Palmsonntag (7. April 1555)
Während landauf landab festliches Glockengeläut die Gläubigen zum Gottesdienst ruft, reitet ein Mann allein über die weite menschenleere Hochebene der Meseta. Als er nach einer Wegbiegung das glänzende Band des Duero erblickt und dahinter der Stadt Tordesillas, seufzt er erleichtert auf. Er ist die fünfte Stunde im Sattel, das Gesicht brennt ihm vom scharfen Wind und der Abend ist nicht mehr fern.
Wird er Johanna noch lebend antreffen? Die Botschaft klang dringlich und unheilverheißend, wie seit Jahrzehnten fast jede Nachricht aus Tordesillas. Es scheint kein Segen auf diesem Ort zu liegen. Ein marodes Schloss, das Kloster, ein paar Steinhäuser und die Hütten der Armen. Hier lebt Johanna als Gefangene länger, als sein eigenes Leben währt. Dabei steht er schon in seinem fünfundvierzigsten Jahr.
Wer in König Philipps Spanien weiß noch, dass diese Frau seit mehr als einem halben Jahrhundert die rechtmäßige Königin ist? Die wenigen, die sich an sie erinnern, zucken bei der Nennung ihres Namens mit den Schultern und flüstern scheu: la loca, die Wahnsinnige.
Es mag als ein seltsamer Zufall erscheinen, dass Johanna im Schloss von Tordesillas ihr Leben verdämmert, an jenem Ort, wo die spanische und die portugiesische Krone mit Zustimmung eines spanischen Papstes die Neue Welt unter sich aufgeteilt haben. Sechzig Jahre sind seit der Unterzeichnung des Abkommens von Tordesillas ins Land gegangen und heute erweist sich klarer denn je, dass dieser Vertrag den Ausbruch einer Krankheit beurkundete, an der die Alte Welt seither leidet: dem Wahnsinn. Unter Anrufung Gottes maßten sich drei herrschende Fürsten an, zu teilen, was unteilbar ist, zu rauben, was ihnen nicht gehört. Stolz und Zorn, Habgier und Unzucht, Geiz, Trägheit und Maßlosigkeit haben nicht nur den Verstand der Mächtigen, sondern auch den ihrer Völker zerstört. In blindem Hass schlagen sie aufeinander ein, zerren das Heilige in den Schmutz und verehren das Laster.
Bei diesen Gedanken lockert der Reiter die Zügel, damit das Pferd, das er soeben noch angetrieben hat, in einen langsamen Gang verfalle. Er hat es plötzlich nicht mehr eilig. Ein Priester, der Kranken Beistand zu leisten, ist gewiss längst zur Stelle. Was könnte er, Francisco, anderes oder besser tun? Auch er kann nur die Beichte abnehmen, wenn Johanna denn dazu bereit ist, die letzte Ölung reichen, die Sterbegebete sprechen. Mit Erschrecken gesteht er sich den Wunsch ein, diese Frau möge sterben, bevor er an ihr Lager tritt. Er fühlt sich außerstande, ihre anklagenden Blicke und ihre Gotteslästerungen zu ertragen. Wie soll er ihr priesterlich vergeben, wo er doch selber der Vergebung bedarf?
Das Blut jenes Papstes und jener Könige, die einst in Tordesillas die Welt unter sich aufteilten, fließt auch in seinen Adern. Das Blut verschlagener, lebensgieriger, hemmungsloser Männer. Seine Ahnen, König Ferdinand von Aragonien und Papst Alexander VI. Rodrigo Borja, haben ihm ein schweres Erbe hinterlassen. Ein Leben härtester Buße würde nicht ausreichen, ihre Vergehen gegen Gott und die Menschen zu sühnen. Durch König Ferdinand ist er Blut vom Blute und Geist vom Geiste Johannas, der Tochter Ferdinands, die nun in Tordesillas im Sterben liegt. Zwar hat er, Francisco Borja, freiwillig auf Titel und Besitz verzichtet und sich Gott geweiht, doch zu den Erlösten zählt er sich nicht. Johanna aber hat man gegen ihren Willen alles genommen, die Königskrone, ihre Kinder, ihren Besitz und, schlimmer noch: ihren Glauben an Gott und die Menschen. Wie soll er ihr beistehen, da er wie sie unter den Taten seiner Vorfahren leidet und sich zugleich mitschuldig fühlt an Johannas furchtbarem Geschick?
