Ragazzi di vita
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Ragazzi di vita

  1. 240 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Das unbestrittene Hauptwerk Pasolinis, mit dem Italiens großer Schriftsteller und Ketzer den Verlorenen und Geächteten aus den Elendsquartieren der römischen Vorstädte ein unvergängliches Denkmal setzt – zur anhaltenden Wut bigotter Reaktionäre von rechts und links.Dies ist der Roman von Ricetto und seinen Freunden, die, von Eltern, Gott und der Welt verlassen, durch die Eingeweide des römischen Großstadtuniversums streunen.

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783803143327

IM ZENTRUM VON ROM

Vor dem Monte del Pecoraro lag ein großer Platz, und in der Nähe des Schilds mit der Aufschrift ›Fine zona – Inizio zona‹, kurz bevor sich die Felder bis weit zum Aniene hin auszudehnen begannen, befand sich die alte überdachte Haltestelle der Linie 309, deren Autobusse hier von der Via Tiburtina abbogen und zwischen den Wohnblöcken der Borgata nach Madonna del Soccorso fuhren. Alduccio wohnte, wie auch Begalone, im Wohnblock IV, am Ende der Hauptstraße dieser Borgata, kurz hinter dem Marktplatz, wo es eine lange Reihe von Straßenlaternen gab, die, wenn sie sich zur Dämmerung entlang der nicht mehr als zwei Stockwerke hohen Häuser einschalteten, den Eindruck erweckten, als befände man sich im Armenviertel eines Seebads. Die Straße schien sich hinter der leichten Steigung in den ausgeglühten Himmel zu verlieren, und die Geräusche verrieten, daß die Leute hinter den Lärmschutzwänden der Innenhöfe zu Abend aßen oder sich auf die Nachtstunden vorbereiteten. Um diese Zeit wimmelte es von Jungs und Kerlen, aber die wahren Genießer und Nachtschwärmer hielten sich noch in den Café-Bars oder an den Straßenecken auf und warteten auf den Einbruch der Nacht, nicht etwa, um ins Kino zu gehen oder zur Villa Borghese, sondern um sich irgendwo in einer geheimen Zockerhölle zu treffen, wo sie bis zum Morgengrauen Zecchinetta spielen konnten. Und während hier und da ein paar Jugendliche in den Hinterhöfen auf der Gitarre rumklimperten und die Frauen inmitten ihrer quengelnden Kinder noch mit Geschirrspülen oder Aufwischen beschäftigt waren, kamen immer noch vollgestopfte Autobusse mit Menschen an, die von der Arbeit zurückkehrten. – »Mach’s gut, Begalò«, sagte Alduccio, als sie zu Hause angekommen waren. – »Mach’s gut«, sagte Begalone, »bis später.« – »Um neun treffenwer uns«, sagte Alduccio, »pfeif dann mal!« – »Gut, aber sei fertig«, sagte Begalone, während er die abgeblätterte Treppe weiter hochstieg, auf der sich ein Haufen kleiner Kinder tummelte. Alduccio wohnte drei, vier Türen weiter im Erdgeschoß. Vor der Wohnungstür befand sich, wie in allen Wohnblöcken, eine Art Loggia mit demolierten oder baufälligen Säulen. Auf der Stufe vor der Türe saß seine Schwester. »Was machste’n hier?« fragte Alduccio. Sie gab ihm keine Antwort und blickte auf die Straße. – »Dann verreck doch«, sagte er und ging in die Küche, wo seine Mutter am Herd das Essen kochte. »Was willste?« fragte sie, ohne sich umzudrehen. – »Wie, was will ich?« sagte Alduccio. Sie fuhr herum, ihre Haare völlig zerwühlt: »Wer nich arbeit’, kriegt auch nix zu fressen, kapiert?« sagte sie. Sie war groß und dick, unter dem verdreckten Baumwollmorgenrock hatte sie fast nichts an, Haare klebten auf ihrer schweißgebadeten Stirn, der Haarknoten hing in aufgelösten Strähnen am Nacken und über dem Kragen des Morgenrocks unordentlich runter. »Dann is ja alles klar!« sagte Alduccio mit gespielter Ruhe. »Du willst mir nix zu fressen gem? Gut, aber glaub bloß nich, daß ich mir deshalb einen abwichs’!«
