Ganz egal, ob es um den Klimawandel, um medizinethische Fragen wie jene bezüglich der Eindämmung einer Pandemie oder um das Interagieren im familiären Nahbereich geht, die Folgen des menschlichen Handelns sind in ethischer Hinsicht immer höchst relevant. Vermutlich gibt es keine Ethikerin und keinen Ethiker,1 die dies bestreiten würden. Umso mehr muss es verwundern, dass die weiterführende Frage, inwiefern die unterschiedlichen Arten von Handlungsfolgen ethisch von Bedeutung sind, sehr unterschiedlich und oft auch nur sehr vage beantwortet wird. Wenn ein wohlhabendes pensioniertes Ehepaar fünfmal jährlich für einen viertägigen Kurzurlaub nach Los Angeles fliegt, genügt es dann, auf die intendierte Erholung und deren gute Folgen hinzuweisen? Inwiefern ist der nicht intendierte, sicherlich aber in Kauf genommene Ausstoß einer größeren Menge an CO2 durch die Flüge ethisch relevant? Die christlich-theologische Ethik wurde spätestens durch Max Weber mit dem Vorwurf konfrontiert, letztlich eine „Gesinnungsethik“ zu vertreten.2 Dass sich dieser Vorwurf so nicht halten lässt, wurde vielfach angemerkt. Kirche und theologische Ethik verweisen in ihren ethischen Stellungnahmen regelmäßig auf die Folgen – sei es im Kontext politischer Entscheidungen, sei es in Kontexten des mitmenschlichen Nahbereichs.3 Auch philosophische Ethikerinnen und Ethiker haben längst wahrgenommen, dass theologische Ethiken teleologisch argumentieren. Der Vorwurf, dass religiöse und insbesondere deontologische Ethiken die Folgen des menschlichen Handelns nicht adäquat berücksichtigen oder nicht berücksichtigen können, ist dennoch nicht verstummt.4 Offensichtlich ist es in moraltheoretischer Hinsicht keineswegs selbstverständlich, dass und wie die Folgen in unseren ethischen Urteilen berücksichtigt werden müssen: Welche Bedeutung haben die jeweils ganz unterschiedlich vorausgesehenen oder voraussehbaren Folgen? Wiegen die bewusst in Kauf genommenen und die intendierten negativen Handlungsfolgen schwerer als diejenigen, die nicht vorausgesehen werden konnten? Welche Aufmerksamkeit schulden Akteurinnen und Akteure denjenigen möglichen Folgen, die im Einzelnen zwar nicht voraussehbar sind, die aber bei entsprechenden Maßnahmen doch ausgeschlossen werden könnten? Welche Gründe sind für die jeweiligen ethischen Einschätzungen zu nennen? An der Reflexion über eine begründete Gewichtung der verschiedenen Handlungsfolgen führt offenbar kein Weg vorbei.
Die katholische Moraltheologie kann für diese Aufgabe aus dem Vollen schöpfen: Sie blickt auf eine jahrhundertealte Tradition, die sowohl in handlungstheoretischer als auch in normativ-ethischer Hinsicht viele Einsichten weitertradiert hat. Auch für die These, dass es sich lohnt, eine intensive Auseinandersetzung mit utilitaristischen Ethiken anzustreben, sprechen gute Gründe: 1) Utilitaristische Ethiken erheben gegenüber deontologischen und religiösen Ethiken nicht selten den Vorwurf der Folgenvergessenheit. Nicht zuletzt deshalb galt und gilt der Utilitarismus vielen Theologinnen und Theologen als rotes Tuch. Utilitaristische Ethiken auf ihre Folgenreflexion zu befragen bedeutet daher, den Stier „bei den Hörnern“ zu packen und die kritische Auseinandersetzung gerade mit denjenigen Autoren zu suchen, die die Berücksichtigung der Folgen einfordern. 2) Vieles spricht zudem dafür, konsequentialistischen Autorinnen und Autoren eine besondere Kompetenz hinsichtlich der Folgen zu unterstellen. Nach utilitaristischem Verständnis sollen moralische Urteile allein von den Folgen her begründet werden. Da die Folgen für utilitaristische Ethiken von so zentraler Bedeutung sind, ist auf den ersten Blick zu erwarten, dass gerade die Beschäftigung mit ihnen einige weiterführende Einsichten in die Folgenthematik vermitteln kann. Eine kritische Auseinandersetzung mit alternativen Ethik-Modellen und traditionellen Gegnern kann nur von Gewinn sein für die Moraltheologie.