Als er ihr zum ersten Mal begegnete, war er ein mutterloser Knabe von zwölf Jahren und sie eine Frau in den Vierzigern. Der königliche Hof hatte ihn zum Pagen für Johannas jüngste Tochter Katharina bestimmt, die bis zu ihrer Hochzeit mit dem portugiesischen König die Gefangenschaft ihrer Mutter teilte. Zwei Jahre musste er in Tordesillas zubringen und war heilfroh, als er diesen Ort wieder verlassen konnte. Vergessen hat er ihn nie. Auch nicht in jenen Jahren, als er mit Johannas ältestem Sohn, dem jungen Kaiser Karl V., eng befreundet war und zwischen ihnen nie ein Wort über die Gefangene von Tordesillas fiel. Er glaubte, was alle glaubten: dass Johanna wahnsinnig sei. Doch je älter er wurde, umso öfter suchten ihn Zweifel heim. Die Cortes, die Versammlung des kastilischen Adels, hatte Johanna nie ihr Königtum abgesprochen, Johanna hatte nie dem Thron entsagt. Warum wollte Karl nicht über seine Mutter reden? Wäre sie wirklich wahnsinnig gewesen, hätte sie Mitleid und liebevolle Zuwendung verdient und nicht eine so grausame Gefangenschaft. Francisco hatte diese Gedanken immer wieder beiseitegeschoben. Tagesgeschäfte hielten ihn davon ab, dem dunklen Geheimnis des spanischen Hofes auf den Grund zu gehen. Es war ohnehin nicht gut, mehr zu wissen, als man ertragen konnte.
Vor drei Jahren endlich, als Karls inzwischen erwachsener Sohn, König Philipp, ihn nach Tordesillas geschickt hatte, um bei seiner Großmutter nach dem Rechten zu sehen, waren ihm die Zweifel zur Gewissheit geworden: Die Tochter der Katholischen Könige Ferdinand und Isabella, die Mutter des Kaisers Karl, die Großmutter König Philipps, war klug, zwar ein wenig exzentrisch, aber keinesfalls wahnsinnig. Gerüchte, üble Nachreden und Intrigen hatten ihr den Verstand abgesprochen und sie hinter undurchdringliche Mauern verbannt. Jedes Aufbegehren der verzweifelten Frau war von ihren Kerkermeistern als Bestätigung einer schweren Geisteskrankheit gedeutet worden. Dennoch hatten sie nicht gewagt, sie offiziell für wahnsinnig erklären zu lassen, sondern alles darangesetzt, sie um den Verstand zu bringen. Der jungen Johanna muss es an taktischem Geschick gefehlt haben, sich wirkungsvoll gegen ihre Entmündigung zur Wehr zu setzen, und so war sie den Gegnern aus der eigenen Familie, zuerst ihrem Vater Ferdinand und später dem Sohn Karl, hilflos ausgeliefert gewesen.
Als Francisco Borja das Spiel durchschaut hatte, war es zu spät gewesen, der inzwischen Vierundsiebzigjährigen noch zu helfen. Er konnte sich nur bemühen, ihr Los zu erleichtern.
Er zeiht sich der Mitschuld am Schicksal seiner Großtante, auch wenn er, dreißig Jahre jünger als sie, es zu keiner Zeit hätte aufhalten können. Was soll er ihr nun angesichts des Todes sagen, ihr, die von allen verraten wurde und sich von Gott verraten fühlt? Vor drei Jahren hat sie ihm nach langem Widerstreben ein gewisses Zutrauen entgegengebracht, die Gespräche mit ihm genossen und die Erleichterungen, die er ihr verschaffen konnte, dankbar angenommen. Doch bald nach seiner Abreise fiel Johanna in ihre Verweigerung zurück. Den Seelsorger, den er der Königin als ständige Vertrauensperson empfohlen hatte, wollte sie nach wenigen Tagen nicht mehr sehen und der Priester selbst bat um seine Entlassung aus dem Dienst Johannas. Sie vermute, schrieb er, ausnahmslos in jedem einen Feind und mache sich und den anderen das Leben zur Hölle.
