Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen
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Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Ein klinisches Handbuch

  1. 220 Seiten
  2. German
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Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Ein klinisches Handbuch

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Eating disorders in childhood and adolescence are becoming increasingly important. Anorexia nervosa and bulimia nervosa typically start in childhood and adolescence, and in some areas their prevalence is increasing. Binge-eating disorder, pica and rumination disorder, and disorder with avoidance and/or restriction of food intake have now been included in the ICD-11 and DSM-5 classification systems for the first time. This volume presents major new findings on the aetiology, diagnosis, treatment, and prevention of these conditions in accordance with the evidence-based guidelines in Germany and against the background of the current state of international research. It provides assistance in the treatment of these disorders & which often tend to become chronic & not only for all those working in hospitals and private practice, but also for the patients= parents and guardians. Both of the book=s editors have many years of experience in treating eating disorders and conducting research on them.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783170392045
I Krankheitsbilder

1 Anorexia Nervosa

Beate Herpertz-Dahlmann

Fallbeschreibung

Die 14-jährige Mara war schon immer pflichtbewusst und darauf bedacht, alles möglichst gut und zur Zufriedenheit ihrer Eltern und Lehrer zu erledigen. Sie berichtete, dass sie vor ca. einem halben Jahr begonnen habe, ihr Essverhalten zu verändern und Kalorien zu zählen. Schon vorher sei sie unzufrieden mit ihrem Aussehen gewesen, habe sich dick und unförmig gefühlt und sich häufig mit Gleichaltrigen verglichen. Mit Beginn der Veränderung des Essverhaltens habe sie sich täglich gewogen und intensiv Sport getrieben. So sei sie jeden Tag mindestens 5 km gejoggt, habe mit dem Stepper trainiert und zusätzlich Workouts durchgeführt. Vor ca. 2 Monaten habe sie völlig die Kontrolle über ihr Gewicht und ihr Essverhalten verloren. Ihr sei klar gewesen, dass ihr Gewicht zu niedrig sei, aber eine »innere Stimme« habe sie immer wieder darin bestärkt, abzunehmen. Jede geringste Gewichtszunahme habe sie völlig verzweifeln lassen. Schließlich sei auch ihre Stimmung immer trauriger geworden, und sie habe an nichts Anderes mehr gedacht als an Essen und ihr Gewicht. Vor ca. 3 Monaten habe die Menstruation ausgesetzt.
Die Mutter unserer Patientin habe bis zu ihrem 30. Lebensjahr an einer Magersucht (Anorexia Nervosa, AN) gelitten. Sie berichtete, sich jede Woche zu wiegen und sehr auf »gesunde« Nahrungsmittel zu achten. Der Vater gab an, sehr ordentlich zu sein und auch kleinste Ungenauigkeiten nicht tolerieren zu können.

1.1 Geschichte

Die Erstbeschreibung des Krankheitsbildes der Anorexia Nervosa erfolgte fast gleichzeitig durch die beiden Ärzte Sir William Gull in England und Ernest-Charles Laségue in Frankreich im Jahr 1873.
Im Jahr 1888 publizierte Sir William Gull im »The Lancet«, einer schon damals sehr bekannten medizinischen Zeitschrift, eine weitere Fallgeschichte über ein 14-jähriges Mädchen: Miss K.R. (
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Abb. 1.1) war das dritte von 6 Kindern, wovon eines bereits die Säuglingszeit nicht überlebte. Der Vater starb im Alter von 68 Jahren an Lungentuberkulose, die Mutter war bei guter Gesundheit. Die Schwester litt an unterschiedlichen »nervösen Symptomen«, die übrigen Geschwister waren nach Gulls Meinung gesund. Das betroffene Mädchen war bis zum Alter von 13 Jahren ein »rundliches, gesundes Mädchen«, welches ohne ersichtlichen Grund eine Abneigung gegenüber dem Essen entwickelte und kurze Zeit später die Nahrung bis auf eine halbe Tasse Kaffee oder Tee am Tag komplett verweigerte. Um Sir William Gull aufzusuchen, musste sie aus Nordengland anreisen und bestand darauf, vom Bahnhof zum Arzt zu Fuß zu gehen, obwohl sie aufgrund ihrer Auszehrung zahlreiche Kommentare von den anderen Fußgängern über sich ergehen lassen musste. Ihre Extremitäten waren blau verfärbt und kalt, eine organische Ursache fand sich bei einer Herzfrequenz von 46 pro Minute und einer Körpertemperatur von 36 Grad Celsius nicht. Die Patientin war der Meinung, dass es ihr gut ginge. Sir William Gull verordnete ihr alle paar Stunden die Einnahme leichter Kost. Nach 6 Wochen berichtete der Hausarzt, dass es ihr besser ginge; zweieinhalb Monate nach der Vorstellung bei Sir William Gull schrieb die Mutter, dass sie sich keine Sorgen mehr wegen K. mache. Der Autor führte die Ursache des Problems auf eine »Entartung des Ego« zurück; am meisten verwunderte ihn der anhaltende Bewegungsdrang, obwohl die Abmagerung seiner Patientin so ausgeprägt war.
Heute entnehmen wir der Medizinhistorie, dass es die AN mit hoher Wahrscheinlichkeit schon Jahrhunderte früher gab. Ein weiteres berühmtes Beispiel für diese Störung ist Katharina von Siena, deren Lebensgeschichte (1347–1380) im Mittelalter ebenfalls eine AN vermuten lässt.
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Abb. 1.1: Photographie der abgemagerten Patientin am 21.4. 1887 (Gull 1988, S. 516)

