1 Geragogik – begriffliche Klärungen
Die Geragogik hat sich als Wissenschaftsdisziplin inzwischen in den einschlägigen Fachdiskursen zum Thema »Bildung und Alter« gut etabliert. Sie wird in speziellen Studienprogrammen und -modulen gelehrt und hat in Fachveröffentlichungen zunehmend Verbreitung gefunden. Geragogik versteht sich als interdisziplinär ausgerichtet und ist, auch über die Altersphase hinaus, als intergenerationelle Bildungsarbeit in vielen Kontexten mittlerweile verankert. Obwohl sich auch immer noch eine Diversität parallel verwendeter Fachtermini findet, wie Altenbildung, Altenpädagogik, Gerontagogik, Gerontologische Bildungsarbeit, Lebenslanges Lernen, Weiterbildung im Alter, also ein gewisser Dissens der Begrifflichkeiten besteht, hat sich die Bezeichnung Geragogik doch in Theorie und Praxis immer stärker durchgesetzt. Bedingt durch die sprachliche Nähe zur Pädagogik einerseits und zur Gerontologie andererseits hat die Bezeichnung » Geragogik « eine deutliche Aussagekraft hinsichtlich ihrer Orientierung und Ausrichtung.
1.1 Zum Begriff Geragogik
1.1.1 Geragogik – Wege zum Verständnis des Begriffs
Der Begriff »Geragogik« kommt aus dem Altgriechischen. Er setzt sich zusammen aus den Worten »Geraios/Geraros« in der Bedeutung von »alt« beziehungsweise »der Alte« und aus dem Wort »Ago«, was im engeren Wortsinn »ich führe hin, ich geleite, ich zeige den Weg« bedeutet. In der deutschsprachigen Fachliteratur findet sich der Begriff seit den 1960er Jahren häufiger (vgl. Petzold, 1965). 1971 definierte der Erziehungswissenschaftler Hans Mieskes die Geragogik als »Pädagogik des alternden und alten Menschen« – sie sei die Wissenschaft von den pädagogischen Bedingungen, Begleiterscheinungen beziehungsweise Folgen des Alterungsprozesses (vgl. Mieskes, 1971).
1.1.2 Geragogik – wissenschaftliche Disziplin und Praxis
Die Geragogik hat sich in den vergangenen 50 Jahren sowohl als wissenschaftliche Disziplin als auch als einschlägige Praxis zunehmend etabliert (vgl. Schramek, Kricheldorff, Schmidt-Hertha & Steinfort-Diedenhofen, 2018; Bubolz-Lutz, Gösken, Kricheldorff & Schramek, 2010). Dass es wichtig ist, den Prozess des Alterns in Zusammenhang mit Lern- und Bildungsherausforderungen zu sehen, liegt auf der Hand: Der rasche gesellschaftliche Wandel fordert jeden Einzelnen bis ins hohe Alter zu »lebenslangem Lernen« auf. Aber auch umgekehrt ist die Ausgestaltung einer »Gesellschaft des langen Lebens« nur durch Lern- und Bildungsprozesse im Alter, im Hinblick auf gelingendes Altern und zum Umgang mit Älteren denkbar. So wird Bildung zum konstituierenden Faktor für die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Gestaltung der langen Lebensphase »Alter« und des demografischen Wandels.
Geragogik umfasst – in Analogie zur Pädagogik – sowohl die Praxis als auch Wissenschaft und Lehre. Ihr Gegenstandsbereich ist die Gestaltung von Lern- und Bildungsprozessen im Alter. In der Auseinandersetzung über die Gestaltung von Lernprozessen für die zweite Lebenshälfte werden zwei Perspektiven wirksam: die Perspektive der Älteren selbst und die derjenigen, die mit älteren Personen leben, lernen und arbeiten. Dies können professionelle, bürgerschaftlich engagierte oder andere Kontaktpersonen sein. So geht es der Geragogik um beides: durch Lernen und Bildung das eigene Altern reflektierend zu gestalten, wie auch darum, Lern- und Bildungsprozesse gezielt zu ermöglichen, d. h. zu initiieren und zu begleiten.