Er ging rüber ins einzige Zimmer, wo seine ganze Familie schlief, im anderen wohnte Riccettos Familie – und fing an, sich auszuziehen. Dabei pfiff er vor sich hin, um seiner Mutter zu zeigen, daß er sich deshalb noch lang keinen runterwichsen würde. – »Pfeif ruhig weiter, du Lump!« rief seine Mutter aus der Küche. »Verrecken sollste, du und das versoffene Dreckschwein von deim Vater!« – »Klar doch, und die Freßtonne von meiner Mutter dazu«, stieß Alduccio leise zwischen seinen Zähnen hervor, während er sich, nackt auf dem Bett, die Mokassins anzog. »Wennde wegen der blöden Gans von deiner Tochter gereizte Nerven hast, dann hause dir doch in de Pfanne, statt mich anzulabern! Du willst mir nix zu fressen gem? Dann gibste mir eben nix zu fressen! Ich wichs mir deshalb noch lang kein’ ab! Nur halt die Klappe!« – »Halt die Klappe, halt die Klappe!« rief seine Mutter. »Hat man’n je’n Sohn gesehn, der fast zwanzig is und bald zum Militär geht und nich eine Lira nach Hause bringt, nich eine einzige, dieses Mistschwein.« – »Hör endlich auf mit dieser Anöderei!« rief Alduccio zurück, während er sich zurechtmachte. In diesem Augenblick hörte man von der Straße schrille Schreie von Frauen, die miteinander stritten. Alduccios Mutter schwieg einen Moment und hörte mit gespitzten Ohren zu, während in dem Zimmer, wo Alduccio war, die Worte nur undeutlich zu verstehen waren. »Dämliche Rotzpute!« schrie seine Mutter in der Küche vor sich hin. In der Hast, mit der sie rausrennen wollte, fiel ihr etwas auf den Boden, dann ging sie zur Tür. Dort blieb sie kurz stehen, hielt für einen Augenblick die Klappe und stürmte dann raus, und endlich konnte man unter all den anderen auch ihre Stimme hören. »Jetz hör sich das bloß einer an! Warum könnse sich bloß nich um ihre eigenen Scheißangelegenheiten kümmern!« sagte Alduccio zu sich. Nach fast zehn Minuten Streiterei und Schreierei auf der Straße oder vielleicht auch auf den Treppenabsätzen hörte man, wie die Tür krachend aufging, aber nicht geschlossen wurde: Alduccios Mutter war nämlich stehengeblieben, vielleicht, weil sie noch was sagen wollte. Dann ging sie nochmal auf den Treppenabsatz zurück: »Elendes Miststück!« rief sie raus. »Bis jetz biste selbst nix anders gewesen als ’ne Nutte, und nun kommste und sagst zu meiner Tochter Hure!« – Von oben hörte man eine Stimme, die aber nicht gut zu verstehen war. – »Se stinken mir wirklich alle wie Kadaver!« sagte Alduccio bitter. – »ls ja wunderbar!« rief seine Mutter, indem sie sich eine Hand in die Hüften stemmte und auf den Wortschwall antwortete, den man nicht verstehen konnte. »Hört, hört! Und du hast dir doch von deim Freund Geld gem lassen und die Kinder ins Kino geschickt, damit de allein mit ihm sein konntst!« – Die Stimme im Hof oder auf dem Treppenabsatz schrillte furios zwei, drei Töne höher und fing in dieser schneidenden Tonlage an, einen ganzen Musterkatalog von allen erdenklichen Beschimpfungen auszukotzen. Als sie damit fertig war, war Alduccios Mutter wieder an der Reihe: »Erinnerste dich etwa nich mehr, du altes Dreckschwein«, sagte sie mit so schriller Stimme, die selbst Christus persönlich nicht zum Schweigen hätte bringen können, »wie dein Mann nach Haus gekomm’ is und dich mit deim Freund im Bett erwischt hat, vor’n Augen der Kinder?