1.2 Definition und Klassifikation

Die AN ist gekennzeichnet durch einen ausgeprägten Gewichtsverlust, eine tiefgreifende Angst vor einer Gewichtszunahme (Gewichtsphobie), eine überwertige Idee bezüglich Figur und Gewicht (»Ich bin nichts, wenn ich nicht dünn bin«), durch Maßnahmen, um diesen Gewichtsverlust zu erreichen (z. B. Fasten, Sport), und eine Körperbildstörung.
Die Kriterien für das Vollbild der AN nach DSM-5 und ICD-11 gehen aus
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Tab. 1.1 hervor.
Es gibt keine nachvollziehbare Begründung, warum laut Kriterien der ICD-11 im Erwachsenenalter die 10. Body-Mass-Index (BMI)-Perzentile (18,5 kg/m2), im Kindes- und Jugendalter aber die 5. BMI-Perzentile als Gewichtsschwellenwert herangezogen wird. Vielmehr ist anzunehmen, dass die physischen und psychischen Konsequenzen des Hungerns (Starvation) für einen sich entwickelnden Organismus gravierender sind als für Erwachsene. Aus diesem Grund wurde in den deutschen S3-Leitlinien die 10. BMI-Perzentile als Gewichtsschwellenkriterium beibehalten (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften [AWMF] 2020).
Beide Klassifikationssysteme unterscheiden einen restriktiven (Gewichtsabnahme durch Fasten oder extensiven Sport) und einen Binge-/Purge - Typ (Auftreten von Heißhungerattacken/ Erbrechen, Abführmittelmissbrauch),
Tab. 1.1: Diagnostische Kriterien der Anorexia Nervosa (abgekürzt)
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wobei dem Binge-/Purge-Typ in vielen Studien eine schlechtere Prognose zugeschrieben wird (Fichter et al. 2017). Die beiden Formen der AN weisen eine unterschiedliche somatische und psychische Komorbidität auf (
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Kap. 1.2.2 und
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Kap. 1.4).
Eine bedeutsame Veränderung gegenüber DSM-IV und ICD-10 ist der Wegfall des Amenorrhoe-Kriteriums, da dieses auf Jungen, prämenarchale Mädchen und Frauen, die Kontrazeptiva einnehmen, nicht angewendet werden kann.
Beide Systeme unterscheiden unterschiedliche Schweregrade in Abhängigkeit vom Gewicht (»AN mit signifikant niedrigem Körpergewicht [≤ 5. Perzentile]« und »AN mit gefährlich niedrigem Körpergewicht [≤ 0,3. Perzentile]«); allerdings zeigen diverse Metaanalysen und Studien auf, dass die Gewichtsspezifizierung wenig zu einer klinischen Validierung beiträgt (z. B. Engelhardt et al. 2021).
Zudem wird in der ICD-11 vorgeschlagen, das numerische Gewichtskriterium einem Gewichtsverlust von mehr als 20 % des ursprünglichen Gewichtes innerhalb von 6 Monaten als diagnostisches Kriterium gleichzusetzen. Dies entspricht dem klinischen Eindruck, nach dem Patientinnen1 mit einem entsprechend hohen Gewichtsverlust eine ähnlich schwerwiegende Krankheitssymptomatik aufweisen wie Patientinnen mit sog. typischer AN und niedrigem Körpergewicht.
Im Vergleich zu DSM-IV und ICD-10 ist nach DSM-5 die Feststellung einer Voll- (keine Kriterien mehr erfüllt) oder Teilremission (Gewichtskriterium nicht mehr erfüllt) möglich, nach ICD-11 nur die einer Vollremission. Die Einführung eines Remissionskriteriums ist auch aus klinischer Sicht sinnvoll, da es die hohe Rückfallgefahr bei der AN verdeutlicht. Möglicherweise erleichtert eine solche Klassifikation auch die Finanzierung einer längeren therapeutischen Betreuung nach Gewichtsnormalisierung durch die gesetzliche Krankenversicherung.
Die sog. atypische AN wird immer häufiger diagnostiziert; im US-amerikanischen Sprachraum machen Patientinnen mit atypischer AN ca. ein Drittel der stationären Klientel aus (für eine Übersicht s. Garber et al. 2019). Im DSM-5 fällt die atypische AN unter die »anderen näher bezeichneten Fütter- und Essstörungen«. Bis auf das Gewichtskriterium sind in dieser Definition alle Kriterien für die AN erfüllt. In der ICD-11 taucht der Begriff »atypische AN« nicht mehr auf. Als Klassifikationsmöglichkeit für eine Krankheitsform, die nicht mehr alle Kriterien für die AN erfüllt, wird »andere spezifische AN« oder »sonstige AN« angeboten (s. auch Übersicht bei Gradl-Dietsch et al. 2020). Der klinische Schweregrad der atypischen AN ist oft nicht geringer als der der typischen AN (s. auch
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Kap. 1.3).