Francisco Borja hatte keine Zeit mehr gefunden, sich persönlich um Johanna zu kümmern. Als Generalkommissar musste er im Auftrag von Pater Ignatius Spanien und Portugal bereisen und sich um die Brüder in der ausgedehnten Ordensprovinz der jungen Gesellschaft Jesu kümmern. Auch die Könige von Spanien und Portugal bedachten ihn mit diplomatischen Aufträgen, denen er sich im Interesse seines Ordens nicht entziehen durfte. Er kannte die Prinzen und Prinzessinnen, all die hohen Herrschaften und mit vielen von ihnen war er verwandt. Oft konnte er sie nur mit Mühe überzeugen, sich anderen Seelsorgern als ihm anzuvertrauen. In den Nächten schrieb er lange Briefe nach Rom, an Ordensbrüder und an Hilfesuchende. Seine harten Bußübungen, für die ihn Pater Ignatius oft tadelte und von denen er nicht lassen wollte, machten ihn anfällig für Krankheiten.
Er kann nicht überall zugleich sein und es jedem recht machen. Dennoch plagt ihn sein Gewissen, wenn er an Johanna denkt. Nicht, weil sie Königin ist und seine Verwandte; das Seelenheil eines Bettlers bedeutet ihm nicht weniger als das ihre. Francisco gesteht sich ein, dass er so etwas wie Angst vor Johanna empfindet, er, der bisher meinte, schon längst alle Menschenfurcht abgelegt zu haben. In ihren Augen lauert, wie eine ansteckende Krankheit, ein Abgrund, der ihm wohlvertraut ist und in den abzustürzen er sich mit aller Kraft wehrt – das Gefühl absoluter Gottverlassenheit. Ihr Vertrauen zu ihm, das sie sonst keinem Menschen entgegenbringt, erschreckt ihn mehr, als es ihm schmeichelt.
Unmutig gibt er seinem Pferd die Sporen. Fruchtlose Grübelei ist des Teufels, er muss sie abschütteln im scharfen Ritt, hinter sich lassen wie sein früheres Leben als Herzog von Gandia. Gott wird ihn zur rechten Zeit das Rechte sagen und tun lassen.
Als auf dem Weg eine Gestalt auftaucht, die vornüber gebeugt gegen den Wind ankämpft, zügelt er sein Pferd, springt ab und entbietet dem Mann einen freundlichen Gruß. Der schiebt die Kapuze des langen abgetragenen Mantels zurück. Aus dem mit einem eisgrauen Bart überwachsenen Gesicht blicken erstaunlich klare Augen, nicht gerötet vom Wind, nicht getrübt von den Jahren. Prüfend messen sich die Männer.
Ob er mit einer Wegzehrung dienen könne, fragt Francisco schließlich und greift nach seiner Satteltasche. Der Alte winkt wortlos ab. Dann möge er wenigstens eine Wegstrecke sein Pferd benutzen, um sich ein wenig auszuruhen, bittet Francisco.
Noch immer fixiert ihn der Alte durchdringend, als verstünde er nicht recht. Plötzlich verneigt er sich mit den Worten: „Verzeih, Bruder, aber ich bin ein Sünder und Büßer, nicht würdig, einem Heiligen wie dir die Schuhe zu lösen.“
In der Meinung, der alte Mann rede wirr, lacht Francisco und sagt dann: „Spottet nicht. Ein seltsamer Heiliger wäre ich, der zu Pferde reitet und das Alter zu Fuß gehen lässt!“
„Du hältst mich für verrückt, doch ich weiß wohl, was ich sage und wen ich vor mir habe. Dein Name, Francisco Borja, ist in Spanien jedem Kind bekannt und jedem Erwachsenen eine Hoffnung. Steig auf und folge deinem Auftrag!“ Der Alte zieht die Kapuze wieder ins Gesicht und wendet sich zum Gehen. Doch Francisco, das Pferd am Halfter führend, bleibt an seiner Seite.
„Woher kennt Ihr mich? Sind wir uns schon einmal begegnet?“
„Wir sind alle eins in Christo“, erwidert der Alte abweisend.
Francisco will den Mann nicht so einfach gehen lassen. Es ist nie seine Art gewesen, sich jemandem aufzudrängen, aber diesmal kann er sich des Gefühls nicht erwehren, Gott habe ihm diesen Mann geschickt, damit er aus seiner Ratlosigkeit herausfände.
