Die Zeit gehört uns
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Die Zeit gehört uns

Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung

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Die Zeit gehört uns

Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung

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Über dieses Buch

Quartalsberichte der Großbanken, verkürzte Lieferfristen, steigende Arbeitsintensität und ein atemloser Termindruck, der bereits Kinder und Jugendliche belastet, beschleunigen allgemein das Lebenstempo, lähmen jedoch auch schöpferische Initiativen. Der Autor spürt den Ursachen des imperialen Temporegimes nach. Er erkennt eine Ursachenkette, die von den entfesselten Finanzmärkten ausgeht, betriebliche Umbauten auslöst und in die alltägliche Lebenswelt eindringt. Doch wie lassen sich die Risiken einer rasenden Beschleunigung eingrenzen? Wie können die gesellschaftlichen Teilsysteme Politik, Bildung, Familie die Übergriffe des Finanz- und Wirtschaftssystems abwehren? Friedhelm Hengsbach plädiert für ein humanes und gesellschaftliches Zeitmaß, das als Wohlstandsindikator das wirtschaftliche Wachstum ablösen sollte.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783864898907
Friedhelm Hengsbach
Die Zeit gehört uns
Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung
Überarbeitete und erweiterte Neuauflage

Vorwort

»Ich kann nicht mehr«, klagte vor zehn Jahren eine Dreizehnjährige auf der Titelseite des »Spiegel« über den Schulstress, der krank macht. Im Mai 2021, während der Pandemie schläft eine siebzehnjährige Schülerin in den Nächten von Sonntag auf Montag nur noch unruhig; sie sieht ein Gebirge von Arbeitsblättern, Aufgaben und quälenden Fragen vor sich, dazu den massiven Zeitdruck, der bis zum Freitag auf ihr und ihren Freundinnen im Homeschooling lastet. Die Zahl der Krankschreibungen wegen psychosomatischer Störungen hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdreifacht, wie eine Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit dokumentiert. Das »Ausbrennen« unternehmerischer Führungskräfte führt zu Produktions- und Imageverlusten. Jeder fünfte Arbeitnehmer leidet unter gesundheitlichen Stressfolgen, von Schlafstörungen bis zu Herzversagen, wie ein Münchener Institut für lösungsorientiertes Denken ermittelt hat. Auf den Gängen in Kliniken rasen die Krankenschwestern an den Kolleginnen vorbei, um ihre Patienten im Minutentakt zu pflegen.
Wer ist so mutig, die Zeiger der Uhr zu verkleben, um nicht wie Charlie Chaplin im Film »Moderne Zeiten« in das Räderwerk einer gigantischen Maschine zu geraten, die ihn zu verschlingen droht, bevor es »zwölf geschlagen hat«? Gibt es noch die Menschen, die sich nicht von den großen gesellschaftlichen und politischen Erzählungen jagen lassen – souveräne Frauen und Herren einer Zeit, die ihnen gehört? Weil ich vermute, dass hinreichend viele von ihnen dem Tempo-Virus widerstehen, und weil mich zahlreiche Anregungen dazu bewegt haben, wage ich es, die Reflexionen meines 2012 publizierten Buches nun zu überarbeiten, zu straffen und zu aktualisieren.
Die Kernhypothese des Buches skizziere ich so: Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts haben die Akteure der Finanzsphäre einen Megaschub gesellschaftlicher Beschleunigung angestoßen, den sie über die börsennotierten Unternehmen weiterleiten. Staatliche Organe lassen sich von dieser Welle der Beschleunigung mitreißen; sie hören bereitwillig auf die vermeintliche »Stimme der Finanzmärkte«, so dass die politischen Entscheidungen immer kurzatmiger und hektischer werden. Unter diesem dreifachen Druck sind die Arbeitsverhältnisse abhängig Beschäftigter entsichert worden. Die Kaskade der Beschleunigung trifft schließlich die privaten Haushalte, insbesondere die Frauen, nachdem die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Privatsphäre durchlässiger geworden ist.
Das erste Kapitel stellt die genannte Hypothese in den theoretischen Rahmen einer bedrohlichen Beschleunigung, die umfassend, makroperspektivisch angelegt ist und sich des schillernden Sprachspiels der Moderne bedient. Ihr stelle ich eine differenzierte Mikrosicht gegenüber, die statistische Erhebungen zur belastenden Rushhour-Situation von Frauen im Familienzyklus, bei der Hausaufgabenhilfe, in Teilzeitarbeit und im freiwilligen Engagement beschreibt. Psychische Erkrankungen, die zunehmen, Zeit- und Leistungsdruck am Arbeitsplatz sowie ein »Ausbrennen« verursachen schmerzliche Leidenserfahrungen. Gleichzeitig wird Entwarnung gemeldet, weil schnelle und langsame Lebensstile nach Ländern und Kulturen variieren. Nach Epochen wechseln kontinuierliche Stufenfolgen, Innovationsschübe, die nachfolgend abgefedert werden, oder Mega-Anstöße, die von der Digitalisierung zu erwarten sind, nachdem die Pandemie die Globalisierung verdrängt hat.
