1. Vorbemerkungen
Einen schnellen Zugriff auf die Schwerpunkte der evidenzbasierten Personalauswahl bietet der zweiteilige Aufbau dieser Publikation.
Teil I enthält die Voraussetzungen, die neurobiologischen Aspekte, die Persönlichkeitsmerkmale und die Tools zur Beschreibung der Persönlichkeit. Teil II beinhaltet die Module: Kompetenzen, Potenziale und präventive Faktoren.
Die wachsende Komplexität und immer schnellere Innovationszyklen stellen an die Personalauswahl neue Anforderungen. Im Zeichen der digitalen Transformation geht es nicht mehr nur um die „Besten“, sondern aus der Sicht des „War for Talents“ um die „Passenden“ und diejenigen Führungskräfte, die Unternehmen nachgewiesen und nachhaltig erfolgreicher gestalten.
Die Auswahl von Führungskräften sollte dieser Dynamik gerecht werden. Mehr denn je werden nicht Personen, sondern Persönlichkeiten mit dem notwendigen Persönlichkeits-, Kompetenz- und Potenzialprofil sowie Erfahrungen aus einem interkulturellen Umfeld gefordert.
Von der Persönlichkeitsdiagnostik werden hinlänglich präzise Vorhersagen des künftigen Berufserfolgs, der Leistungen, des Verhaltens sowie eventuelle Veränderungen in definierten Situationen erwartet.
Personalentscheider wünschen sich evidente diagnostische Methoden bei vertretbarem Aufwand. Solide Verfahren, die nicht nur die Persönlichkeit beschreiben, sondern Leistungen und Verhalten valide voraussagen. Für Personalentscheider bietet der Ratgeber wissenschaftlich und praktisch fundierte Hilfen für die Personalauswahl. Er dient der Vermittlung von Persönlichkeitsmerkmalen, Kompetenzen und Potenzialen, die in speziellen Trainings erworben werden können.
Diese Entscheidungshilfen basieren auf evidenten wissenschaftlichen Erkenntnissen verschiedener Fachrichtungen, auf jahrzehntelanger Beratungstätigkeit und der erfolgreichen Auswahl von mehr als 1.000 Führungskräften. Die Jahre meiner Tätigkeit lehrten mich den Nutzen praktischer Erfahrungen wertzuschätzen.
2. Status Quo
In einem Rückblick auf 10 Jahre Forschung und Praxis kam Nachtwei (2019) zu dem Ergebnis, dass es für Praktiker äußerst schwierig ist, sich im Dschungel wissenschaftlicher Beiträge zum Thema Potenzialbeurteilungen zurecht zu finden. Die DIN 33430 (Neufassung 2018) zu den Grundlagen und der Praxis der Eignungsdiagnostik hat die Gesamtsituation nicht wesentlich verbessert. Ca. 75 Prozent der Befragten Personalmanager gaben an, dass die Norm in der praktischen Arbeit wenig Nutzen bringt.
In einer aktuellen Studie von Armoneit, Schuler und Hell (2020) zur Nutzung und Bewertung von Personalauswahlverfahren in Deutschland wurde, wie in zurückliegenden Studien der Autoren, eine relativ große Kluft zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Umsetzung in die Praxis ermittelt.
Der Scientist-Practitioner-Gap1 konnte jedoch für die Validität und Akzeptanz von Personalauswahlverfahren verringert werden. Dies bedeutet, Unternehmen sind zunehmend besser über die Validität und Akzeptanz der Verfahren informiert. Die Validität von Intelligenztests wird unter- und Assessment-Center überschätzt. Online-basierte Personalauswahlverfahren wie die automatisierte Vorauswahl oder die Analyse von Online-Bewerbungsunterlagen sind auf dem Vormarsch und bringen eine neue Lawine anders gearteter Probleme mit sich.