1.1 Die Wahl der Ansätze von J. J. C. Smart und Richard B. Brandt
Die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts hat nicht nur zu zunehmender Klarheit über die moraltheoretischen Grundannahmen des Utilitarismus geführt,5 sondern auch zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung dieser normativen Ethik in eine Reihe unterschiedlicher Varianten. Eine Diskussion der Folgenreflexion „des“ Utilitarismus ist deshalb nicht zu leisten: Die Antwort auf die Frage nach der normativen Bedeutung der Handlungsfolgen variiert je nachdem, welcher konkrete utilitaristische Ansatz als Gesprächspartner gewählt wird. Für die hier angezielte Beschäftigung mit der Folgenproblematik empfiehlt es sich daher, ein oder zwei konkrete, für die Folgenreflexion gut geeignete utilitaristische Ansätze auszuwählen. Im 20. Jahrhundert lassen sich insgesamt drei grundlegende Entwicklungslinien in der Ausdifferenzierung des Utilitarismus feststellen. Diese Zeit brachte für die Tradition utilitaristischer Ethiken erstens eine Ausdifferenzierung der Wertlehre: Neben dem klassischen Hedonismus wurden utilitaristische Ethiken mit robusteren Wertlehren (wie z. B. im sog. „ideal utilitarianism“) und der Präferenzutilitarismus entwickelt. Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts kam es zweitens zur Formulierung konsequentialistischer Ethikmodelle, die meist die utilitaristische Maximierungsthese oder den Bezug auf das Wohlbefinden aufgaben: Der Konsequentialismus als weiter gefasste Theorie in utilitaristischer Tradition entstand.6 Die dritte Entwicklungslinie wurde durch den Schritt zur indirekten Berücksichtigung der Folgen und die damit einhergehende Unterscheidung zwischen Handlungs- und Regelutilitarismus (bzw. Handlungs- und Regelkonsequentialismus) angebahnt.7 Diese Ausdifferenzierung führte zur Gegenüberstellung direkter und indirekter Anwendungen des Konsequenzprinzips, wobei es hier auch Mischformen gibt, wie bspw. den Zwei-Ebenen-Utilitarismus Richard M. Hares.
Angesichts des Anliegens einer möglichst differenzierten Reflexion über die Bedeutung der Handlungsfolgen empfiehlt es sich, die anstehende Diskussion auf die zuletzt genannte Ausdifferenzierung des Utilitarismus zu fokussieren und hierfür zwei paradigmatische utilitaristische Ethiker herauszugreifen. Die Wahl zweier beispielhafter Vertreter des Handlungs- und des Regelutilitarismus ermöglicht es, sowohl die direkte als auch die indirekte Anwendung des Konsequenzprinzips zu diskutieren. Der direkte Utilitarismus ist dem Geist des klassischen Utilitarismus am treuesten.8 Durch die Wahl eines direkt utilitaristischen Ansatzes wird somit sichergestellt, dass die ursprüngliche Radikalität des Utilitarismus sichtbar bleibt. Der Regelutilitarismus scheint auch deshalb ein interessanter Gesprächspartner zu sein, weil dieser Utilitarismus Regeln bzw. Normen begründen will. Der Regelutilitarismus mutet, um mit den Worten David Lyons zu sprechen, wie „ein Kind beider Häuser“ (a child of both houses) an:9 Er scheint ein Kind des Utilitarismus zu sein und zugleich ein Kind der Deontologie. Die Wahl eines regelutilitaristischen Gesprächspartners lässt daher hoffen, dass die Folgenreflexion so auch mit Blick auf die traditionelle Frage der Normbegründung vertieft werden kann.
Für die Wahl der utilitaristischen Ansätze J. J. C. Smarts (1920 – 2012) und Richard B. Brandts (1910 – 1997) sprechen mehrere Gründe. Ausschlaggebend scheint jedoch zu sein, dass diese beiden nach Einschätzung vieler als paradigmatische und zugleich äußerst wirkmächtige Vertreter der genannten Varianten des Utilitarismus gelten können. Dies belegen einerseits die einschlägigen Sammelbände mit Quellentexten zum Utilitarismus, die selbstverständlich Texte J. J. C. Smarts10 und Richard Brandts präsentieren.11 Die genannte Einschätzung der beiden Utilitaristen wird unabhängig von solchen Sammelbänden aber auch von vielen Ethikern direkt formuliert. Smart gilt vielen als der moderne Vertreter des klassischen Utilitarismus.12 An Smart zeigt sich der Utilitarismus nach Einschätzung vieler in seiner reinen, unangepassten Form.13 Richard Brandt dagegen erfand nicht nur den Begriff „Regelutilitarismus“. Er gilt auch als „der wahre Gründer“14 des modernen Regelutilitarismus und als derjenige Vertreter, der die am stärksten ausgearbeitete Version eines Regelutilitarismus vorlegte.15 Es muss nicht verwundern, dass sich auch Brad Hooker, der derzeit einflussreichste Vertreter des Regelkonsequentialismus, auf Brandt als Vorbild beruft.16
Die Wahl von J. J. C. Smart und Richard Brandt ermöglicht eine beispielhafte Diskussion sowohl des Handlungs- als auch des Regelutilitarismus – eine Diskussion, die durch eine gezielte Fokussierung auf die direkte und die indirekte Anwendung des utilitaristischen Konsequenzprinzips ergänzt werden kann.
1.2 Der moraltheologische Forschungsstand
Die Frage nach der normativen Bedeutung der Handlungsfolgen ist nicht identisch mit jener einer kritischen Diskussion des Utilitarismus. Auch in der nötigen Darstellung des Forschungsstandes muss deshalb unterschieden werden: M...