Im zweiten Kapitel versuche ich die skizzierte Hypothese argumentativ zu entfalten. Hegemoniale Finanzmärkte haben der Realwirtschaft einen Imperativ monetärer Beschleunigung aufgedrängt und eine globale Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst. Die Rettung der Banken hat den Staat mit hohen Schulden belastet, die Arbeitsverhältnisse entsichert, die solidarischen Sicherungssysteme deformiert und eine Spekulation gegen den Euro entfesselt. Nach dem Zerbrechen der Normalarbeitszeit ist eine individuelle Flexibilität entstanden, die den Männern, die in Vollzeit erwerbstätig sind, finanzielle Vorteile verschafft, während den in Teilzeit arbeitenden Frauen zugemutet wird, daheim unbezahlt Kinder zu betreuen, sich um Angehörige zu kümmern, bei den Hausaufgaben zu helfen, sich ehrenamtlich in der Kita zu engagieren und am Abend den Eindruck zu haben, sie seien vollerwerbstätig gewesen.
Das dritte Kapitel deutet die Zeit als ein gesellschaftliches Konstrukt. Sie kann nicht schlechthin einem inneren Bewusstsein zugerechnet werden, sondern ist eine soziale Tatsache, die zugleich mit Handlungsabläufen entsteht. In den ersten drei Abschnitten des Kapitels spielt die vertiefte Reflexion über die sogenannte Zeit eine beherrschende Rolle; im vierten und fünften Abschnitt wird der Handlungsbegriff dominant. Das einander Angleichen empirischer Handlungssequenzen (mit deren Zeitkomponente) tritt bezüglich der natürlichen Umwelt, der Gesellschaft und des individuellen Subjekts erkennbar in den Vordergrund.
Im vierten Kapitel werden die gesellschaftliche Ungleichheit, die sich in der Pandemie verschärft hat, sowie die spontane Solidarität mit den geflüchteten Frauen und Kindern aus der Ukraine beleuchtet. Wolfgang Thierse hatte beobachtet, dass die Frage der Gerechtigkeit in die Gesellschaft zurückgekehrt sei. Aber was ist schon Gerechtigkeit? »Was die Mächtigen dafür halten«, antwortete ein Schüler des Sokrates auf dessen Frage. Die Gerechtigkeit als Gleichheitsvermutung zu behaupten, weckt politischen und bürgerlichen Widerstand, aber Gleichheit ist nicht Identität. Wer verhältnismäßige Gleichheit meint, nennt als Bezugspunkt: besondere Leistung, Ansehen, Sympathie, in »kopernikanischer« Wende jedoch: die sich selbst bestimmende individuelle Person, die jede andere als Gleiche respektiert. Wer Gerechtigkeit als »Recht auf Rechtfertigung« deutet, blickt auf das, was Menschen sind, nicht auf das, was sie haben. »Solidarität« unterscheidet persönliche Tugend von gesellschaftlicher Steuerungsform.
Das fünfte Kapitel erschließt Perspektiven eines gesellschaftlichen und politischen Aufbruchs: zunächst einer persönlichen Umkehr des Lebensstils, dann strukturelle Umbauten der Finanzarchitektur, einer egalitären Unternehmensverfassung und sozialen Demokratie. Ein sozio-ökologischer Paradigmenwechsel gilt der Sanierung des blauen Planeten. Ideen einer innovativen Arbeitswelt bahnen den Weg in gelungenes Leben für Kinder, Frauen und Männer, eine faire Balance des Heranwachsens, der Erwerbsarbeit und Privatsphäre, der Halbtagsarbeit und atmender Lebensläufe.
Wie groß ist die Chance, dem Regime der Beschleunigung wirksam zu widerstehen? Dass es oft unendlich lange dauert, bis sich in einer demokratischen Gesellschaft irgendetwas bewegt, hat viele Jugendliche enttäuscht, die sich kritisch engagiert hatten. Umso überraschender sind die Aufbrüche, die sich in der Früh- und Spätphase um die Jahreswende 2021/22 abgezeichnet haben: die weltweite Bewegung Jugendlicher: »Fridays for future«; der Regierungswechsel und die zügige Bildung der Ampelkoalition; der entschlossene Widerstand der Ukraine gegen die verbrecherischen Zerstörungen der russischen Armee; die Bereitschaft der USA, NATO und EU, die Ukraine militärisch zu unterstützen, die großzügige Bereitschaft westlichen Länder, Geflüchtete Frauen und Kinder aus der Ukraine aufzunehmen. Diesen Aufbrüchen gingen zwei politische Kehrtwenden voraus – der Ausstieg aus der Atomenergie nach dem Reaktorunfall in Fukushima sowie die Covid-19-Pandemie, die selbstverständliche Arbeits- und Freizeitgewohnheiten außer Kraft gesetzt hat.
Dem Westend Verlag und insbesondere den Kolleginnen und Kollegen gilt mein besonderer Dank, da sie mich während der Überarbeitung des Buches sehr geduldig begleitet haben.

