Was klingt wie der Beginn eines soziologischen Experiments, ist der Beginn einer spannenden und intensiven Denkreise in Gegenwart und Zukunft der Kirche. Denn so bunt wir zusammengewürfelt sind, so verschieden sind auch unsere geistlichen Prägungen, kirchlichen Erfahrungen und aktuellen Themen. Wir alle arbeiten haupt- oder ehrenamtlich in und für Kirche. Unsere persönlichen Biographien sind zwar kirchlich geformt, jede*r aber hat in der Kirche auch seine „Nische“, seinen Platz und damit seine unverwechselbare Stimme gewonnen. Diese Wahrnehmung bestimmt unser gemeinsames Arbeiten vom ersten Aufeinandertreffen an. Da sind zwei Männer und eine Frau mitten aus der pastoralen Praxis. Sie leben Kirche, wollen Kindern, Familien, Alt und Jung den Glauben in einer ansprechenden und zugewandten Form nahe bringen – und gehen dabei jede und jeder für sich sehr unterschiedliche Wege. Dann ist da eine Ordensschwester, die nicht nur durch ihre Lebensentscheidung, sondern auch durch ihre bewegte Biographie glaubwürdig über den Mut zum Wandel spricht. Ein Theologe und eine Theologin aus dem Generalvikariat in Köln bringen ihre Erfahrungen über die Sehnsucht nach glaubwürdiger Spiritualität und zeitgemäßem Sprechen von Gott ein. Eine ausgebildete Kinderkrankenschwester, Psychologin und Organisationsentwicklerin, die ehrenamtlich in der Kirche aktiv ist, äußert sich aus ihrer Perspektive aus vielen Jahren der Jugendverbandsarbeit. Ein weiterer Theologe und pensionierter Mitarbeiter des Generalvikariats bringt die Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit dem interkonfessionellen und interreligiösen Dialog ein. Die Runde wird vervollständigt von der jungen Mitarbeiterin einer Beratungsfirma; selbst fest im Glauben verwurzelt, soll sie, wie ihre nachfolgenden Kollegen, den Diskussions- und Arbeitsprozess steuern.
Genau diese Aufgabe wird sich angesichts der Vielfalt der Charaktere, Meinungen und Ideen als immer wieder neu herausfordernd erweisen. Bereits der Arbeitsauftrag hat es in sich, birgt er doch Raum für Interpretationen: Wir sollen nachdenken über einen geistlichen Kulturwandel und Vertrauensarbeit. Inwieweit aber ist ein Wandlungsprozess geistlich steuerbar, wenn der Geist doch weht, wie und wo er will (Johannesevangelium 3,8), und sich vor allem durch Freiheit auszeichnet (2. Korintherbrief 3,17)? Und kann Kirche in einer Zeit der Glaubwürdigkeitskrise mit verordneten Kampagnen Vertrauen zurückgewinnen? Oder braucht es nicht vielmehr ganz zaghafte Versuche, Vertrauen neu zu wagen? Allein schon diese grundlegenden Fragen zur Themenstellung lassen die Vielzahl von weiteren Türen erahnen, die sich einen Spalt breit oder ganz öffnen. So brachen sich bereits in der Anfangsphase, in der wir vor allem das Thema sondierten und Wahrnehmungen und Ideen nebeneinanderlegten, sehr viel Frust, Ärger und eine gewisse Ratlosigkeit Bahn. Den vielen Stimmen in der Gruppe war aber auch zu verdanken, dass immer wieder von wahrgenommenen Hoffnungszeichen, vom Willen zum Dranbleiben und Nichtaufgeben die Rede war.
Diese ambivalente Stimmung zwischen Zuversicht und Sorge, zwischen Mut und Verzweiflung, zwischen Freude und Resignation prägte das gemeinsame Arbeiten über die gesamte Zeit. In zwei Jahren erarbeiteten wir uns ein grundlegendes Wissen zum Thema Kulturwandel durch interessante Gesprächspartner von innerhalb und außerhalb der Kirche und in der Beschäftigung mit Studien und Prozesswerkzeugen. Wir brachten kirchliche Mitarbeitende aus ganz unterschiedlichen Berufen zusammen, um ihre Erfahrungen und Anregungen einzuholen. Wir suchten das Gespräch mit Ausgetretenen und Enttäuschten, mit ehrenamtlich Engagierten und pastoralen Mitarbeitenden. Die Hoffnungen der Jugend fanden ebenso ihren Platz in unseren Überlegungen wie die Sorgen und Ängste der mittleren und älteren Generation. Es wurden Statements entworfen und wieder verworfen, Forderungen formuliert und durch Empfehlungen ersetzt. Wir rangen um einzelne Worte und um Deutungen, suchten nach zutreffenden Bildern und konsensfähigen Begriffen. Einige unserer Überlegungen und Erkenntnisse stellen wir in diesem Band vor in der Hoffnung, dass sie auch für andere Interessierte und Engagierte hilfreich sind. Das Wesentliche unserer zweijährigen Arbeit lässt sich jedoch nur schwer in Positionspapieren oder Konzepten festhalten. Denn rückblickend ist die größte Errungenschaft unserer Arbeitsgruppe: die Gruppe selbst. Nicht, weil wir fortan als „Club der Kulturwandler“ für und auf alles eine Antwort haben, sondern weil wir selbst durch die Erfahrung eines notwendigen Wandels gegangen sind – mit allen Leiden und Freuden, die so ein Weg mit sich bringt.
Deutlich wird dieser innere Prozess an einem greifbaren Produkt unserer Überlegungen. Gemeinsam haben wir sieben Haltungen als Vision für eine Kirche des Wandels entwickelt:
1)Gott vertrauen.
2)Menschen hören.
