Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa
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Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa

Aufbruch in die Welt von heute

Heinz Schilling

  1. 480 Seiten
  2. German
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Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa

Aufbruch in die Welt von heute

Heinz Schilling

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Über dieses Buch

War das Christentum zu Beginn der Neuzeit in Fundamentalfeindschaft zerrissen und Grund schwerer Konflikte, nahm es im Verlauf des 30jährigen Krieges eine Wende zu Frieden und rechtlicher Anerkennung. Es ebnete damit dem pluralen Europa der Gegenwart den Weg.Heinz Schilling nimmt uns mit auf eine eindrucksvolle Zeitreise von der Reformation bis in die beginnende Moderne. Er erzählt anhand zahlreicher Beispiele, wie aus der einen lateinischen Christenheit das multikonfessionelle Europa der Frühen Neuzeit hervorging. Er schildert die Machtkämpfe um das Verhältnis von Politik und Kirche und veranschaulicht, wie diese Konflikte die weltanschauliche Pluralität der Moderne hervorbringen – ein Prozess, der unsere Welt bis heute entscheidend prägt.Heinz Schillings neues Werk ist eine fesselnde und der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Entstehungsgeschichte der modernen Welt aus den Wurzeln des Christentums, in der sich der Autor einmal mehr als ein Meister seines Fachs erweist.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783451827198

