Vertraute Fremde
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Vertraute Fremde

Essays, Porträts, Betrachtungen

  1. 168 Seiten
  2. German
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Vertraute Fremde

Essays, Porträts, Betrachtungen

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Über dieses Buch

Sigrid Grabner hat für diesen Band all jene Essays, Portraits und literarischen Skizzen herausgesucht, in denen sie ihr Verhältnis zu den wenigen essentiellen Fragen dieser Welt offenlegt. Dabei scheut sie sich nicht, und das ganz unzeitgemäß und im besten Sinne des Wortes konservativ, die Frage nach Wahrheit, Glaube oder Macht anhand solch schillernder Figuren wie Gandhi, dessen erste deutschsprachige Biografin die Autorin ist, Henning von Tresckow oder Emmi Bonhoeffer zu stellen, um nur drei vor allem politische Persönlichkeiten hervorzuheben.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783965216679

Der Zeit zwischen die Federn gesehen: Achim von Arnim

Viel ist im dreihundertsten Jubiläumsjahr des von der Landkarte verschwundenen Staates über Preußen gesagt worden. Wenn von Religionsfreiheit, Toleranz und Reformpolitik die Rede war, wurde niemals vergessen, auf Kasernen, Pickelhauben und säbelrasselndes Großmachtgehabe hinzuweisen. Alle Gratulanten achteten sorgsam auf eine ausführliche Schilderung der Schattenseiten des Jubilars, um ja nicht in den Verdacht zu geraten, Preußen loben oder, schlimmer noch, es wiederbeleben zu wollen. Das wirkte in seiner angestrengten Korrektheit eher ermüdend als überzeugend.
Die Erinnerung an das 1947 per Dekret aufgelöste, als Sündenbock für alle Schandtaten des II. Weltkrieges in die Wüste gejagte Preußen bricht immer wieder vehement und in den seltsamsten Formen auf. Preußen fasziniert und erschreckt bis in die Gegenwart. Dabei fällt auf, dass die heutigen Urteile meist vom Blick der einstigen Nachbarn Preußens bestimmt sind. Deren Regenten beobachteten die im 18. Jahrhundert unversehens aus dem märkischen Sand aufsteigende Macht mit Argwohn. Sie witterten einen gefährlichen machtpolitischen Konkurrenten. Die schlesischen Raubzüge Friedrichs II., die sich in ihrer Brutalität wenig von den Überfällen Ludwigs XVI. auf rechtsrheinische Gebiete unterschieden, bestätigten den Argwohn, den auch der Siegeszug Napoleons durch Europa und die Unterwerfung Preußens nicht zu beruhigen vermochte. Preußen blieb seinen Nachbarn ein Ärgernis, weil es das wollte, was sie, vor allem die Engländer und Franzosen, schon besaßen: Nationalstaatlichkeit. Seit dem Dreißigjährigen Krieg hatte man sich in Europa so sehr an die Aufteilung des alten deutschen Reiches in Hunderte von bedeutungslosen Fürstentümern gewöhnt, dass jede deutsche Zentralmacht als Bedrohung angestammter eigener Interessen empfunden wurde. Die ungewöhnlich harten Sanktionen des Versailler Vertrages, die Deutschland an die Grenze seiner Existenz und schließlich mit Hitler in den Abgrund trieben, erklären sich aus dieser europäischen Hackordnung, ebenso wie der anfängliche Widerstand englischer und französischer Politiker gegen die Vereinigung Deutschlands nach 1989. Immer malte man das Schreckgespenst eines preußischen Staates an die Wand: aggressiv, raublüstern, rücksichtslos wie Friedrich II. mit seiner Eroberungspolitik. Der preußische Staat, der schon mit der Reichsgründung 1871 im Deutschen Reich aufgegangen war, wurde den Nachbarn ein Synonym für Deutschland.
