Das Abendessen
eBook - ePub

Das Abendessen

  1. 120 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub
Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Alles beginnt mit einem Abendessen: Zusammen mit seiner Mutter ist der Erzähler bei einem Freund zu Gast. Doch der Abend gestaltet sich für ihn frustrierend, denn sofort beginnen Freund und Mutter mit ausuferndem Namedropping: Meisterlich beherrschen sie, was die kleinstädtische Welt zusammenhält und jedem seinen Ort zuweist, den Lebenden genauso wie den Toten. Der Erzähler, der all die Namen nicht kennt, sieht für sich daher hüben wie drüben keinen Platz, doch wohin mit sich? Zu Hause zappt er sich durchs Fernsehprogramm und landet beim örtlichen Reality-TV-Sender. Gerade geht es in rasender Fahrt zum Friedhof, und gebannt verfolgt er, wie sich reality in ein Splattermovie verwandelt: Die Toten steigen aus ihren Gräbern, und eine Flut hungriger Untoter strömt in die Stadt Coronel Pringles.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Das Abendessen von César Aira, Christian Hansen im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatura & Literatura general. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2022
ISBN
9783751800822

II

Es war kaum elf Uhr vorbei, als wir zu Hause ankamen. Während des gesamten Weges beschwerte sich Mamá in einem fort, wie spät es geworden sei, über das Essen, über alles, ganz besonders aber über die Extravaganzen meines Freundes. Woher er bloß das Geld hatte, um all diesen Unfug zu kaufen. Wie er mit diesem bizarren Firlefanz zusammenleben konnte, der zu nichts taugte. Und es musste teuer sein, oder bekam er das alles etwa geschenkt? Sie kam auf die ökonomische Frage zurück, empört, beleidigt, als hätte mein Freund seine Spielzeuge mit ihrem Geld gekauft. Das sagte ich ihr. Jeder könne mit seinem Geld machen, was er wolle, oder? Außerdem sei er ein reicher Mann. Das zu sagen, fiel mir schwer; letztens vermied ich es, über Finanzen zu sprechen, so sehr wie meine eigenen Schiffbruch erlitten hatten; ich war bankrottgegangen, mein Haus und mein Auto waren versteigert worden, und ich hatte in der Wohnung meiner Mutter Zuflucht suchen und von ihrer Rente leben müssen (wenn man das leben nennen konnte). Auf meine Worte reagierte sie prompt mit einer überraschenden Bemerkung: Von wegen reich, nicht die Bohne! Er sei ruiniert! Er besäße keinen Centavo, habe alles verloren, das Einzige, was ihm geblieben sei, wäre das Haus, und das sei auch noch voll von scheußlichem Unrat. Ich schenkte ihr wenig Glauben, besser gesagt gar keinen: Seit meinem Debakel sagte sie das von allen, selbst von den bekanntermaßen wohlhabenden Kaufleuten und steinreichen Bauern. Glaubte man ihr, wäre über ganz Pringles der kollektive Ruin hereingebrochen. Sie sagte es meinetwegen, aus einem so instinktiven und blinden mütterlichen Gefühl heraus, dass sie auch vor Absurditäten und Lügen nicht zurückschreckte, die sie übrigens am Ende selbst glaubte. Wenn es ihre Absicht war, mich zu trösten, so misslang ihr das. Ich sah, dass sie bereits das Stadium erreicht hatte, in dem sie ihre Lügen wahr sehen wollte, fremdes Unglück förmlich herbeisehnte, und das verbitterte ihren Charakter. Und da sie solches außer zu mir auch zu jedem anderen sagte, erwarb sie sich den Ruf einer Verleumderin oder Schwarzseherin; die Leute begannen, ihr aus dem Weg zu gehen, und außer für mein persönliches Scheitern würde ich auch die Schuld dafür tragen müssen, ihr die letzten Jahre vermiest zu haben (war doch das gesellschaftliche Leben der Stadt ihr Lebenselixier).