D. Erfahrungsfelder christlichen Lebens in der Frühen Neuzeit

1. Stadt und Kirche – Konfession als einigendes Friedensband und Instrument der Ausgrenzung[1]

Bürgergesellschaft und Religion

Städtische Siedlungen waren bereits in ihren Ursprüngen aufs Engste mit religiösen Bräuchen und kirchlichen Institutionen verbunden: „The city of the dead antedates the city of the living. In one sense, indeed the city of the dead is the forerunner, almost the core, of every living city“, stellt Lewis Mumford gleich zu Beginn seiner magistralen Universalgeschichte der Stadt fest.[2] In dieser langen Beziehungsgeschichte zwischen Religion und städtischer Siedlung brachten Reformation und konfessionelle Differenzierung eine einschneidende Wende hin zu neuzeitlichen Verhältnissen. „The German Reformation was an urban event“, „Die Reformation war ein städtisches Ereignis“, lautet eine vielzitierte Feststellung des englischen Reformationshistorikers A. G. Dickens.[3] Das konfessionelle Zeitalter, so ist zu ergänzen, hat die Konsequenzen gezogen – für die Neuorganisation des städtischen Kirchenwesens wie für Kultur und Mentalität des Bürgertums. Die anderthalb Jahrhunderte zwischen ca. 1500 und 1650 waren in der langen Beziehungsgeschichte zwischen Stadt und Kirche, die das lateinische Europa vom frühen Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein tief prägte, eine Etappe der Neuformierung und des Wandels.
Im lateinischen Europa basierte die Symbiose von Stadt und Kirche auf weiteren, spezifisch historischen und strukturellen Momenten. In dem gewaltsamen Zivilisationsbruch der Völkerwanderung waren es in erster Linie kirchliche Institutionen, die die Kontinuität urbanen Lebens von der Antike ins Mittelalter sicherten, in den italienischen Kommunen wie in den nordalpinen Bischofsstädten. Die Kirche richtete ihre Diözesanorganisation ganz auf die Städte aus. Bischöfe waren also von Anbeginn stadtsässig, ebenso die großen Kanonikerstifte. Bereits im frühen, verstärkt im hohen und späten Mittelalter wurden Städte zum Ziel von Wallfahrten und transkontinentalen Pilgerströmen, allen voran natürlich Rom, gefolgt von Toulouse mit gleich mehreren Apostelgräbern und Santiago de Compostela mit dem Jakobusgrab, dazu zahllose Pilgerstädte regionaler Bedeutung. Mit den Bettelorden der Franziskaner, Dominikaner oder Augustiner konzentrierten sich im späten Mittelalter auch die Klöster in den Städten, nachdem die älteren Orden – Benediktiner, Cluniazenser, Zisterzienser – landsässig gewesen waren. Die Kirche des lateinischen Christentums war im Alten Europa nicht nur Adelskirche, wie man sie angesichts der adligen Dominanz im Episkopat, des adligen Eigenkirchenrechts und der zahlreichen Adelsklöster auf dem Lande gerne charakterisiert. Sie war von Anfang an auch immer Stadtkirche.
Die Stadtsässigkeit der Kirche förderte entscheidend die organisatorische und geistige Durchdringung Europas durch das Christentum. Vor allem bei der Integration des „jüngeren Europa“, d. h. der vom Römischen Reich unberührten Randzonen, und bei dessen Angleichung an das „ältere Europa“ gingen Christianisierung und frühe Urbanisierung Hand in Hand. Nur Irland macht insofern eine Ausnahme, als dort die mittelalterliche Kirche von den Klöstern her organisiert wurde, während die dort ebenfalls stadtsässigen Bischöfe nachgeordnet blieben.
Indem auch die Parochialgliederung als untere Ebene der Kirchenorganisation auf die städtischen Siedlungen bezogen war, war jede der zahlreichen europäischen Stadtgründungswellen des Mittelalters wie der Frühen Neuzeit durch eine enge Verschränkung von Urbanisierung und Ausdifferenzierung kirchlicher Organisation charakterisiert. Auch die Industrialisierung, ja noch die Siedlungsverdichtungen, die die europäischen Städte seit Mitte des 20. Jahrhunderts weit ins Umland wachsen lassen, waren davon geprägt. Rund zwei Jahrtausende gehörte die Pfarrkirche zur Grundausstattung jeder Stadt und jedes Stadtteils, in der Regel ergänzt durch zahlreiche andere Kirchentypen und weitere kirchliche Institutionen, in der Moderne vor allem christliche Krankenhäuser, Kindergärten und Altersheime. Die gewaltigen, meist den Kaufmannsheiligen Nikolaus oder Maria geweihten Backsteinkirchen der mittelalterlichen Hansestädte von Brügge im Westen bis Danzig, Reval und Königsberg im Osten zeugen davon ebenso wie die Hof- und Metropolitankirchen in den Haupt- und Residenzstädten der Neuzeit – etwa St Paul’s im Herzen des Londoner Handels- und Hafenbezirkes oder die vier Dome in der Mitte von Berlin. Dass die Hauptkirchen der Hansestädte der städtisch-bürgerlichen Selbstdarstellung dienten, die Dome der Haupt- und Residenzstädte dagegen das Königtum, den Hof und andere nichtbürgerliche Kreise der Stadtbewohner einbezogen, zeigt die Flexibilität und soziale Anpassungsfähigkeit der europäischen Symbiose von Stadt und Kirche.