« – Sie schlug die Tür zu und kam wieder in die Küche, wo sie mit bebender, messerscharfer Stimme vor sich hinschrie: »Das wird dir noch ’ne Lehre sein, du altes Miststück, wenn ich dich morgen auf der Piazza treff, dann reiß ich dir alle Haare einzeln raus, die de aufm Schädel hast, du verrecktes Aas!« – Kurz darauf ging die Tür wieder auf, und Alduccios Vater kam rein. Wie immer, war er auch an diesem Abend besoffen. Er ging auf seine Frau zu und wollte sie verdreschen. Sie aber legte eine Hand auf seine Brust und stieß ihn zurück: er drehte sich einmal um sich selbst und fiel auf einen Stuhl. Aber sofort stand er wieder auf und versuchte verbissen, ihr eine runterzuhauen. Aus dem anderen Zimmer, in dem Riccettos Familie wohnte, kam Riccettos Schwester raus, um nachzusehen, ob sich da was Besorgniserregendes abspielte: sie kam gerade in dem Augenblick, als ihr Onkel zum zweiten Mal auf den Stuhl sank. – »Was hast’n du hier zu suchen?« giftete die Mutter sie an. »Verschwinde!« – Das Mädchen, einen anderen, noch kleinen Riccetto im Arm haltend, drehte auf dem Absatz um und ging wieder ins Zimmer zurück. »Miststück du altes, du und deine ganze Familie von Geiern und Hungerleichen!« rief die Mutter ihr nach. »Seit vier Jahren sindse hier, aber nich ein einziges Mal sindse auf ’n Gedanken gekomm’ zu sagen: Hier haste tausend Lire und bezahl de Stromrechnung!« Nach ein paar Minuten Besinnung war der Vater wieder in der Lage, seine Stimme zu gebrauchen, und nach drei, vier Anläufen konnte er sogar etwas sagen, ungefähr wie: »Immer musse zanken, dieses Mistvieh!« Er stand auf, torkelte vor und zurück und entwickelte mit bloßen Gesten einen ganzen Gedankengang, hob die Hand zwei-, dreimal von der Brust an die Nase, machte dann mit den Fingern eine Art Drehung, um anzudeuten, daß ihm eine ganz besondere Idee durch den Kürbis gefahren wäre. Schließlich lief er, um nicht hinzufallen, ins Zimmer, wo Alduccio sich anzog, und warf sich mit allen Klamotten am Leib rücklings aufs Bett. Vom Wein, den er den ganzen Nachmittag über gesoffen hatte, war er blaß wie ein Leichentuch geworden, und seine bärtige, drei Finger breite Zottelhaut um Nüstern und Mundwinkel herum war davon wie angesengt: dunkel, feucht und runzelig wie bei Hunden. Alles hing runter an ihm: Seine auf der Bettdecke ausgestreckten Arme hingen runter, sein halb offener Mund hing runter, seine Backenknochen hingen runter, seine Augenschlitze und seine schweißgebadeten, schwarzglänzenden Haare hingen runter und sahen aus, als hätte er sie mit Brillantine bearbeitet. Die brennende Birne über dem Bett beleuchtete jeden einzelnen kakaobraunen alten Dreckfleck auf seinem Gesicht, der sich mit neuen Staubkrusten und Schweiß unter seiner Stirn vermischt hatte, während sich das Spinnennetz seiner Runzeln ganz von allein auf und ab bewegte auf der von der Weinsauferei gespannten und dämpfig gewordenen Haut, die von wer weiß welcher alten Krankheit seiner zwischen vier lumpenumwickelte Knochen gestopften Drecksleber fahlgelb geworden war. Und da waren auch vereinzelte Schatten, braun in der Mitte und an den Rändern mit einem kleinen Kranz von Punkten; die kamen von Prügeln, die er vielleicht als Junge bezogen hatte oder in seiner Jugend, als er Soldat war oder als Hilfsarbeiter sein Geld verdiente – vor hundert Jahren. Über all dem lag eine Art Grauschleier, vom Hungern, vom Saufen, aber auch von seinem Dreitagebart.