Wir, die wir glauben, ganz im Hier und Jetzt zu leben, machen uns nur selten klar, wie sehr alles, was in Europa gedacht, gesagt und getan wird, von der Vergangenheit geprägt ist. Auch wenn im öffentlichen Bewusstsein einer mit Informationen überfütterten Gesellschaft die Kämpfe Karls des Großen mit den widerspenstigen Sachsen, die Kolonisierung der Mark, der Investiturstreit zwischen Päpsten und Kaisern, die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges, um nur einige Beispiele zu nennen, nicht mehr präsent sind, verspüren wir ihre Auswirkungen noch heute: in politischen Leidenschaften, Urteilen und Vorurteilen, in Vorlieben und Ablehnungen, Ängsten und Sehnsüchten. Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte und diese wieder eine; wir treiben mitten im Strom der Geschichte.
Wer über Preußen spricht, gibt Auskunft über sich, auch wenn er meint, sich streng an Fakten zu halten und objektiv zu urteilen. Geschichte ist nicht objektiv, sie wird von Subjekten unterschiedlichen Charakters gelebt und von Subjekten unterschiedlicher Fähigkeiten und von unterschiedlichen Standpunkten aus geschrieben. Und sie ist viel reicher, verzweigter, bunter, widersprüchlicher, voller verborgener Unterströmungen als unsere auf Schlagworte fixierte Zeit das wahrhaben will.
Das Leben des Dichters Achim von Arnim – Preuße, Rebell, Konservativer, Heimatloser, märkischer Junker – gibt von dieser Vielfalt, die sich in keine Schablone pressen lässt, einen Begriff. Die Arnims gehörten einem urmärkischen Geschlecht an. Weil sie dort lebten, wo sie immer gelebt hatten, wurden sie wie alle Brandenburger kraft des Krönungsaktes in Königsberg 1701 zu Preußen. Bei der Geburt Achim von Arnims regierte Friedrich II., bei Ausbruch der französischen Revolution war Arnim acht Jahre, bei der Niederlage Preußens fünfundzwanzig, und er starb mit knapp fünfzig im Wetterleuchten von Revolutionen. Einer seiner Biografen nannte Arnims Leben „ereignisarm“. Gewiss, er stand nicht auf Barrikaden, kämpfte nicht mit den Lützowern, hielt keine flammenden Reden vor vaterländisch begeisterten Studenten, aber „ereignisarm“ kann dieses Leben nur nennen, wer den Abenteuern des Geistes keine Realität zugesteht. Arnim entdeckte „eine Heimlichkeit der Welt, die mehr wert in Höhe und Tiefe, Weisheit und Lust, als alles, was in der Geschichte laut geworden.“
Am 26. Januar 1781 wurde Ludwig Achim von Arnim als zweiter Sohn von Amalie, geborene Labes, und Joachim Erdmannsdorf von Arnim in Berlin geboren. Die Quellen berichten nicht, ob an diesem Tag Schneestürme übers Land fegten oder schon ein Ahnen von Frühling in der Luft lag. Aber eine Kälte muss in dem Haus gewesen sein, die tiefer drang als alle Minusgrade, denn die junge Mutter starb wenige Tage nach der Geburt des Knaben. Ein hilfloser Vater trat für ein Entgelt von tausend Talern die Erziehungsrechte für seine beiden kleinen Söhne an die Großmutter ab.
Caroline von Labes war, was man heute eine Karrierefrau nennen würde. Vom Elternhaus mit allen bürgerlichen Tugenden und Fähigkeiten einer tüchtigen Hausfrau ausgestattet, stand ihr Sinn nach Höherem. Die Tochter des Potsdamer Gewehrfabrikanten Daum hatte in erster Ehe 1753 den legendären Kammerdiener Friedrichs II., Michael Gabriel Fredersdorff, geheiratet. Mit ihm lebte sie auf Gut Zernikow, einem Geschenk des Königs an seinen Günstling. Fredersdorff, krank und bald bettlägerig, starb nach fünf Jahren. Die kinderlose Witwe heiratete wieder, die Ehe wurde bald geschieden. 1760 vermählte sich die nunmehr Dreißigjährige mit Hans Labes, einem skurrilen und geltungsbedürftigen Emporkömmling aus bescheidenen Verhältnissen, der auf einen von Kaiser Franz verliehenen Adelstitel verweisen konnte, der in Preußen jedoch nicht anerkannt wurde. Aus dieser Ehe gingen eine Tochter und ein Sohn hervor. Ungeachtet ihres bürgerlichen Standes unterhielt Caroline intensive Verbindungen zum Hof in Berlin. An Selbstvertrauen mangelte es ihr nicht.