Hinzu kommt, dass das eingangs beschriebene religionssoziologische Profil Europas mit seinem besonderen Verhältnis zwischen Religion und Politik, Kirche und Gesellschaft in besonderer Weise der Stadt und der bürgerlichen Lebensform entsprach. Die spezifische Wandlungsdynamik dieses lateineuropäischen Kirchen-Welt-Modells traf in den Städten und ihren bürgerlichen Gesellschaften auf eine Konstellation, die ebenfalls auf Wandel angelegt war. Bereits im Mittelalter traten bürgerliche Eliten in Konkurrenz zur Kleriker- und Verwaltungselite der Kirche. Das daraus resultierende Gemisch von Zusammenarbeit und Konflikten, von sich gegenseitig stärkenden und ergänzenden Aktionen, von kirchlichen und bürgerlichen Festen und Riten etc. beeinflusste das städtische Leben und den bürgerlichen Alltag in einer Tiefe, die moderne, an die Säkularisation gewöhnte Menschen sich kaum noch vorstellen können. In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten waren nahezu alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens in der einen oder anderen Weise von der Präsenz der Kirche in der Stadt und dem von ihr monopolhaft gestalteten religiösen Leben betroffen.
Das zeigt einprägsam bereits die städtische Topographie, konkret die Verteilung von kirchlichem und bürgerlichem Grund- und Immobilienbesitz sowie die augenfällige Dominanz der Kirchen gegenüber den Rathäusern in der Silhouette der frühneuzeitlichen Städte, eine Ungleichheit, die erst die laikale Stadt der Französischen Revolution zu beseitigen bestrebt war, indem sie das Hôtel de Ville architektonisch aufwertete und in Höhe und Raummaß den Kirchen anglich. Rechtlich und institutionell standen in den Städten Bezirke bürgerlicher und solche kirchlicher Kompetenz gegenüber. Die Stadtkirchen waren in sich differenziert, teils bürgernah wie namentlich die Bettelorden des Spätmittelalters, deren Klosterkirchen gerade Rats- oder Bürgerkirchen waren, teils bürgerfern, ja antibürgerlich wie adlige Dom- oder Kollegiatstifte, Karthäuserklöster oder Benediktinerabteien. Schließlich drückte sich die zivil-kirchliche Verklammerung darin aus, dass die Stadt beziehungsweise die Bürgergemeinde häufig Teile der Kirchengebäude, meist der Hauptpfarrkirche, besaßen: Die Kirchtürme dienten der bürgerlichen Feuer- und Kriegswache, die Kirchenvorhalle als Ort des bürgerlichen Gerichtes oder der Versammlung der Bürgergemeinde. Nicht selten wurden diese Orte zum Ausgangspunkt von Aufruhr und bürgerlichem Widerstand gegen das Stadtregiment.
Prägend war die Symbiose von Kirche und Stadt auch im Rechtswesen und der Gerichtsbarkeit: Innerhalb der Städte gab es mehr oder weniger ausgedehnte Immunitätsbezirke, in denen nicht die bürgerliche, sondern die kirchliche Gewalt und Gerichtsbarkeit bestimmend waren. Sie wurden als „Freiheit“ charakterisiert – frei von bürgerlichen Kontrollen und Lasten. Im konfessionellen Zeitalter auch vom Religionsbann der herrschenden Kirche – so auf der „Großen Freiheit“ vor dem lutherischen Hamburg in Altona auf gräflich-holsteinischem Gebiet. Schlichtung von politischen oder wirtschaftlichen Konflikten und daran anschließende Neukonstituierung der städtisch-bürgerlichen Eintracht, des Stadtfriedens, waren immer auch kirchlich-sakrale Angelegenheiten. Vergleichbares gilt für Schule und Bildung, für Kranken-, Armen- und Altersfürsorge, für die städtisch-bürgerliche Mentalität und Frömmigkeit, für die symbolisch-rituelle Begründung und Festigung des Bürgerverbandes oder einzelner seiner Korporationen.
Konkret und noch heute erfahrbar wird dieser kirchliche Einfluss auf die alteuropäische Geschichte von Stadt und Bürgertum in den patrizischen oder bürgerlichen Grablegungen und Epitaphien, vor allem in den großen Bettelorden-„Bürgerkirchen“ in Florenz und Venedig, auch in Leeuwarden und Amsterdam; in den Kapellen, Patrozinienfeiern und Prozessionen der Zünfte oder Bruderschaften; in der religiös-kirchlichen Prägung herausgehobener Kasualien wie der Eröffnung von Magistratssitzungen, bei Vertragsabschlüssen, Kriegserklärungen und Friedensschlüssen; ebenso in der städtischen Selbstdarstellung.
Im Übergang zur Neuzeit war es die Reformation und die daran anschließende Konkurrenz der Konfessionskirchen, die das geistige wie materielle Leben in den Städten tief umpflügte und auf neue, neuzeitliche Grundlagen stellte. Für die engere Reformationsepoche ist insbesondere für Deutschland die nahe Verbindung von kirchen- und allgemein stadtgeschichtlicher Erneuerung detailliert beschrieben, für Reichs- ebenso wie für Hanse- oder einfache Territorialstädte.[4] In manchem einschneidender als die Reformation selbst waren Veränderungen und Formierungen, die die Städte im Zuge der Konfessionalisierung erfuhren. Davon waren auch und vor allem katholische Städte und das katholische Bürgertum betroffen.
Die Wandlungen der Konfessionalisierung betrafen nahezu alle im Mittelalter entstandenen städtisch-kirchlichen Überschneidungsfelder. Zwei Zusammenhänge sollen exemplarisch dargestellt werden – die städtische Topographie und Architektur und die städtisch-bürgerlichen Riten und Zeremonien.