Ich versuchte also, sie von ihrem Irrtum zu befreien. Aber die Details, die sie mir daraufhin nannte, ließen mich zweifeln, ob sie wirklich im Irrtum war. Ich sagte ihr, mein Freund habe doch seine Baufirma, arbeite unermüdlich … Sie widersprach mit dem Brustton der Überzeugung: Nein, nicht die Bohne. Er arbeite kein Stück, alle seien bankrott, die Baufirma stehe still. Die Firma gehöre ihm außerdem gar nicht mehr, sein Teilhaber habe ihn übers Ohr gehauen und vor die Tür gesetzt. Sie untermauerte ihre Argumente mit Namen und noch mehr Namen, den Namen von Leuten, die ihm Aufträge erteilt und dann nicht bezahlt hatten, den Namen seiner Gläubiger und derer, die ihm die wenigen verbliebenen Besitztümer abgekauft hatten, von denen sich zu trennen er gezwungen war, um seine Schulden zu bezahlen. Die Namen verliehen der Geschichte Wahrscheinlichkeit, auf mich hatten sie jedoch weniger beglaubigende Wirkung, als dass sie meine Bewunderung weckten. Dass meine Mutter in ihrem Alter die Namen immer parat hatte, beeindruckte mich; es stimmt, sie besaß große Übung darin, denn ihre Unterhaltungen (und vermutlich ihre Gedanken) kreisten alle um Leute aus der Stadt. Ich kannte nicht einmal den Namen des Teilhabers meines Freundes. Die örtlichen Nachnamen kamen mir vage bekannt vor, ich hatte alle schon einmal gehört, tausende Male, aber aus irgendeinem Grund hatte ich mich stets geweigert, sie mit den Leuten in Verbindung zu bringen, die ich auf der Straße traf. Ich hatte als Kind diese Verbindung schon nicht gezogen, und jetzt war es dafür zu spät. Mit den Jahren schreckte mich zunehmend die Mühe, die es mich kosten würde, sie mir einzuprägen, vor allem, wenn ich sah, mit welcher Virtuosität die anderen sie beherrschten. Obwohl es so schwer nicht sein konnte. Ich musste zugeben, dass meine Weigerung etwas Halsstarriges hatte. Aber so gravierend war es am Ende nicht, man konnte auch so leben und Beziehungen pflegen. Obwohl den anderen meine Schwäche auf die Dauer auffallen musste; ich funktionierte nicht nach dem Schema der Namensstenografie und ihrer verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Vernetzung; ich brauchte zusätzliche Erklärungen; meine Gesprächspartner, sofern sie mich nicht für geistig zurückgeblieben hielten, mochten glauben, es handle sich um Verachtung oder Gleichgültigkeit oder ein ungerechtfertigtes Überlegenheitsgefühl. Vielleicht war das der Grund, warum es mir mit meinen Geschäften so schlecht ergangen war. Jemand, der nicht wusste, wie sein Nachbar hieß, den er jeden Tag sah, konnte kein Vertrauen wecken.
Mamá und mein Freund hatten während des Essens mit Namen um sich geworfen. Diese Einvernehmlichkeit hatte mich zu der Annahme verleitet, sie werde den Abend genießen, was aber offensichtlich nicht der Fall war. Schlecht gelaunt kam sie zu Hause an, im Aufzug entwichen ihr Seufzer der Ungeduld, und nach Betreten der Wohnung ging sie unverzüglich ins Bad, um ihre Schlaftablette zu nehmen. Bevor sie sich hinlegte, fand sie Gelegenheit, sich noch einmal darüber zu beklagen, wie spät es geworden sei und was für einen unerfreulichen Abend sie gehabt habe. Ich warf mich in einen Sessel und schaltete den Fernseher ein. Ein letztes Mal kam sie mit einem Glas Wasser aus der Küche, sagte mir Gute Nacht und zog sich in ihr Zimmer zurück.
»Geh nicht so spät ins Bett.«
»Es ist noch früh. Morgen ist Sonntag.«
Meine eigenen Worte deprimierten mich. Nicht nur, weil die Sonntage deprimierend waren, sondern weil sich für mich alle Tage in Sonntage verwandelt hatten. Die Untätigkeit, das Bewusstsein meines Scheiterns, das anachronistische Verhältnis eines sechzigjährigen Mannes mit seiner Mutter, das inzwischen unabänderliche Junggesellendasein hatten mich in diese für tote Tage typische Melancholie gestürzt. Jeden Morgen und jeden Abend nahm ich mir vor, ein neues Leben zu beginnen, schob das aber immer wieder auf, zeigte Nachsicht mit meiner kränkelnden Willenskraft. Und ein Samstag, eine Stunde vor Mitternacht, war nicht der passende Moment für wichtige Entscheidungen.