1.3 Symptomatik

1.3.1 Psychische Veränderungen

Viele junge Patientinnen berichten, dass die Essstörung mit dem Wunsch begann, sich gesünder zu ernähren. Die Mädchen (oder selten Jungen) stellen ihre Kost auf vegetarische oder manchmal vegane Nahrungsmittel um. In einer rezenten Erhebung bei Erwachsenen zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen vegetarischer/veganer Ernährung und erhöhten Scores in einem Essstörungsinventar (Paslakis et al. 2020). In einem zweiten Schritt verzichten die jugendlichen Patientinnen auf Süßigkeiten und Kuchen und lassen schließlich ganze Mahlzeiten weg, meist die, die nicht der Kontrolle der Eltern obliegen. Ein Teil der Patientinnen zelebriert seine Mahlzeiten, arrangiert das Essen auf dem Teller in einer bestimmten Ordnung und braucht lange Zeiträume für wenige Bissen, die im Verlauf immer kleiner werden. Viele entwickeln ein großes Interesse für Kochrezepte und Kochen und bereiten gern Mahlzeiten für andere zu, ohne mitzuessen.
»Das Essen konnte ich durch die Magersucht nicht mehr genießen, eher wurde ich durch Schuldgefühle nach den Mahlzeiten geplagt. Wenn ich mit Freunden nach der Schule ins Shopping-Center gegangen bin, war ich die, die den anderen beim Essen zugesehen hat und häufig noch im Kopf berechnet hat, wie viele Kalorien die anderen aufnehmen. Dasselbe habe ich, wenn ich gegessen habe, auch gemacht – Kalorien gezählt. Meine müden Gedanken kreisten ums Essen, Tag ein-, Tag aus. Ich zog mich zurück, um bloß nicht mit Freunden Essen gehen zu müssen, und wenn es so weit kam, lernte ich vorher die Speisekarte auswendig.«
Bericht einer 15-jährigen Patientin
Vor allem jüngere Patientinnen fürchten sich sogar vor dem Trinken von Wasser, weil sie annehmen, dass der »Bauch« davon dicker würde. Unzureichende Trinkmengen können eine Exsikkose und damit eine lebensgefährliche Situation zur Folge haben.
Die Patientinnen wiegen sich oft mehrfach am Tag, betrachten sich immer wieder im Spiegel, vergleichen sich mit den Fotos anderer Mädchen im Internet und finden sich zu dick. Oft nimmt paradoxerweise das Gefühl, zu dick zu sein, mit dem Gewichtsverlust zu. Wenn die Waage morgens einen erneuten Gewichtsverlust anzeigt, ist es für die Patientinnen ein guter Tag, ansonsten sind sie oft völlig verzweifelt. Manche Patientinnen können sehr genau berichten, ab welchem Gewicht sie die Kontrolle über die Gewichtsabnahme verloren hatten.
»Du, Magersucht, lässt mich nie vergessen, wie fett und eklig ich bin. Dass ich etwas ändern will, ändern muss. Du lässt mich den Hunger vergessen, die Erschöpfung, die Schwäche. Du lehrst mich das Motto »Wer schön sein will, muss leiden« zu leben. Ich leide, und wie! Aber das ist okay, ich leide gern. Um perfekt zu werden.«
Brief einer 15-jährigen Patientin »An die Magersucht«
Neben dem Fasten treiben viele exzessiven Sport, nutzen jede Gelegenheit zur Bewegung, machen ihre Schulaufgaben im Stehen und besuchen täglich ein Fitnessstudio. Oft wird der Sport als Zwang erlebt, und die Patientinnen müssen trotz größter Erschöpfung ihre festgelegten Kilometer laufen. Im Verlauf der Erkrankung ziehen sie sich immer mehr von ihren Freundinnen und Freunden zurück, werden depressiv, ängstlich und zwanghaft und entwickeln eine altersuntypisch enge Beziehung zu ihrer Familie. In vielen Fällen stagniert die psychosexuelle Entwicklung. Viele der Verhaltensweisen sind starvationsbedingt, wie es Keys et al. (1950) in dem berühmt-berüchtigten Minnesota-Experiment in den 1940iger Jahren in den USA zeigen konnten. In diesem...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. I Krankheitsbilder
  7. II Übergreifende Kapitel
  8. III Verzeichnisse
  9. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  10. Sachwortregister