Topographie und Architektur

Topographie und Architektur der europäischen Städte änderten sich im Zuge der Konfessionalisierung gründlich – und zwar am dramatischsten nicht in protestantischen, sondern in katholischen Städten. Zwar trat in den protestantischen Städten insofern eine radikale Veränderung ein, als die theologische wie jegliche rechtliche Legitimation für eine Sonderstellung von klerikalem Personal und Institutionen fortfielen und damit auch die dadurch begründeten besonderen, nicht bürgerlichen Personalverbände beziehungsweise Stadtbezirke. Durch die Reformation waren Kleriker zu Bürgern geworden![5] Unabhängig davon war die protestantische Stadt im Zeitalter des Konfessionalismus aber topographisch wie architektonisch bemerkenswert steril und statisch. Die Bauleidenschaft, die das spätmittelalterliche Bürgertum mit dem Ziel erfasst hatte, der ideellen Identität von civitas terrestris und civitas caelestis – von irdischer und himmlischer Stadt – im neuen, gotischen Stil architektonisch Ausdruck zu verleihen, war in den protestantischen Städten nahezu erloschen. Neue Sakralbauten entstanden nur, wo die Städte demographisch expandierten – so etwa in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Westerkerk in Amsterdam und die Neue Kirche im ostfriesischen Emden, oder wo Feuer oder andere Zerstörung es notwendig machten, wie einige Jahrzehnte später im Fall der St Paul’s Cathedral in London.
Auch Waisenhäuser, Hospitäler, Siechen- und Altersheime, Schulen und Universitäten, auf die sich die öffentlichen Aktivitäten in den protestantischen Städten konzentrierten, erhielten nur ausnahmsweise Neubauten, typischerweise wiederum im expandierenden Amsterdam. In der Regel wurden solche Institutionen in säkularisierten mittelalterlichen Sakralräumen untergebracht. So in Marburg die Universität in der Brüderkirche, in Tübingen das Stift im Augustinerkloster, ähnlich in Dublin das Trinity College oder in Danzig, wo das Franziskanerkloster zum Gymnasium umfunktioniert wurde. In Zürich wurden in die gotische Predigerkirche fünf Stockwerke eingezogen, um dort das Stadtarchiv unterzubringen; in Göttingen erfolgte im 18. Jahrhundert der Umbau der mittelalterlichen Dominikanerkirche zur Universitätsbibliothek.
Im Zuge der Reformation war das Innere der Kirchen verändert worden, besonders radikal durch den Bildersturm oder vergleichbare Purifizierungen, vorrangig in reformiert-calvinistischen Städten. Lutherische Stadtkirchen wurden nicht selten mit neuen Bilderprogrammen ausgeschmückt, die die evangelische Lehre und ihren Bibelzentrismus veranschaulichten. Im äußeren Erscheinungsbild blieben die protestantischen Städte aber seltsam mittelalterlich. Speziell ihre sozialen und schulisch-wissenschaftlichen Anstalten bewahrten noch über Jahrhunderte hin einen kirchlich-klerikalen Anstrich, obgleich sie längst weltliche Institutionen waren, städtische oder staatliche.
Topographie und Architektur waren nur äußerer Ausdruck tief verwurzelter Strukturen und Prozesse: Die protestantische sola-gratia-Theologie und ihre radikale Beschränkung der kirchlichen Aktivitäten auf den Gemeindegottesdienst und die Seelsorge reduzierten die mittelalterliche Vielfalt kirchlicher oder halbkirchlicher Bauten – für Mönche oder Nonnen, Stiftsherren oder -damen, für Säkularkleriker oder Semireligiöse, für Beginen oder Begarden, Fraterherren, Brüder und Schwestern vom Gemeinsamen Leben etc. – auf einen einzigen legitimen Funktionstypus, nämlich die Pfarrkirche.
Diese Entdifferenzierung der Stadtkirche brachte den protestantischen Bürgergesellschaften einen Zug zur Egalisierung und spirituellen Vereinfachung. Langfristig bedeutete das eine neuzeitliche Differenzierung im Sinne der Organisationssoziologie Niklas Luhmanns: Die protestantische Kirche konzentrierte sich in einer doppelten Spezialisierung auf den Kernbereich Wortverkündigung, Gottesdienst und Seelsorge. Die mannigfaltigen anderen sozialen und kulturellen Funktionen der mittelalterlichen Stadtkirchen gingen in säkulare Hände über, sei es an den Magistrat oder den Staat, sei es an Institutionen oder Gruppen der Bürgerschaft. Daraus ergaben sich weitreichende