3)Neues denken.
4)Verantwortung teilen.
5)Barmherzig sein.
6)Nachhaltig handeln.
7)Spaß an der Freud.
In ihnen spiegelt sich unser fachliches und inhaltliches Arbeiten, aber auch das innere, geistliche Ringen wider, denn jede dieser Haltungen ist im Feuer der gemeinsamen Arbeit geschmiedet und hat sich in ihm bewähren müssen.
Der Weg der Beschäftigung mit dem Thema „(Geistlicher) Kulturwandel und Vertrauensarbeit“ war geprägt von intensiven Auseinandersetzungen. Die mit viel Leidenschaft geführten Diskussionen waren zu Beginn oft scharf im Wort, kompromisslos in der Analyse und hart in ihren Forderungen. Es gab Treffen, die mancher mit Magengrummeln verließ, oder in denen nur mit Hilfe einer guten Moderation oder dem gelassen-ausgleichenden Charakter einzelner die Stimmung wieder eingefangen werden konnte. Da schienen sich unterschwellige Vorurteile übereinander zu bestätigen oder kirchliche Lager zu manifestieren. Da machten sich tiefgehende Verletzungen bemerkbar und blauäugiger Optimismus wurde enttarnt.
Auf eine erste Phase des sich aneinander Abarbeitens, die zum Findungsprozess einer solchen Gruppe gehört, folgte sehr schnell eine Zeit des intensiven Hörens und Wahrnehmens, die einherging mit den ersten Expertengesprächen und Beteiligungsformaten. Das gemeinsame Hören auf Menschen schärfte das Gehör auch für die Zwischentöne unter uns. Der Wunsch, möglichst aufmerksam für die verschiedenen Sehnsüchte, Wünsche und Ängste anderer zu sein, ließ uns genau diese auch aneinander entdecken. Natürlich gab es auch vorher schon Situationen, in denen uns dies gelungen ist, und später solche, in denen es nicht gelang. Und doch hat das gemeinsame Zuhören uns verändert. Entscheidend war, dass wir nicht nur inhaltlich, sondern innerlich ins Hören gekommen sind. Die geistlichen Impulse zu Beginn einer jeden Sitzung machten dies möglich. So unterschiedlich sie ein jeder von uns gestaltete, so persönlich gab jeder von uns Stück für Stück Zeugnis von der Hoffnung, die ihn und sie erfüllt. Da wurde aus dem simplen Satz auf einer Kunstkarte, „Erklär mir rosa!“, ein tiefgehender Dialog über Gottesvorstellungen, oder ein Gedanke aus einem vorgelesenen Text prägte noch Wochen später unsere Gespräche, weil er wieder und wieder zitiert wurde. Vielleicht lässt sich die Erfahrung des geistlichen Miteinanders nur schwer in Worte fassen, aber sie wurde immer mehr stilprägend für unsere gemeinsame Arbeit. Sie ließ hinter kantigen Diskussionsbeiträgen die innere Überzeugung der Nähe Gottes sichtbar werden und eine Leidenschaft für die Kirche. Sie ließ das Verständnis wachsen, dass sich die Sorge um den anvertrauten Glauben nicht in Abgrenzung zeigen muss.
Neues Denken
So wie wir im geistlichen Dialog immer vertrauter miteinander wurden, so fanden wir auch im Inhaltlichen immer mehr zusammen. Wir entdeckten gemeinsam Worte, um dem Vertrauen auf Gottes Wirken in seiner Kirche Ausdruck zu verleihen und den Hunger nach Gott-Nähe im eigenen Leben und im Leben der Menschen unserer Zeit zu spüren. Miteinander um Themen zu ringen, bedeutete nicht mehr, um Deutungshoheit zu kämpfen, sondern durch den Beitrag der anderen an Verständnis zu gewinnen. Die Rückschritte, die es freilich auch in diesem Prozess gab, lehrten uns, dass es Zeit braucht, aufeinander zu hören und das Gehörte wirken zu lassen. Es wurde wichtig, das Gemeinsame zum Tragenden zu machen, ohne Differenzen zu überspielen. Wenn wir uns dann an divergierenden Positionen abarbeiteten, stellte das nicht mehr die gemeinsame Sorge und Freude über eine Institution infrage, die für jede*n von uns Heimat ist. So konnten wir neue Denkmodelle zulassen, ohne den Eindruck zu haben, etwas zu verlieren. Daraus erwuchs die Hoffnung auf eine gewinnende Co-Existenz von Positionen auch in den gesamtkirchlichen Auseinandersetzungen. Zu einer gewandelten Form von Kirche wird das Aushalten der Andersheit des Anderen und der gleichzeitigen Erkenntnis des Gemeinsamen genauso gehören wie der barmherzige Umgang mit dem eigenen Scheitern und dem der Schwestern und Brüder. Wer Verantwortung für das Haus der Kirche teilt, lässt zu, dass Fehler passieren, aber auch, dass aus gemeinsamer Anstrengung Neues erwächst. Insbesondere das Kleine, Neue, Zarte des Aufbruchs wachsen zu lassen, wurde für unser Denken entscheidend. Denn Veränderung ereignet sich nicht im bloßen Verkündigen, sondern dort, wo das Verkündigte zur Tat wird. Jesus preist die selig, die Frieden stiften, nicht die, die von Frieden reden! Deshalb sind wir mit dem Nachdenken über Kulturwandel selbst zu denjenigen geworden, die versuchen, ihn zu leben. Die Auseinandersetzung mit Fragen nach einer gelebten Schöpfungsverantwortung, einer einladenden Begegnungskultur oder gelingenden Versöhnungs- und Dialogprozessen hat unsere Alltagssprache, aber auch unser ...