1.1.3 Zugrundeliegende Wertorientierung
Die Geragogik versteht sich nicht nur als eine empirisch arbeitende Wissenschaft, sondern orientiert sich sowohl an der Tradition der geisteswissenschaftlichen als auch der emanzipatorischen Pädagogik. Sie vertritt ein Menschenbild, das sich an personaler Würde und Autonomie orientiert und bezieht sich auf ein Gesellschaftsverständnis, das allen Menschen, in allen Lebensphasen, ein Recht auf Bildung und damit auch auf Teilhabe an öffentlich organisierten Lernangeboten zugesteht. Selbst wenn einzelne Richtungen der Geragogik unterschiedliche Schwerpunkte setzen, herrscht Übereinstimmung im Hinblick auf die Wahl eines mehrperspektivischen Ansatzes: Demnach erforscht die Geragogik nicht nur die individuellen Lerninteressen und in diesem Zusammenhang auch die Lebenslagen und Lebensstile im Alter. Sie reflektiert vielmehr auch – und das vor allem auf der Basis von Forschungsarbeiten im Kontext der Sozialen Gerontologie und der Sozialen Arbeit – die strukturellen Gefährdungen der menschlichen Entwicklung durch Faktoren sozialer Ungleichheit in der zweiten Lebenshälfte (Kricheldorff & Klott, 2017). Als anwendungsbezogene Disziplin zielt Geragogik auf die Entwicklung von Möglichkeiten der Einflussnahme und Partizipation Älterer. Die von ihr vertretene »Ermöglichungsdidaktik« intendiert die Bereitstellung lernförderlicher Bedingungen, die ältere und sehr alte Menschen anregen sollen, als »Experten in eigener Sache« ihre Lebens- und Lernpotenziale zu entdecken (Kricheldorff, 2020b). Unterstützt werden sollen damit Identitätsentwicklung, Selbstbildung und verantwortliches gesellschaftsbezogenes Handeln (Steinfort, 2010; Bubolz-Lutz & Steinfort, 2006).
1.1.4 Geragogik – Verknüpfung von Forschung, Lehre und Praxis
Ein Kennzeichen der aktuellen Entwicklung in der Geragogik ist die enge Verzahnung von Theorie und Praxis. Ohne die Strukturverschiedenheit beider Bereiche außer Acht zu lassen, zielt die Geragogik darauf, Erkenntnisse zu Bildung und Lernen in Bezug auf das Alter zu gewinnen, die zur Gestaltung von Lernarrangements hilfreich sein können. Die so intendierte Verbindung von Theorie und Praxis ist als kontinuierlicher Diskurs von Forscher*innen und Praktiker*innen gedacht – möglichst unter Einbezug von vielen unterschiedlichen Sichtweisen. So analysiert geragogische Forschung etwa bestehende Bedarfslagen und Bildungsstrukturen (Kolland et. al., 2018; Kricheldorff, 2018b; Kolland, 2005), um darauf aufbauend Lernformate für spezielle Zielgruppen in der Praxis zu entwickeln und zu erproben, wie zum Beispiel Menschen im hohen Alter, Ehrenamtliche oder bildungsungewohnte Ältere (vgl. Klein, Merkle & Molter, 2021). Geragogische Forschungsarbeiten liefern beispielsweise auf der Basis von Interviews mit älteren Menschen und professionellen Akteuren, die mit Älteren arbeiten, also im Rahmen qualitativer Forschungsansätze, auch die Datenbasis für die Identifikation von Qualitätsmerkmalen für eine professionelle Altenarbeit und Altersbildung. Die konsentierten Qualitätsziele können dann eine Orientierungsfunktion für die Bildungsarbeit mit Älteren haben. (vgl. Köster, Schramek & Dorn, 2008).
Die geragogische Praxis verfolgt das Ziel, durch professionell angeregte und begleitete Lernprozesse Ältere dabei zu unterstützen, ihre individuellen Ressourcen und Potenziale zu erkennen und weiterzuentwickeln sowie die eigenen (Lern-)Bedürfnisse zu artikulieren und ihnen verantwortlich Rechnung zu tragen. Vor dem Hintergrund von Erfahrungsmangel und Erfahrungsarmut im Lebensalltag, vor allem bei hochaltrigen Menschen mit eingeschränktem Bewegungsradius, wird darauf hingewirkt, vorhandene Kompetenzen zu erhalten und die Handlungsfähigkeit zu steigern. In Projektkontexten wird immer wieder versucht, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden (vgl. Schramek et. al., 2018; Kricheldorff, 2021).
Die geragogische Forschung knüpft an entwicklungspsychologische Modelle der Lebenslaufforschung an, die die Lern- und Entwicklungsbereitschaft wie auch die Lern- und Entwicklungsfähigkeiten in den jeweiligen Lebensphasen erforschen (vgl. Staudinger & Schindler, 2002; Lehr, 2006, 2007). Da sie die Erkenntnisse gerontopsychologischer und neurobiologischer Forschung in ihre Konzeptentwicklungen mit einbezieht, steht sie präventiv-therapeutischen Ansätzen der Interventionsgerontologie sehr nahe. Dennoch bietet sie einen deutlich weiteren Horizont, in dem sowohl philosophische als auch theologische, weltanschauliche und spirituelle Perspektiven eine Rolle spielen. Die auf Forschungsergebnissen beruhenden Konzeptionen gehen von den Lebensthemen der Älteren selbst aus, die etwa mit der Leitdifferenz Sicherheit/Unsicherheit im Alter konfrontiert sind. Es sind aber auch gesellschaftliche Bedarfslagen, die zur Sprache kommen sollen: Älteren und sehr alten Menschen soll es durch Lernen und Bildung möglich werden, auf wirksame Weise zur Entwicklung einer »Gesellschaft des langen Lebens« beizutragen, in der das Leitbild des menschenwürdigen Alterns als globales und gesellschaftliches, gemeinsames Anliegen aller Generationen verfolgt wird.