Als Hans Labes 1776 auf Zernikow starb, nahm Caroline die Verwaltung des verschuldeten Besitzes selbst in die Hand. Sie wirtschaftete so sparsam und rentabel, dass sie 1780 das Ländchen Bärwalde mit dem Schloss Wiepersdorf erwerben konnte. Durch die Ehe ihrer Tochter Amalie mit dem einstigen Diplomaten und nunmehrigen Intendanten des Königlichen Schauspiels, Joachim Erdmann von Arnim, gelang es Caroline 1777, sich mit dem alten Adel zu verschwägern. Als Mitgift schenkte sie der Tochter das Ländchen Bärwalde. Nach langjährigen Mühen erreichte Caroline 1786, dass Friedrich Wilhelm II. ihr und ihrem Sohn aus der Ehe mit Hans Labes das Adelsdiplom verlieh.
Da war der Enkel Ludwig Achim fünf Jahre alt und wusste die Tüchtigkeit seiner Großmutter noch nicht zu würdigen. Er empfand nur „die trübe gepresste Luft einer zwangvollen Kinderstube“, aus der er sich „in verzweifelnder Langeweile in allerley Gelehrsamkeit stürzte.“ Hofmeister überwachten die Ausbildung des Knaben, bis er 1793 ins bürgerliche Joachimsthalsche Gymnasium eintreten durfte. Diese Erlaubnis verdankte er seinem Onkel Graf Schlitz auf Zernikow, dem Bruder seiner Mutter, bei dem Arnim oft die Ferien verbrachte. Hier schwelgte er in der großen Bibliothek seines Großvaters. Hans Labes hatte die Gäste seiner zahlreichen Trinkgelage dazu angehalten, bei jedem Besuch als Gastgeschenk ein Buch mitzubringen, und so eine erstaunliche Bibliothek zusammengetragen.
Seine Kindheitserfahrungen machten Arnim misstrauisch gegen die so viel gerühmten Familienbande. 1808 schrieb er seinem Freund Clemens Brentano: „Unter Familie versteh ich verschiedenartige Leute, die aus einer wunderlichen Ansicht von Verwandtschaft sich immer einander drängen, um sich zu stoßen, statt sich zu küssen, es ist ein verruchtes Wort Familie, ist auch nicht Deutsch, das alle wahre Rechte zwischen Blutsverwandten und alle freye Liebe unter ihnen erstickt, mit ein paar Geburtstagskuchen das grobe Brod des ganzen Jahres ersetzt.“
Das Studium der alten und neueren Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften entschädigten den heranwachsenden Arnim für den Mangel an geselligem Familienleben. Er vergrub sich so sehr in die Bücher, dass die Lehrer eine Mäßigung seines Eifers anmahnten, um Schaden von seiner Gesundheit abzuwenden. In seiner Umgebung begegnete man den Ideen der französischen Revolution mit Ablehnung, umso mehr begeisterten sie den Gymnasiasten. Auch in späteren Jahren blieb Arnim dabei, dass die französische Revolution von 1789 „die größte Volksbewegung“ seiner Zeit gewesen sei. Er feierte in ihr „die Unterdrückung der Staatsgewalt des Adels und der Geistlichkeit“ und die Utopie „eines neuen Rittertums des Geistes und der Wahrheit“.