„Sagt mir doch, wer Ihr seid, woher Ihr kommt, wohin Euer Weg führt“, bittet er. Und setzt zögernd hinzu: „Ein freundliches Wort zur rechten Zeit richtet den Müden auf und macht dem Verzweifelten Mut.“
Der Alte hüllt sich fester in seinen Mantel und schweigt. Eine Weile gehen sie so nebeneinander her. Unvermittelt sagt der Alte und es klingt im Pfeifen des Windes wie von weither: „Ich kann dir nicht helfen, ich bin nur ein Vorübergehender.“
Gut gesagt, denkt Francisco, aber was fange ich damit an? Entschlossen, das Gespräch nicht abbrechen zu lassen, erwidert er: „Auch ein Vorübergehender vermag den am Wege Stehenden vor einem Irrweg zu bewahren.“
Nun hält der Alte inne und wendet sich wieder Francisco zu. Er muss den Kopf heben, um den Größeren anzusehen. Seine Stimme verrät, was sein dichter Bart verbirgt – er lächelt.
„Glaub mir, es gibt keine Irrwege. Nur Umwege. Aber gerade sie führen zu Gott. In Avila habe ich eine Nonne im Sarg liegen sehen und doch ist sie zum Leben bestimmt. In Tordesillas schleppt sich eine bedauernswerte Königin unter Flüchen und Seufzern auf den Schädelberg von Golgota. Keiner, nicht du, nicht ich, kann ihnen diese Wege ersparen.“
Francisco schaut ihn irritiert an. Der Mann scheint Rätsel zu lieben. Kommt er nicht selbst geradewegs aus Ávila? Der Tod einer Nonne wäre ihm nicht verborgen geblieben. Und wie spricht er über Johanna? Doch er scheint sie zu kennen. Francisco möchte mehr erfahren. Bittend hält er dem Alten den Steigbügel hin: „Wenn Ihr nach Tordesillas wollt, haben wir den gleichen Weg.“
„Hast du nicht zugehört? Dein Weg ist nicht mein Weg“, fährt ihn der Alte an und eilt mit langen Schritten davon.
Francisco schaut ihm verwundert nach. Was war das? Da begrüßt ihn einer als Heiligen und behandelt ihn wie einen Lumpen, nennt sich selber Büßer und tritt mit der Arroganz eines Granden auf.
Er löst den Futtersack vom Sattel und hängt ihn dem Pferd um den Hals. Die mahlenden Geräusche des Tieres beruhigen ihn. Seine Enttäuschung über den entgangenen Weggefährten weicht dem Nachsinnen über die seltsame Begegnung. Je deutlicher er sich den Mann vergegenwärtigt, umso gewisser scheint es ihm, diese klaren durchdringenden Augen schon einmal gesehen zu haben. Aber wann und wo? Es muss lange her sein. Francisco Borja lässt die Stationen seines Lebens an sich vorüberziehen: die Kindertage in Gandia, in Saragossa, wo er nach dem Tod der Mutter bei seinem Onkel lebte, die Pagenzeit in Tordesillas, am Hof des Königs während seiner Zeit als Oberhofmeister, dann Barcelona, das er als königlicher Gouverneur verwaltete. Eine Erinnerung will sich trotz aller Anstrengung nicht einstellen.
Ein leichter Stoß gegen die Schulter reißt ihn aus seiner Versunkenheit. Der Futtersack hängt schlaff herunter und das Tier verlangt ungehalten nach mehr. „Ist ja gut“, murmelt Francisco und tätschelt den Hals des Pferdes, „wir sind bald am Ziel.“ Schwerfällig hebt er sich in den Sattel. Unterwegs hält er Ausschau nach dem Pilger oder Bettler oder was sonst dieser Mann sein mag. Aber er scheint wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht hat er eine Abkürzung genommen oder sich hinter einem Stein verborgen, um einer erneuten Begegnung auszuweichen. Die langen Schatten von Pferd und Reiter gleiten zitternd über Geröll und Felsstücke in die abendliche Dämmerung hinein. Francisco fühlt wieder die quälende Unruhe von vorhin in sich aufsteigen. Er zwingt sich, seine Blicke nach vorn zu richten. „Herr, sieh doch mein Elend und errette mich, führe meine Sache und erlöse mich“, murmelt er.