Die entsprechende geragogische Lehre findet an Universitäten, Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, Akademien, Volkshochschulen, Einrichtungen der Beruflichen Weiterbildung für Pflegeberufe usw. statt. Innerhalb der Hochschullandschaft hat sich die Geragogik in Deutschland, Österreich und der Schweiz zunehmend etabliert.
1.1.5 Geragogische Denkprinzipien und Arbeitsweisen
In Forschung, Lehre und Praxis arbeitet die Geragogik (
Kap. 3.5)
• interdisziplinär – da sie sich aufgrund der gemeinsamen Forschung unterschiedlicher Fachrichtungen und der gemeinsamen Praxis zwischen unterschiedlichen Professionen konstituiert,
• praxeologisch – da sie eine enge Verzahnung und Rückkoppelung von Forschung, Lehre und Praxis praktiziert und hierfür spezielle Strukturen und Arbeitsweisen entwickelt,
• partizipativ – da sich Ältere aktiv am Forschungsprozess beteiligen und die Entwicklung didaktischer Konzeptionen daran gemessen wird, in welchem Umfang sie Partizipation ermöglicht,
• lebenslauforientiert – da sie die Lern- und Entwicklungsprozesse in der zweiten Lebenshälfte in den Kontext des gesamten Lebenslaufs eingebettet sieht. Im Fokus des Forschungsinteresses stehen sowohl intra- als auch intergenerationelle Lernprozesse über den ganzen Lebenslauf hinweg; Geragogik befasst sich auch damit, Auseinandersetzung mit Themen des Alterns in Kindergarten, Schule usw. zu initiieren,
• wertorientiert – da ein an Würde, Selbstbestimmung und Intersubjektivität orientiertes Menschenbild die Grundlage für Forschung und Praxis bildet. Das einseitig an einer Leistungskultur ausgerichtete Leitbild eines »Aktiven Alters« wird relativiert durch ein Leitbild, in dem »aktiven« und »passiven« Lebensstilen im Alter gleichermaßen Wertschätzung entgegengebracht und in dem »Eigen-Sinn« der Älteren Rechnung getragen wird (Schützendorf, 2008).
Zusammenfassung
Als Geragogik wird die wissenschaftliche Disziplin bezeichnet, die sich am Leitbild von Menschenwürde und Partizipation im Alter orientiert, Bildungsprozesse in der zweiten Lebenshälfte erforscht, Bildungskonzepte mit Älteren und für das Alter entwickelt und erprobt und diese in die Aus-, Fort- und Weiterbildung für die Arbeit mit Älteren einbringt.
1.2 Zu den Begriffen Lernen und Bildung
Um den Gegenstandsbereich der Geragogik zu umschreiben, kommen in der Literatur diverse Begriffe zur Anwendung: auf der einen Seite Lernen im Alter, lebensbegleitendes Lernen, auf der anderen Seite Bildungsarbeit mit alten Menschen, Bildung im Alter. Die zentralen Begriffe »Lernen« und »Bildung« werden in der einschlägigen Literatur zum Teil parallel, zum Teil synonym gebraucht. Manche Autor*innen bezeichnen als »Lernen«, was andere als »Bildung« bezeichnen, sodass sich deutliche Unschärfen und Überschneidungen in den Fachdiskursen ergeben. Zwar folgt die Geragogik klaren begrifflichen Unterscheidungen, dennoch kann die systematisierende Unterscheidung hier nicht durchgängig aufrechterhalten werden – zu unterschiedlich erweist sich der Gebrauch der Begriffe in der gesamten einschlägigen Fachliteratur. Wo auf fachwissenschaftliche Texte Bezug genommen wird, geschieht dies unter Anpassung an den dort jeweils vorgefundenen Begriffsgebrauch.
1.2.1 Geragogischer Diskurs zum Lernen – Lernen als Grundlage für Bildung
Bei allen Unterschieden im Verständnis von Lernen besteht dennoch Übereinkunft darüber, dass Lernen ein grundlegender Vorgang und Prozess im Leben des Menschen darstellt. Lerne...