Dies gilt zum Teil auch für online-basierte Persönlichkeitstests. Die bisherigen Ergebnisse sagen leider nichts über die Durch-führungsqualität der Methoden aus. Personalentscheider orientieren sich nach wie vor ungenügend an validen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Persönlichkeitstests mit fragwürdiger wissenschaftlicher Wertigkeit werden weiter eingesetzt (Hossiep et al., 2015).
Dies beginnt bereits bei der Planung von Personalauswahlverfahren. Nach einer Studie von Kanning (2015) rangieren die Auswahlverfahren mit dem „besten Image“ auf den ersten Plätzen. Danach folgten die absoluten Kosten der Auswahlmethode. Je teurer eine Methode war, desto weniger attraktiv erschien sie den Personalentscheidern.
Erschreckend war und ist die Tatsache, dass die Verbreitung bzw. Häufigkeit der Anwendung einer Methode als Auswahlkriterium eine wichtige Rolle spielen. Dies bedeutet, dass sich selbst absurde Methoden wie der MBTI-Test, die Auswahl nach Farbtypen, die Schädeldeutung, der Rohrschachttest, neurologische Tests, graphologische Methoden oder psychogenetische Codes u.a. noch im Repertoire einiger Personalentscheider befinden (Studie GAH, 2017). Diese Tests erlauben keine zuverlässigen Aussagen zur zukünftigen Performance von Führungskräften. Bislang gibt es tausende Tests mit fragwürdiger Validität und recht unsicherer Vorhersagegenauigkeit. Jeder Anbieter schwört auf seinen Test und ein Ende dieser inflationären Entwicklung ist nicht abzusehen.
Tatsache ist, dass bis auf Ausnahmen die Gütekriterien und insbesondere die prädiktive Validität kaum berücksichtigt werden. Die sichere „eigene Menschenkenntnis“ gepaart mit Bauchentscheidungen stehen insbesondere für das Top-Management im Mittelpunkt.
Nach Gigerenzer (2019) treffen Führungskräfte (Abteilungsleiter bis Vorstände) in 50 % der Fälle Bauchentscheidungen. Gute intuitive Entscheidungen sind jedoch nicht mit Bauchentscheidungen gleichzusetzen. Intuitive Entscheidungen beruhen auf spezifischem Erfahrungswissen. Das ist der Grund, warum Manager gute Ergebnisse erzielen. Anerkennend muss eingestanden werden, dass erfahrene Personalmanager mit mehr als 10.000 Stunden validierter Praxiserfahrung auch überraschend gute Ergebnisse realisieren (Ericsson, 2008).
Schlussfolgernd bedeutet professionelle Personalauswahl:
Minimierung von Fehlentscheidungen und Fehlbesetzungen.
Einsatz prädiktiver valider Methoden und Instrumente.
Nein zur Augenscheinvalidität.
Erhöhung der Vorhersagequalität.
Evaluierung der Ergebnisse.
Das komplexe System „Mensch“ lässt sich nicht mit noch komplexeren Methoden messen.
Ein komplexes System ist inhärent eingeschränkt in der Präzision der Vorhersage zukünftiger Zustände und minimale Änderungen in den Ausgangsbedingungen können zu erheblichen Abweichungen im Endzustand führen. Komplexe Systeme sind vor allem durch Wechselwirkungen und teils unüberschaubare Ursache-Wirkungszusammenhänge gekennzeichnet.
Viele Prozesse sind nicht linear, sie sind ergebnisoffen und unvorhersehbar.
„Relevante Heuristik: Weniger ist mehr!“2
3. Das Konzept der evidenzbasierten Führungskräfteauswahl
Im Mittelpunkt der Personalauswahl steht die weitere Professionalisierung durch Nutzung evidenter wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Bereits 2012 wurde im Rahmen eines Symposiums in Berlin die Forderung aufgestellt, Beurteilungen und Entscheidungen in der Personalauswahl evidenzbasiert zu gestalten (Knaack, 2012). Fast 10 Jahre später gilt diese Forderung nach wie vor.