Das Fernsehen war zu meiner einzigen echten Beschäftigung geworden. Dabei mochte ich es nicht einmal. In meiner Jugend (in Pringles) gab es so etwas nicht, und als ich allein lebte, hatte ich keinen Fernseher, weshalb ich nie auf den Geschmack gekommen, es mir nie zur Gewohnheit geworden war. Aber seit ich bei Mamá eingezogen war, hatte ich nichts anderes.
Sobald ich allein war, fing ich an zu zappen. Das machte ich immer, und meines Wissens taten viele Leute systematisch dasselbe; für viele war »Fernsehen schauen« gleichbedeutend mit Zapping. Für mich auf jeden Fall. Nie konnte mich ein Film fesseln, vielleicht weil sie immer schon begonnen hatten und ich die Handlung nicht verstand, und außerdem habe ich das Kino nie gemocht, ebenso wenig Romane. Für Nachrichten galt dasselbe, die Kriminalfälle, die gerade alle Welt in Atem hielten, ließen mich kalt, erst recht Kriege oder Katastrophen. Und so lief es mit allem. Es gab siebzig Programme, und oft zappte ich alle durch, eins nach dem anderen, und begann danach wieder von vorn, bis ich nicht mehr konnte (der Finger, mit dem ich den Knopf an der Fernbedienung drückte, schlief mir ein) und bei einem hängen blieb. Nach einer Weile trotzte ich, wie, weiß ich nicht, der Resignation und Langeweile neue Kräfte ab und schaltete wieder um. Da ich ganze Nachmittage vor dem Fernseher verbrachte, kam ich auf die Dauer nicht umhin, das Sinnlose und Irrationale dieses Zeitvertreibs zu erkennen. Mamá bestand darauf, ich solle spazieren gehen, und ich selbst nahm es mir vor, aber meine Trägheit triumphierte. Ich erinnerte mich an das, was mein Freund vor einer Weile von dem kleinen Alten erzählt hatte, dass er morgens zum Friedhof gehe. Da hatte ich doch einen guten Grund, mich aufzuraffen; nicht das Beispiel eines gesunden, aktiven Neunzigjährigen (obwohl das ein gutes Beispiel war), eher aus Neugier, ob ich ihm begegnen würde. Er hatte gesagt, er täte es nur, wenn er sich beim Aufwachen deprimiert fühle und Schmerzen habe, tat es also nicht jeden Tag. Ich dagegen müsste es jeden Tag tun, um denjenigen nicht zu verpassen, an dem er es tat. Nun war es sicher nicht sehr verlockend, einen Alten vorbeilaufen zu sehen, aber es hatte den kleinen Reiz herauszufinden, ob die Geschichte stimmte, ich war ja mit wenigem zufrieden. Die Geschichten meines Freundes umwehte, wie ich schon sagte, immer ein Hauch von Märchen; eine von der Wirklichkeit bestätigt zu finden, konnte aufregend sein. In der Lebensphase, in der ich mich befand, war ich zu dem Schluss gelangt, dass ich niemals Protagonist irgendeiner Geschichte werden würde. Einblick in die Wirklichkeit einer fremden zu nehmen, war alles, was ich erwarten durfte.
Wie dem auch sei, ich sah mich jedenfalls nicht im Morgengrauen des nächsten oder irgendeines kommenden Tages aufstehen, um einen Spaziergang oder sonst etwas zu unternehmen. Das war insofern schade, als ich auch abends nicht ausging. Die Nacht von Pringles gehörte den jungen Leuten, vor allem eine Samstagnacht wie diese. Bei der Rückkehr hatte ich das Treiben in den Straßen gesehen, und jetzt, vor dem Fernseher, erinnerte ich mich daran, dass der örtliche Kabelkanal samstagnachts eine Livesendung ausstrahlte.