Alduccio hatte sich inzwischen fertig angezogen: Röhrenhose, gestreiftes Sporthemd mit offenem Kragen und über der Hose flatternden Hemdschößen. Jetzt mußte er sich nur noch kämmen. Er stellte sich vor den kleinen Spiegel in der Küche und begann, sich mit dem unter das Wasser gehaltenen Kamm zu frisieren. Dabei mußte er die Beine auseinander stellen, weil der Spiegel für ihn zu niedrig hing. – »Dieses faule Schwein von einem Zuhälter«, sagte seine Mutter, die ihm, grau vor Wut, wieder zwischen den Beinen rumlief. – »Jetz langt’s mir aber«, platzte es aus Alduccio raus, »gehst mir reichlich auf ’n Wecker, falls de’s noch nich weißt!« – »Du gehst mir auf ’n Wecker!« antwortete die Mutter noch lauter. Alduccio beugte sich über den Spiegel und fing an zu singen. – »Arbeiten tuste nich, im Haus hilfste nich …« – »Mensch, Mamma!« unterbrach Alduccio sie. »Ich hab dir doch gesagt, daß de mir reichlich auf ’n Wecker gehst. Willste nu endlich damit aufhörn?« – »Nee, will ich nich!« schrie sie. »Wenn ich was zu sagn hab, dann sag ich’s, ob’s dir paßt oder nich! Kapiert? du Liebesfrucht meiner Eier!« – »Komm, laß mich abschwirren«, sagte Alduccio, vor Wut kochend, ging raus, auf Hochglanz frisiert, und warf die kaputte Tür ins Schloß. Er beachtete nicht mal seine Schwester, die auf der Stufe hockte und ihren Rock bis zu den Fersen runtergezogen hatte. Sie war so blaß, daß sie grün aussah, und ihr geschminkter Mund war dünn wie ein feiner Schnitt. Die glatten, trockenen Haare fielen ihr über den Hals, nur ein paar Fransen hingen in ihrer Stirn. – ›Schamloses Luder!‹ dachte Alduccio im Weggehen. Seit sie mit dem Sohn von Sor’ Anita, der Obstverkäuferin, die an der Ecke wohnte, ’n Techtelmechtel hatte, gab es bei Alduccio zu Hause keinen ruhigen Moment mehr. Sie mußte jetzt nämlich heiraten, aber der Sohn der Obstverkäuferin konnte sie inzwischen nicht mehr ausstehen. In der Nacht, als sie von zu Hause weggejagt worden war, hatte er ihr Gesellschaft geleistet und schlief mit ihr im Freien auf den Treppenstufen vor seiner Wohnung im Block III: aber nur, damit die Leute ihn sehen konnten. Nachdem sie dann kapiert hatte, daß sie schwanger war, hatten sie sich verlobt, obgleich seine Eltern genau so wie ihre davon nichts wissen wollten. Sie fühlte sich so gedemütigt, daß sie sich die Pulsadern mit einer Glasscherbe aufgeschnitten hatte, woran sie fast gestorben wäre. Und noch jetzt konnte man an ihren Handgelenken zwei schöne, frische Narben erkennen.
Während er auf Begalone wartete, machte Alduccio einen kurzen Spaziergang durch die Borgata. Das Gewitter hatte sich aufgelöst, und die Luft war lau, fast frühlingshaft. Auch Begalone hatte sich umgezogen. Um den Hals hatte er sich ein Tuch geknotet, wie’n Stenz, und seine glatten, hanffarbenen Haare hatte er mit einer Tolle auf der einen Seite und einem Scheitel auf der anderen bis in den Nacken runtergekämmt. »He, Begalone!« rief Alduccio. – »Wieviel haste bei dir?« fragte ihn Begalone sofort. – »Dreißig Lire«, antwortete Alduccio. – »Reicht für’n Bus«, sagte Begalone und klopfte mit der Hand auf seine Gesäßtasche, wo die anderthalb Hunderter steckten, die er Caciotta gefilzt hatte. – »Langt sogar noch für zwei Nazionali«, sagte Alduccio, als sie an der Café-Bar vorbeigingen. – »Klar, Mann!« antwortete Begalone und sagte dann »Addio!«, als der Bus an ihnen vorüberfuhr. – »Kommt sowieso gleich’n andrer«, sagte Alduccio und reckte sich vergnügt.