Folgen für das materielle und geistig-ideelle Stadtbild wie für Identität, Alltag und Mentalität der Bürger: Anders als die Bürger katholisch konfessionalisierter Städte konnten Protestanten nicht mehr zwischen verschiedenen Typen kirchlicher Institutionen mit unterschiedlicher Spiritualität, Frömmigkeit und bis zu einem gewissen Grade auch unterschiedlichen Gottesdienstformen diejenige auswählen, die ihren religiösen Bedürfnissen als Person oder sozialer Gruppe am besten entsprach. Sie hatten den Gottesdienst in ihrer Pfarrkirche zu besuchen, gleichgültig welcher sozialen Gruppe sie angehörten oder welche Art von Frömmigkeit und Theologie sie bevorzugten. Ausnahme waren nur die werktäglichen Sondergottesdienste für die Universität in den Universitätskapellen, für die Stadträte vor Eröffnung ihrer Sitzung oder für die Insassen von Hospitälern, Siechenhäusern, Altersheimen und ähnlichen Einrichtungen.
Dieser Pfarrzwang entsprach dem allgemeinen städtisch-bürgerlichen Trend nach Rationalität und sachlicher wie personaler Vereinheitlichung von Nachbarschaft, Verwaltungs- und Kirchenbezirk. Die sozialen, politischen und religiösen Dimensionen der bürgerlichen Existenz wurden zusammengeführt und konzentriert, aber auch effektiverer sozialer Kontrolle und besserer Verhaltensdisziplin ausgesetzt. Durchbrochen wurde der Pfarrzwang nur, wo die einheitliche Reformation scheiterte und sich protestantische Dissenters behaupteten wie die Arminianer in niederländischen oder die Puritaner in englischen Städten. In Mittel- und Nordeuropa ergab sich eine vergleichbare Diversifikation erst wieder mit den pietistischen Konventikeln des späteren 17. Jahrhunderts.
Bereits simple touristische Autopsie lässt erkennen, dass sich unter katholischer Konfessionalisierung städtische Topographie und Architektur deutlich anders als unter dem Protestantismus entwickelten: Die kirchlichen Institutionen behielten ihren Inselcharakter innerhalb der Bürgerstadt, wenn Umfang und Qualität ihrer Sonderrechte auch eingeschränkt wurden. Vor allem aber ist die katholische Stadt durch einen gewaltigen Bauboom charakterisiert. Allenthalben entstanden Neubauten im Renaissance- oder Barockstil – die großen Jesuitenkirchen, aber auch Parochial-, Hof- oder Triumphkirchen wie die Wiener Karlskirche, in der dem Triumph des Heiligen Carlo Borromeo über die Häretiker ein weithin sichtbares urbanes Denkmal gesetzt wurde. Hinzu kamen neue Ordensniederlassungen, Schulen und Hospitäler sowie eine umfassende stilistische Modernisierung ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Prolog: Religion, Kirche und Welt im lateinischen Europa
  6. A. Das Erbe der Vormoderne
  7. B. Renaissance und Reformationen – ein doppelter Aufbruch in die Neuzeit
  8. C. Die Epoche der Konfessionen als „Vorsattelzeit der Moderne“
  9. D. Erfahrungsfelder christlichen Lebens in der Frühen Neuzeit
  10. Epilog: Die Christenheit im modernen Europa
  11. Zu diesem Buch
  12. Anhang
  13. Anmerkungen
  14. Liste der Erstveröffentlichungen von Heinz Schilling
  15. Literatur- und Quellenhinweise
  16. Abbildungsverzeichnis
  17. Über den Autor
Zitierstile für Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa

APA 6 Citation

Schilling, H. (2022). Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa (1st ed.). Verlag Herder. Retrieved from https://www.perlego.com/book/3513450/das-christentum-und-die-entstehung-des-modernen-europa-aufbruch-in-die-welt-von-heute-pdf (Original work published 2022)

Chicago Citation

Schilling, Heinz. (2022) 2022. Das Christentum Und Die Entstehung Des Modernen Europa. 1st ed. Verlag Herder. https://www.perlego.com/book/3513450/das-christentum-und-die-entstehung-des-modernen-europa-aufbruch-in-die-welt-von-heute-pdf.

Harvard Citation

Schilling, H. (2022) Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa. 1st edn. Verlag Herder. Available at: https://www.perlego.com/book/3513450/das-christentum-und-die-entstehung-des-modernen-europa-aufbruch-in-die-welt-von-heute-pdf (Accessed: 15 October 2022).

MLA 7 Citation

Schilling, Heinz. Das Christentum Und Die Entstehung Des Modernen Europa. 1st ed. Verlag Herder, 2022. Web. 15 Oct. 2022.