1 Atemlos beschleunigt

Ich blättere soeben in meinem Terminkalender von 2012, lange bevor die Corona-Pandemie sich wie Mehltau auf meinen Arbeitsalltag gelegt hat. Ich staune und erschrecke über die damals noch dichte Folge fast täglicher Bahnreisen, Vorträge, Podiumsgespräche und Interviews. Im Tagesablauf hatten sich viele Ereignisse ohne Unterbrechung aneinandergereiht. In der Frühe riss mich der Wecker aus dem Schlaf. Unmittelbar beim Aufwachen wusste ich nicht, wo ich war – im eigenen Zimmer oder in einem fremden Hotel? Erst als ich die Augen öffnete, fügten sich die Fragmente des vergangenen Abends wieder zusammen: Vortrag, Diskussion, angeregte Gespräche in einem Restaurant. Dann flink duschen, anziehen, frühstücken; während des Frühstücks hörte ich die Nachrichten, überflog die Schlagzeilen überregionaler Zeitungen, lief zum Bahnhof und erreichte den nächsten Zug gerade noch, bevor der Zugbegleiter abpfiff. Während der Fahrt sammelte ich die Anrufe und Nachrichten auf dem Handy. Ich bereitete den nächsten Auftritt vor – über ein anderes Thema, in einer anderen Stadt, vor einem anderen Publikum. Die nachdenklichen Gespräche und kritischen Einwände vom Vorabend waren abgetaucht. Ihnen nachzuspüren, verschob ich auf später. Es kam vor, dass Freundinnen und Freunde mich auf Erlebnisse ansprachen, die wir im Vorjahr gemeinsam geteilt hatten. Ich hatte dabei den Eindruck, dass sie mir Geschichten von fremden Leuten erzählten.

Beschleunigungsgesellschaft

Ein Freund hat mir das Bild einer Sonnenuhr geschickt. Sie steht in einem Park, umgeben von bunten Blumen mit der Inschrift: »Es ist immer später als Du denkst«. Solche Eingeständnisse werden mir von Freundinnen und Kollegen bestätigt. Auch sie fühlen sich in ihrem Alltag gehetzt, stolpern atemlos hinter sich her, sind immer zu spät dran. Häufig packt sie die Sorge, eine gegebene Zusage nicht einhalten zu können, eine Verabredung vergessen zu haben. Informationsfluten ersticken ein konzentriertes Arbeiten, ob im Home-Office oder im Großraumbüro. Zu unterscheiden zwischen dem, was bedeutsam ist und was belanglos, gelingt nicht. Eine Glückwunschkarte bleibt bis zum späten Abend ungeschrieben; sie erreicht die Freundin zum Geburtstag erst später, »nachträglich«. Die sportliche Regel lautet: »Immer schneller, immer höher, immer weiter!« Wer schneller ist, wird als der Bessere geehrt – nach welchem Maßstab? Der Bonner Theologe Hans-Joachim Höhn hat für das Zeitalter der Beschleunigung den Begriff: »kinetischer Imperativ« geprägt.
Wie wird dieser Imperativ subjektiv empfunden? E-Mails haben die Briefpost abgelöst, die gerade noch für Todesanzeigen verwendet wird. Das Mobiltelefon suggeriert, dass man/frau allzeit erreichbar und zu kommunizieren bereit ist. In den Betrieben wird die gleiche Arbeit mit weniger Personal in kürzerer Zeit bewältigt. Vormals saisonale Modezyklen sind radikal verkürzt worden. Berühmte Orchester präsentieren Musikwerke in höherem Tempo. Beethoven ließ die Sinfonie Nr. 3 (»Eroica«) in 60 Minuten spielen, Leonard Bernstein beschleunigte auf 49, Michael Gielen (1987) auf 43 Minuten. Das Redetempo der Radiosprecher hat sich merklich erhöht. Die Schnittfolge der Werbefilme in den Kinos verlangt von manchen Besuchern eine hohe Reaktionsfähigkeit. Wie schnell Fernsehserien abgesetzt werden, entscheidet nicht deren Qualität, sondern die kurzfristige Einschaltquote.
Die Wucht der Beschleunigung verschont nicht die alltägliche Lebenswelt. Kunden werden ungeduldig, sobald sich vor der Kasse im Supermarkt, vor dem Post- oder Bahnschalter Schlangen bilden. Pat...

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