Unter elenchos, âPrĂŒfung, Untersuchung, Widerlegungâ, versteht man die sokratische Methode der widerlegenden ĂberprĂŒfung von Thesen im GesprĂ€ch, die insbesondere in den frĂŒhen platonischen Dialogen vorkommt.1 In diesen Dialogen werden die Meinungen der GesprĂ€chspartner in Bezug auf ein bestimmtes Thema von Sokrates2 durch eine Reihe von Fragen geprĂŒft. Diese Themen kommen zumeist in der Struktur âWas ist X?â zum Ausdruck, so z. B. âWas ist Besonnenheit?â (Charmides), âWas ist Frömmigkeit?â (Euthyphron), âWas ist Tapferkeit?â (Laches), âWas ist das Schöne?â (Hippias Major), âWas ist Tugend?â (Menon), âWas ist Rhetorik?â (Gorgias).3 Nachdem eine solche Frage von Sokrates gestellt wird, versucht sein GesprĂ€chspartner, meistens ein prima facie Sachkundiger auf dem betreffenden Gebiet, eine Antwort darauf zu geben. Dennoch erweist sich seine These durch den sokratischen elenchos als entweder falsch oder als nicht schlĂŒssig begrĂŒndet, da die Argumentation unter der Leitung von Sokrates schlieĂlich dazu fĂŒhrt, dass der GesprĂ€chspartner in Widerspruch zu seiner Anfangsbehauptung gerĂ€t.4 Es lĂ€sst sich deshalb auch gut verstehen, warum der sokratische elenchos sich vor allem in den aporetischen Dialogen findet.
Anders als in den spĂ€teren Dialogen, in denen Sokrates mehrmals ganz deutlich von seiner Methode (ÎŒáœłÎžÎżÎŽÎżÏ) redet,5 lĂ€sst Platon seinen Sokrates in den frĂŒhen Werken im Grunde nie direkt ĂŒber die von ihm praktizierte Methode sprechen. Obwohl zur Schilderung der sokratischen PrĂŒfung verschiedene Wörter gebraucht werden, beispielsweise áŒÏÏÏ៶Μ, áŒÏáœłÎ”ÎčÎœ (âfragenâ), ζηÏΔáżÎœ, áŒÏΔÏ
Μ៶Μ, ÎŽÎčΔÏΔÏ
Μ៶Μ (âuntersuchenâ), áŒÎŸÎ”ÏᜱζΔÎčÎœ (âprĂŒfenâ), ÏÎșÎżÏΔáżÎœ, ÎŽÎčαÏÎșÎżÏΔáżÎœ, ÏÎșáœłÏÏΔÏΞαÎč, ÎŽÎčαÏÎșáœłÏÏΔÏΞαÎč (âbetrachten, untersuchenâ), áŒÎ»áœłÎłÏΔÎčÎœ (âprĂŒfen, widerlegenâ) usw., taucht eine allgemeine Benennung fĂŒr seine Methode jedoch nicht auf. Erst in der modernen Platonforschung wird die sokratische Methode in den frĂŒhen platonischen Dialogen als elenchos bezeichnet.6 Dennoch ist diese nachtrĂ€gliche Benennung insofern zutreffend, als man mit elenchos die durch Frage und Widerlegung erfolgende sokratische PrĂŒfung angemessen bezeichnen kann. Bemerkenswerterweise kommt der sokratische elenchos auch in manchen mittleren und spĂ€ten Dialogen vor, z. B. die PrĂŒfung dreier GesprĂ€chspartner in Bezug auf die Frage âWas ist Gerechtigkeit?â im Buch I der Politeia,7 die PrĂŒfung von Agathon in Bezug auf âWas ist Liebe?â im Symposion, die PrĂŒfung von Theaitetos in Bezug auf âWas ist Erkenntnis?â im Theaitetos usw.8 An einigen weiteren Stellen wird der elenchos ebenfalls diskutiert.9
In den Dialogen scheint es nicht selten der Fall zu sein, dass die GesprĂ€chspartner durch den sokratischen elenchos ein SchamgefĂŒhl empfinden. In der Tat wird der sokratische elenchos eben wegen dieses Schamelementes heftig kritisiert. In einer der frĂŒhesten Forschungen zu diesem Thema, nĂ€mlich R. Robinsons Platoâs Earlier Dialectic, wurde das Schamelement des sokratischen elenchos schon als durchaus negativ bewertet. Nach Robinson sei die sokratische Methode in der Tat ungerecht