In seiner Abiturrede von 1798 „Das Wandern der Künste und der Wissenschaften“, von Herders „Ideen zur Philosophie der Menschheit“ inspiriert, rief der junge Arnim aus: „Der Weltbürger sieht keinen Wandel mehr und keine Vernichtung; wo Weisheit fortlebt, ist sein Vaterland, wo eine Rose blüht, frohe Empfindung, er kennt keine Vernichtung, denn er sieht nur Übergang, wo gereinigt die Völker aus dem Schutt ihrer Torheiten hervorgehen. (…) Segen liegt ihm in der Zerstörung, sie vernichtet nur den widerstrebenden Sinn, der Sinn ewiger Wahrheiten ist unerschütterlich wie die ewigen Gesetze der Natur.“ Hier schlug Arnim einen Grundakkord seines Lebens an: das Fortschreiten und Verschmelzen der Künste und Wissenschaften bis zu einer Höhe des Weltbürgertums, das alle Menschen gleich umschließt, „ohne Vaterland zu kennen oder Stamm.“ Die Sehnsucht des Jünglings, der sich nirgendwo verwurzelt fühlte, ging ins Weite und Ungebundene. Aber er verkannte auch nicht die Gefahren seiner erträumten Welt des Geistes: „Wie viele erforschen nicht und vergleichen unablässig, was jedes Volk für Wissenschaft und Kunst getan; (…) aber nur zu oft geleitet von Ehrgeiz, erzeugen sie dadurch Dünkel und Verachtung, sie erheben die Wissenschaften mit der einen Hand, während sie mit der anderen den Glanz ihrer Zweckmäßigkeit ihnen rauben, und wer zweifelt dann noch, wer wohlgefälliger sei der Gottheit: der Bildner, der vom Wunsche geleitet, sein Andenken zu verlängern, den schönsten Hochaltar weiht, oder der Landmann, welcher unter frommen Gebete die Erstlinge seiner Früchte darauf opfert? Jeder, der Wissenschaft übt, muss diese Tugend erwerben, oder ihn körnt nur ein buntes Bildchen, das er bald über ein anderes Spiel vergisst, und jeder muss zu diesem Weltsinne sich bilden in seinem Kreise des möglichen Wirkens, der höchsten Nutzbarkeit und der dankbarsten Empfänglichkeit.“
Nicht Ruhmsucht und Selbstdarstellung zieme einem Menschen des Geistes, sondern Dienst am Geist der Wahrheit und „dankbarste Empfänglichkeit“, verkündete der Abiturient. Er sollte zeitlebens an dieser Maxime festhalten.
Vorerst ging Arnim als Student der Rechte und der Physik an die Universität Halle. Die Naturwissenschaften zogen ihn an, eine Zeitlang glaubte er, auf dem Gebiet der Physik Herausragendes leisten zu können. Er schrieb viel beachtete Beiträge für die Annalen der Physik. Daneben verfolgte er aufmerksam die politischen Ereignisse und nahm auch die sozialen Missstände seiner Zeit wahr, wie ein Aufsatz über das Freiberger Bergwerk beweist. In Halle verkehrte er viel bei dem ehemaligen Berliner Kapellmeister, Komponisten und Publizisten Johann Friedrich Reichardt, wo er erstmals dessen Schwager Ludwig Tieck begegnete. Ausflüge ins nahe Bad Lauchstädt zu den Gastspielen des Weimarer Theaters mit Stücken von Goethe und Schiller und die Teilnahme an literarischen Zirkeln öffneten ihm die Welt der Kunst.
Der Wechsel zur Göttinger Universität im Frühjahr 1800 bedurfte einer königlichen Sondererlaubnis, denn preußische Untertanen sollten in Preußen studieren. Doch Arnims Begründung, er wolle seine Kenntnisse der Technologie, Mineralogie und Zoologie vertiefen, was in Halle nicht möglich war, überzeugte. In Göttingen geriet Arnim in einen Freundeskreis, den die Begeisterung für Goethe einte. Der Physiker August Winkelmann beschrieb diesen Kreis so: „Ein Dichter hatte uns alle geweckt; der Geist seiner Werke war der Mittelpunkt geworden, in dem wir uns selbst und einander wiederfanden; mannigfach voneinander unterschieden waren wir, wie unsere Zeitgenossen, ohne Religion und Vaterland; wer die Liebe kannte, fühlte sie zerstörend – ohne diese Dichtungen wäre der lebendige Keim des besseren Daseins in uns zerstört wie in so vielen. Im Genusse dieser Werke wurden wir Freunde, in Erkenntnis seiner Vortrefflichkeit gebildet, mit dem Leben einig, zu allen Unternehmungen mutig, zu einzelnen Versuchen geschickt.“
Noch nie hatte ein Kreis von Gleichgesinnten Arnims Saiten so zum Klingen gebracht, noch nie hatte er die Süße und Fruchtbarkeit einer Freundschaft so empfunden wie zu dem zwei Jahre älteren Clemens Brentano. Im Juni 1801 lernte er hier auch den bewunderten Goethe kennen.