Heutzutage haben alle Städte, selbst viel kleinere als Pringles, ihren eigenen Kabelkanal. Sie müssen ein gutes Geschäft sein, mit geringem Startkapital und satten Nebenverdiensten. Aber die Sendezeit mit mehr oder weniger akzeptablen Programmen zu füllen, ist schwierig. Beim Kabelkanal von Pringles zeigte sich dies geradezu als Unmöglichkeit. Es war ein echtes Desaster, obwohl man sich auf nur wenige Stunden am Tag beschränkte: eine Nachrichtensendung am Mittag, eine am Abend, danach ein Umlandprogramm unter Leitung eines Agraringenieurs, eine Sportsendung und je nach Wochentag ein Film, Videoclips, ein Konzert im Teatro Español oder eine Gemeinderatssitzung. Die Nachrichtensendungen wurden mit todlangweiligen Schulveranstaltungen aufgefüllt. Alles wirkte halbseiden, schlecht ausgeleuchtet, schlecht gefilmt, schlecht produziert, außerdem vorhersehbar und redundant. Es hatte nicht einmal den Reiz des Skurrilen. Auch wenn es zugegebenermaßen einfacher ist, etwas zu kritisieren, als es zu machen, hatten wir in Pringles berechtigte Gründe, uns zu beklagen. Es fehlte an Kreativität, Fantasie, Sensibilität, auf alle Fälle an etwas mehr Mut.
Mit dem neuen Samstagnachtprogramm schien sich in dieser Hinsicht eine gewisse Besserung abzuzeichnen. Geleitet wurde es von María Rosa, der jungen Nachrichtensprecherin, und die Idee war, dass sie sich auf ihren Motorroller setzte und in Begleitung eines Kameramanns Kneipen, Restaurants und Festen einen Besuch abstattete. Einige dieser Touren hatte ich an den vergangenen Samstagen mitverfolgt. Die Erbärmlichkeit der Ergebnisse konnte man auf die mangelnde Abstimmung schieben, logisch bei einer neuen Sendung. Aber über allem lag eine Atmosphäre von Albernheit, die vermuten ließ, dass es sich auch mit der Zeit nicht bessern werde. Es schien, als sei es allen egal, ob es gut wurde oder schiefging, ein häufiges Phänomen und dadurch unfreiwillig spannend. Das Licht fehlte oder blendete, der Ton versagte. Wenn man etwas sah oder hörte, dann aus purem Zufall. Sie wollten alles spontan, lässig, jugendlich erscheinen lassen, waren aber so naiv zu glauben, man könne das dadurch schaffen, dass man spontan, lässig und jugendlich agierte; das Ergebnis war unverständlich. Was wollten sie außerdem damit erreichen, in eine Diskothek oder in ein Essen unter Freunden im Fogón de los Gauchos hineinzuplatzen und die Leute zu fragen, ob sie sich gut amüsierten? Sie schienen sich das nicht überlegt zu haben. Wenn es eine soziologische Feldstudie sein sollte, war sie schlecht gemacht; wenn sie zeigen wollten, wie sich die Reichen und Berühmten amüsierten, waren sie auf dem Holzweg, denn in Pringles gab es keine. Sie konnten nicht einmal mit der Gier der Leute rechnen, sich selbst im Fernsehen zu sehen, denn da es sich um eine Livesendung handelte, konnten sie sich nicht sehen; das Einzige, worauf sie hoffen durften, war, dass irgendein Verwandter sich die Nacht um die Ohren schlug, um sich den Schund anzuschauen und ihnen am nächsten Tag sagen zu können: »Ich hab dich gesehen.«
Die Sendung hatte schon begonnen, als ich einschaltete, und ich unterhielt mich eine Weile mit dem Analysieren der Pannen und Schwächen. Jetzt sah ich das Hauptproblem, das mit der Liveübertragung selbst zusammenhing: die unendlich langen, toten Zeiten, die zwischen den Ereignissen lagen, sosehr María Rosa mit ihrem Rollerchen auch Gas geben mochte. Das hatten sie ebenfalls nicht bedacht. Da sie keine Werbung an Land gezogen hatten, gab es keine Unterbrechungen; der Kameramann hockte so gut er konnte auf der Sitzbank hinter María Rosa, und die Kamera zeigte ständig in wildem Wechsel alles Mögliche, den Sternenhimmel, Bäume, Straßenlaternen, Hausfassaden, das Pflaster, wie in einem konvulsivischen Walzertanz. Er musste sich mit einer Hand an der Fahrerin festklammern, mit der anderen hielt er auf der Schulter die schwere Kamera, und so ging das minutenlang. María Rosa versuchte, die Zeit mit Kommentaren zu füllen, aber abgesehen davon, dass sie nichts zu sagen hatte und durch das Steuern des Rollers abgelenkt war, machten ihre schlechte Aussprache und der Motorenlärm es unmöglich, etwas zu verstehen.