Auch Begalone hatte nichts gegessen. Unter seinen gelben Haaren hatte er ein schönes gelbes Gesicht mit einem Stich ins Grüne, das seine rötlichen Sommersprossen angenehm betonte. Es war so kraftlos, daß nicht mal das Fieber ihm ein bißchen Farbe ins Gesicht pinseln konnte: und dieses Fieber hatte er jeden Abend, so an die sechs, sieben Striche über normal, seit er aus dem Forlanini-Krankenhaus entlassen worden war. Vor zwei, drei Jahren war er an Tuberkulose erkrankt, und jetzt konnte ihm niemand mehr helfen; ungefähr noch ein Jahr hatte er zu leben …
Während er neben Alduccio herlief, fuhr er sich mit der Hand über den leeren Bauch, beugte sich nach vorn und nannte seine Brüder und seinen Vater Wichser, aber vor allem seine arme Mutter, die eines Nachts – die erste einer ganzen Reihe von verheerenden Nächten – aus dem Bett gefallen war und so irre rumschrie, als hätte sie den Leibhaftigen selbst gesehen. Sie sagte, daß eine Schlange ins Schlafzimmer gekommen wäre, sich am Fußende aufgerollt, sie unbeweglich angestarrt und schließlich gezwungen hätte, sich nackt auszuziehen. Da hatte sie angefangen zu schreien. Aber plötzlich fing sie irgendwann am nächsten Tag wieder an zu schreien, den ganzen Tag lang, und wie eine Hündin jaulend, mit Kopfschmerzen, die sie fast um den Verstand brachten, klammerte sie sich an ihre Töchter oder wer sonst gerade da war, damit man sie vor dem Ding schützen sollte, das nur sie erkannte. In der folgenden Nacht wachte sie wieder schreiend auf: aber diesmal war es nicht der Leibhaftige. Allerdings hatte sie etwas Platz auf dem durchgewühlten Bett für jemanden gelassen, obgleich ihr Körper, vertrocknet wie ein Stockfisch, sich nicht besonders um diesen Jemand kümmerte. Auf die grauen Bettücher neben ihr hatte sich – wie sie nachher erzählte – ein totes Mädchen gesetzt, zumindest war es seiner Kleidung nach zu urteilen tot: Festkleid, weiße Wollstrümpfe und ein Kranz aus Orangenblüten auf dem Kopf, weil sie nämlich in ein paar Tagen hätte heiraten sollen. Sie hatte angefangen, sich bei Begalones Mamma darüber zu beklagen, daß man ihr einen zu kurzen Unterrock angezogen hätte, daß der Orangenblütenkranz auf ihrem Kopf zu eng säße und ihr deshalb auf die Schläfen drückte, schließlich, daß zu wenig Messen für sie gelesen würden und ihr kleiner Vetter, Pisciasotto der Hosenpisser, sie zu selten auf dem Friedhof besuchte. Begalones Mutter hatte dieses Mädchen vorher noch nie gesehen, aber am folgenden Tag stellte sich heraus, als die Nachbarn ihren Senf zu dem Geschrei gaben, das nachts aus den kaputten Fenstern von Begalones Wohnung drang und in den Höfen der Wohnblöcke widerhallte, daß das tote Mädchen eine Verwandte gewisser Leute war, die im selben Wohnblock ein paar Türen weiter wohnten: Alles stimmte haargenau, einschließlich des Vetters Pisciasotto, der quicklebendig im Prenestino-Viertel existierte. Danach erschien dann wieder der Teufel in verschiedener Gestalt: mal als Schlange, ein anderes Mal als Bär, und wieder ein anderes Mal als eine Nachbarin, der die Zähne wie Hauer gewachsen waren, und alle kamen und gingen sie, als wären sie bei Begalone zu Hause, nur um die Mutter zu quälen. Daraufhin hatte die Familie beschlossen, etwas zu unternehmen, und ließ einen alten Verwandten aus Neapel kommen, der sich mit solchen Dingen auskannte. Der ließ erst einmal sämtliche Gegenstände auskochen, die Begalones Mutter gehörten: Zwanzig Kilowatt Gas wurden in wenigen Tagen für diese Kocherei verpulvert, aber ans Abendessen dachte niemand. Die drei Brüder, die vier Töchter und sämtliche Nachbarinnen waren damit beschäftigt, den Zauber zu verscheuchen. Im Kopfkissen von Begalones Mutter hatten die Frauen Federn gefunden, die wie Tauben, Kreuze und Kronen zusammengeknüllt waren, und hatten sie sofort ausgekocht. Gleichzeitig hatten sie Stücke von altem Eisen in siedendes Öl gegeben und anschließend in kaltes Wasser getaucht, um zu sehen, welche Figuren daraus entstehen würden. Außerdem hörte man seit zwei, drei Tagen in der Wohnung nichts andere...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Der Ferrobedò
  4. Riccetto
  5. Eine Nacht in der Villa Borghese
  6. Ragazzi di Vita – Jungs von der Straße
  7. Die Heißen Nächte
  8. Das Bad am Aniene
  9. Im Zentrum von Rom
  10. Der Knochenmann
  11. Erklärungen
  12. Nachwort
  13. Warum wir nicht immer einig waren
  14. Über den Autor