In den vielfältigen Anregungen, leidenschaftlichen Auseinandersetzungen stellte sich ihm immer drängender die Frage nach dem Sinn künftigen Tuns. Wollte er als Wissenschaftler seine Tage damit hinbringen, Bücher für „Bücherwürmer“ zu schreiben oder wollte er als Schriftsteller pädagogisch und aufklärend in die Gesellschaft hineinwirken? Wie Herkules, bekannte er später, habe er am Scheidewege gestanden. Er machte es sich nicht leicht. Seine ernste Natur, zu Disziplin und Leistung erzogen, neigte zur Hingabe aller seiner Kräfte an das, wofür er sich entschied. Er verwechselte das Leben nicht mit seinen Träumen vom Leben.
Im Herbst 1801 schrieb er, noch stark von Goethes Werther beeinflusst, seinen ersten Roman Hollins Liebesleben. Schon ein Jahr später bekannte er in einem Brief: „Der verdammte Werther und meine falsche Verehrung der Göthischen Formen hat mich damals verführt, das Beste aus dem Hollin wegzuschneiden.“
Schnell emanzipierte sich Arnim von dem verehrten Meister. Die geschlossene klassische Form, so meinte er, erfasste die Realität nicht. Nur durch eine Vermischung der Genres, durch Einschübe, Vielfalt der Formen, hintergründigen Humor und untergründige Fantasie konnte die Fülle des Lebens Eingang in die Dichtung finden. Dass dies auf Kosten der Lesbarkeit ging, bemerkte Arnim bald. In späteren Jahren straffte er seine Werke, aber immer noch verlangte er dem Leser ein Äußerstes an Konzentration ab.
Nach Abschluss des Studiums trat er im November 1801 mit seinem Bruder Karl Otto eine Bildungsreise an, die ihn durch Deutschland, die Schweiz, Norditalien, Frankreich und England führte. Großmutter Labes stattete sie mit den nötigen Mitteln und vielen Ermahnungen aus, die mehr Karl als Achim galten. Karl hatte ein lustiges Studentenleben geführt, während Achim sich dem Studium mit Ernst und Fleiß gewidmet hatte und nur eine gewisse Schreibfaulheit der Großmutter Anlass zum Tadel gab. Außer der Verwandtschaft verband die Brüder wenig.
Damals wie heute und eh und je ging man auf Reisen, um neue Eindrücke zu sammeln, den Blick zu weiten, Menschen kennenzulernen. Aber im Zeitalter der überfüllten Strände, überlaufenen Berglandschaften und Märkte, die auch in fernen Ländern nichts anderes bieten als zu Hause, ist die Fülle von Eindrücken kaum noch vorstellbar, die damals auf ein junges empfängliches Gemüt einstürmte. In den Postkutschen saßen die Reisenden eng beieinander, und spätestens wenn wieder einmal eine Achse gebrochen oder der Wagen umgestürzt war, kamen sie miteinander ins Gespräch, machten nützliche oder erheiternde Bekanntschaften. Zu Fuß unterwegs, wünschten sie sich einen guten Tag, einen guten Weg, gingen auch ein Stück zusammen oder hielten gemeinsam Rast, immer erfuhr man etwas Mitteilenswertes für die zu Hause auf Nachricht Wartenden. Orte, die man auf beschwerlichen Wegen erreicht hatte, wurden zum Ereignis. Viel Mühe verwandte man darauf, Sehenswürdigkeiten zu beschreiben und zu zeichnen, und so prägte sich das Geschaute und Erlebte unauslöschlich ein. In den oft schmutzigen Quartieren hielt es die Reisenden nicht lange, sie durchstreiften die Städte, suchten Geselligkeit in den Wirtshäusern und besuchten Unbekannte, denen sie ihre Vertrauenswürdigkeit durch Empfehlungsschreiben von gemeinsamen Bekannten kundtaten. Wer unterwegs war, musste alle Sinne und Fähigkeiten schärfen, denn keine der unzähligen Versicherungen von heute sorgte sich um den Reisenden, wenn ihm etwas zustieß. Verantwortlich für ihn war nur er selbst, Hilfe und Beistand in Notlagen konnte er erhoffen, aber nicht einfordern. Zurück in der Heimat, entdeckte er das vorher aus Gewohnheit nicht mehr Wahrgenommene und ordnete es in sein größer gewordenes Weltbild ein.