und unaufrichtig, da Sokrates seine GesprĂ€chspartner nicht durch den logos, wie er selbst behauptet, sondern durch Betrug und Ironie widerlege. Dadurch erklĂ€rt sich, warum so viele GesprĂ€chspartner des Sokrates ein starkes und negatives SchamgefĂŒhl empfinden.10 Robinsons Ansicht wird, bewusst oder unbewusst, weiterhin in einigen spĂ€teren Forschungen akzeptiert: z. B. vertritt D. Pekarsky in seinem 1994 erschienenen Aufsatz auch die Meinung, dass Sokrates auf Betrug angewiesen sei, um den gewĂŒnschten Erziehungszweck zu erreichen.11 Eine Ă€hnliche Ansicht finden wir auch bei G. A. Scott, nach der die sokratische Erziehungsstrategie im Wesentlichen destruktiv sei: âWe have seen that to bring someone to admit ignorance often requires a powerful chastening under Socratesâ stewardship, and examples of such verbal assaults, in which the philosopher derives someone to the brink of shame or humiliation, can be found throughout the dialogues.â12 In der jĂŒngsten Monographie Socratic Moral Psychology vertreten Th. C. Brickhouse und N. D. Smith ebenfalls die Meinung, dass der sokratische elenchos eine Art DemĂŒtigung darstellt, also âinvolving shaming othersâ oder âsubjecting them to a kind of corrective punishmentâ.13 In diesem Kapitel ziele ich darauf ab, den sokratischen elenchos in dieser Hinsicht zu rehabilitieren und zu zeigen, dass es keineswegs die Absicht des Sokrates ist, durch Betrug und Ironie seine GesprĂ€chspartner zu widerlegen; die Existenz der verschiedenen Arten von Scham bei Platon deutet eher darauf hin, dass die Beziehung zwischen Scham und elenchos viel komplizierter als vorher gedacht ist.
Dieses Kapitel gliedert sich in fĂŒnf Teile. Der erste Teil konzentriert sich auf die Standardinterpretation von Robinson, nach der der ungerechte Charakter des sokratischen elenchos ein negatives SchamgefĂŒhl bei den meisten GesprĂ€chspartnern hervorbringt, das im Grunde genommen nicht dabei hilft, dass diese sich verbessern (1.1). Aufgrund dieses VerstĂ€ndnisses scheint Sokrates den Sophisten Ă€hnlich zu sein, die sich des elenchos als eines wichtigen Mittels bedienen, um die Gegner zu beschĂ€men und somit die Rede-Agone zu gewinnen (1.2). Im Gegensatz zu dieser Interpretation versuche ich, den sokratischen elenchos zu rechtfertigen, indem ich zeige, dass sich die sokratische Methode nicht nur von dem sophistischen elenchos unterscheidet, sondern geradezu als Gegensatz zum Letzteren zu betrachten ist (1.3). Das bedeutet jedoch nicht, dass Scham ĂŒberhaupt keine Rolle in dem sokratischen elenchos spielt. Anstatt auf einer Art unfruchtbarer und negativer Scham beruht der sokratische elenchos eher auf einer nach innen gerichteten, positiven Scham, die uns bei der Wahrheitssuche und der tugendhaften Lebensweise helfen kann (1.4). FĂŒr die bei manchen GesprĂ€chspartnern in den platonischen Dialogen auftretende negative Scham sollte Sokrates in den meisten FĂ€llen nicht verantwortlich sein. Es wird sich im Folgenden herausstellen, dass die Ursache der negativen Erfahrung auf die GesprĂ€chspartner selbst zurĂŒckzufĂŒhren ist, denn ihnen fehlen wichtige dialektische Tugenden (1.5).