Bisher vorliegende wissenschaftliche Ergebnisse insbesondere der Neurobiologie, Neuropsychologie, speziell der Hirnforschung, aber auch die zahlreichen empirischen Daten der Personalpraxis, bieten ausreichend Anlass, die evidenzbasierte Persönlichkeitsdiagnostik stärker in den Mittelpunkt des Recruiting- und Assessmentprozesses zu stellen.
„Evidenzbasiert“ steht in diesem Zusammenhang für eine umfassende wissenschaftliche Bewertung aller Aspekte, die eine Persönlichkeit und ihre Interaktionen mit der Umwelt betreffen. Dieses Herangehen erhöht die Entscheidungssicherheit und ermöglicht effizientere Entscheidungsabläufe. Bisherige Entscheidungsgrundlagen, wie Erfahrungen, Best Practices und Beraterwissen können so optimal um valide forschungsbasierte Erkenntnisse ergänzt werden.
Ausgehend von den in den letzten Jahren ermittelten wissenschaftlichen Ergebnissen sollte eine neurobiologische Fundierung des Personalmanagements und insbesondere der Personalauswahl angestrebt werden. Die Aufarbeitung neuer psychologischer und neurobiologischer Befunde ist in diesem Kontext sehr förderlich. Dies bedeutet: evidenzbasierte Instrumente, Methoden und Verfahren stärker in den Vordergrund zu rücken. Dies bedeutet aber auch liebgewonnene Gewohnheiten zu hinterfragen. Nur mit dem Glauben an die eigene unfehlbare Wahrnehmung oder Menschenkenntnis lassen sich Personalentscheidungen nicht verbessern. Es sei denn, es wird auf die Evaluation der Besetzungsergebnisse verzichtet und die Qualität des Auswahlprozesses spielt keine Rolle.
Von zentraler Bedeutung für den Diagnoseprozess sind evidenzbasierte Tools zur Bestimmung der Persönlichkeitsfaktoren, der Kompetenzen, der Leistungsindikatoren unter Einbeziehung neuropsychologischer Erkenntnisse, aber auch die Ergänzung durch präventive Methoden (z.B. Bestimmung der Resilienz).
Ausgangspunkte sollten stets die folgenden Fragen sein:
Was ist die wissenschaftliche Basis?
Was ermöglicht Leistungen?
Was sind die notwendigen Voraussetzungen hoher Leistungen von Managern?
Diese Fragen ermöglichen eine andere Sichtweise auf die Bewertung des Verhaltens und der Leistungen von Managern sowie der validen Vorhersage zukünftiger Ergebnisse.
Dies erfordert eine systemische und analytische Herangehensweise.
Es stehen nicht mehr ausschließlich Persönlichkeitseigenschaften und Fähigkeiten im Vordergrund. In den Mittelpunkt der Personalauswahl gilt es mehr und mehr valide präventive und prädiktive Methoden zur Einschätzung und Bewertung des Verhaltens und der zukünftigen Leistungen von Personen zu rücken.
Die weitere Professionalisierung der Personalauswahl durch Nutzung evidenter, prädiktiv valider wissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere der Psychologie, Wirtschaftspsychologie, Genetik, Epigenetik, Neurobiologie, speziell der Hirnforschung, Soziologie u.a. ist der Schwerpunkt des Konzeptes der evidenzbasierten Persönlichkeitsdiagnostik (EPD).
Das Erfolgsrezept besteht im multidimensionalen Ansatz und der Zusammenführung evidenter Ergebnisse verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Eine weitere wichtige Prämisse ist die Anwendung objektiver, reliabler und prädiktiv valider Methoden und Instrumente. Diese Tools sollten nicht nur in Querschnittsstudien, sondern auch in Langzeitstudien ihre Validität bewiesen haben. In Replikationsstudien sollten sich die Ergebnisse bestätigen lassen. Eine derartige Herangehensweise würde sehr schnell die „Spreu vom Weizen“ trennen und eine Vielzahl wer...