Dresden, Prag, Regensburg, Wien – Arnim genoss das Reisen und sein neues Leben. An den Freund Clemens schrieb er: „Wenn nur nicht alle Gedanken in der Sprache untergingen! Es ist mir jetzt ernst geworden mit der Poesie, ich habe ihren Zauberklang gehört, aus ihrem Becher getrunken, und ich tanze nun, wie es das unendliche Schicksal will (…)“ Als Dichter nannte er sich jetzt Achim von Arnim, den Vornamen Ludwig legte er zum Ärger seiner Großmutter ab.
Im Juni 1802 begegnete er im Garten der Schriftstellerin Sophie La Roche in Offenbach deren Enkelin Bettina Brentano. Sie war siebzehn und er einundzwanzig. Clemens Brentano wollte seinen besten Freund mit seiner liebsten Schwester verkuppeln. Achim galt als Inbegriff eines schönen und edlen Mannes, dessen Geistesgaben zu großen Hoffnungen berechtigten; Bettina als ein vielbegabtes, eigenwilliges und kapriziöses Mädchen. Achim war von Bettina angetan und zugleich befremdet. „Die ganze Richtung unserer Kräfte treibt entgegengesetzt“, beschied er Clemens.
Eine unvergessliche Rheinfahrt der beiden Freunde nach Koblenz schloss sich an. In den Gesängen der Schiffer, im Rauschen des Windes und der Wellen hörte Arnim Dichtung, „bald als Geschichte, bald als Naturereignis“. Er entwarf Pläne für eine Singschule der Poesie: Einrichtung von Druckereien, Schulen für Bänkelsänger, Sängerherbergen, Theaterschulen, um die Schätze der Volksdichtung ins allgemeine Bewusstsein zu heben. Der fantastische Plan ließ sich nicht verwirklichen, aber die Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn sollte entstehen.
Geschichte offenbarte sich Arnim auf dieser Reise als Dichtung und Dichtung als Geschichte: „Was da lebt und wird und worin das Leben haftet, das ist doch weder von heute noch von gestern; es war und wird und wird sein; verlieren kann es sich nie, denn es ist; aber entfallen kann es für lange Zeit, oft wenn wir es brauchen, recht eifrig ihm nachsinnen und denken. Es gibt eine Zukunft und eine Vergangenheit des Geistes, wie es eine Gegenwart des Geistes gibt, und ohne jene, wer hat diese?“
Hier klingt der Gedanke von der Allgegenwa...

Inhaltsverzeichnis

  1. Impressum
  2. Vorwort
  3. Vertraute Fremde
  4. Preußen und seine Frauen
  5. Geist und Macht in Potsdam
  6. Der Mensch ist keine Insel
  7. Sie machte Frieden: Maria Theresia und Friedrich II.
  8. Lasst Gott in euch leben: Gandhi und die Weltreligionen
  9. Die Stunde der Versuchung
  10. Der Weg zur Wahrheit: Henning von Tresckow
  11. Der Verzweiflung widerstehen: Emmi Bonhoeffer
  12. Dinge beim Namen nennen: Andrzej Szczypiorski
  13. Traum von Rom
  14. Begegnung mit Christine: Christine von Schweden
  15. Der König und sein Pater: Raymundus Bruns
  16. Der Zeit zwischen die Federn gesehen: Achim von Arnim
  17. Aus tiefer Not: Jochen Klepper
  18. Brief an meinen Enkel
  19. Nachweise
  20. Dank
  21. Sigrid Grabner
  22. E-Books von Sigrid Grabner