1.1 Zur Kritik an der Scham im sokratischen elenchos
Als ein Verfahren wird der sokratische elenchos manchmal stark angezweifelt und kritisiert. Robinson hat in seinem Werk Platoâs Earlier Dialectic â zweifellos eines der klassischen Werke auf dem Gebiet der Platonforschung â den destruktiven und negativen Aspekt des elenchos betont. Nach Robinson ist der sokratische elenchos im Wesentlichen sehr unaufrichtig (âinsincereâ): Sokrates behauptet meistens, dass er ĂŒber das diskutierte Thema nichts wisse; er meint auch, dass es in der Diskussion nur um die Sache, aber nicht die Person gehen solle (z. B. Grg. 457e); manchmal betont er sogar, der logos, nicht aber Sokrates, sei der Widerleger (Euthphr. 11d). Die Leugnung des eigenen Wissens und des persönlichen Aspekts der Widerlegung ist nach Robinson ganz unaufrichtig und betrĂŒgerisch, denn in der Tat ist sofort ersichtlich, dass Sokrates nicht nur ĂŒber mehr Wissen verfĂŒgt als seine GesprĂ€chspartner, sondern auch bereits von Anfang des GesprĂ€chs an darauf abzielt, seine GesprĂ€chspartner zu widerlegen:
This denial that he is conducting an elenchus is insincere, and constitutes what is known as the Socratic slyness or irony. The arguments could not be so workmanlike and purposeful, the results could not be so invariably negative, by divine inspiration or by mathematical probability. When we examine one of the arguments in detail, and see just what its logical structure is, we become convinced that from the very first of the secondary questions Socrates saw and intended the refutation of the primary answer [âŠ] The statements that he is âseeing whether the answer is trueâ are insincere.14
Nach Robinson ist es eben diese Unaufrichtigkeit bzw. âdie sokratische Ironieâ, die den GesprĂ€chspartnern Schande gebracht und Ărger hervorgerufen hat; dieser Ărger habe dann Sokrates vor Gericht gebracht und schlieĂlich seinen Tod verursacht:
The picture which we have so far obtained of the Socratic elenchus is by no means a favourable one. This elenchus involved persistent hypocrisy; it showed a negative and destructive spirit; it caused pain to its victims; it thereby made them enemies of Socrates; it thereby brought him to trial, according to his own admission in Platoâs Apology; and so it brought him to his death.15
Robinson hat sich vor allem auf die GesprĂ€chspartner, die Sokrates zĂŒrnen oder ihm gegenĂŒber Abneigung empfinden, bezogen: In der Politeia meint Thrasymachos, Sokrates solle nicht allein fragen, sondern auch antworten, da âfragen leichter als antwortenâ sei (R. 336c) â diesbezĂŒglich erhebt er gegen Sokrates einen Vorwurf und bezeichnet seine Methode als âjene bekannte Verstellung des Sokratesâ (áŒÎșΔ᜷Μη áŒĄ ΔጰÏΞÏ
áżÎ± ΔጰÏÏΜΔ᜷α ÎŁÏÎșÏᜱÏÎżÏ
Ï, R. 337a). Menon stellt einen Vergleich zwischen Sokrates und dem Zitterrochen an, der jeden, der ihm nahekommt oder ihn berĂŒhrt, erstarren lĂ€sst (Men. 80aâb). DarĂŒber hinaus können wir auch andere Beispiele finden. Im Gorgias z. B. wird Sokrates von einem seiner GesprĂ€chspartner â nĂ€mlich Kallikles â vorgeworfen, dass er ungerechterweise Tricks (Ï᜞ ÏÎżÏáœčÎœ) anwende und auf das Wort Jagd mache (Grg. 483a, 489b). Letztlich will Kallikles sogar ĂŒberhaupt nicht das GesprĂ€ch mit Sokrates weiterfĂŒhren (Grg. 497a ff.). In der Apologie gibt Sokrates selbst zu, dass er sic...