Als ich mich zuschaltete, befanden sie sich gerade auf einer dieser Fahrten. Und als ich meiner harten, bitteren Kritik müde wurde (mir konnte es schließlich egal sein), waren sie noch immer mit Vollgas unterwegs. Unmöglich zu erkennen, wohin sie fuhren: Das Bild wackelte wie verrückt, und die wenigen undeutlichen Bilder, die ruckartig den Nebel durchbrachen, sagten mir nichts. Der Lärm des Rollerchens, dem alles abverlangt wurde, überdeckte die Stimme von María Rosa, die pausenlos quatschte, Witze machte, lachte, sehr aufgekratzt wirkte. Ich hielt noch einige Minuten durch, und da sie nirgendwo ankamen, schaltete ich um. Ich zappte mich durch alle siebzig Kanäle, und als ich nach einer Weile, die mir elend lang erschien, zurückkam, waren sie noch immer nicht weiter. Es war der Gipfel.
Wo fuhren sie bloß hin? Sollten sie sich am Ende davon überzeugt haben, dass die Nacht von Pringles nicht mehr hergab, und wollten jetzt einen der Nachbarorte, Suárez oder Laprida, erkunden? Suárez lag am nächsten, aber sie würden trotzdem anderthalb Stunden brauchen, und so verrückt konnten sie unmöglich sein. Außerdem wäre die Fahrt auf der Straße entspannter gewesen; dem Gerüttel und den Schlägen nach zu urteilen, waren sie aber auf einer Schotterpiste unterwegs, fuhren Schlangenlinien, und bei einigen schwindelerregend schiefen Einstellungen erleuchtete der in die Kamera eingebaute Scheinwerfer Bäume und gelegentlich ein Haus. Sie mussten sich in den Ausläufern der Stadt befinden, vielleicht hatten sie sich verfahren. Vielleicht hatte man auch im Umland oder im weit abgelegenen Stadtteil La Estación eine Kneipe neu eröffnet. Ich hielt es für unwahrscheinlich. Es gab ein Restaurant für Lastwagenfahrer am Knotenpunkt der Nationalstraße 5, das berühmte Tacuarita, in dem sich die Gourmets von Pringles die Ehre gaben, aber der Weg dorthin führte über Autostraßen, und sie fuhren eindeutig nicht auf einer Straße.
Eine andere, viel wahrscheinlichere Erklärung kam mir in den Sinn: Es hatte einen Unfall gegeben, María Rosa hatte davon Wind bekommen und eilte zum Ort des Geschehens, kehrte der Frivolität des nächtlichen Amüsements zugunsten einer echten Nachricht den Rücken. In den Samstagnächten herrschte Hochkonjunktur, was Autounfälle betraf; halb Pringles war so zu Tode gekommen oder zum Krüppel geworden. Seltsam war nur, dass ich keine Feuerwehrsirene gehört hatte. Aber es war der wahrscheinlichste Anlass dafür, dass die Reporterin eine so lange Fahrt unternommen hatte. Sicher wollte sie rechtzeitig ankommen, um die Leichen zu filmen und mit Zeugen oder einem Überlebenden zu sprechen.
Alle meine Spekulationen stellten sich als falsch heraus, ausgenommen eine: Die nächtliche Kamera war tatsächlich einer unerwarteten Nachricht auf der Spur, von der sie im Verlauf ihrer Kneipentour erfahren hatte. Aber es war kein Verkehrsunfall, auch kein Brand oder Verbrechen, sondern etwas viel Merkwürdigeres, so merkwürdig, dass niemand im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte glauben konnte, dass etwas Derartiges wirklich geschah. Eben darum fuhren sie hin (sie konnten ohnehin nicht aufhören zu fahren), um den Schwindel zu widerlegen oder die Witzbolde zu entlarven. Der Witz konnte der Anruf gewesen sein, die Information, die sie in Bewegung gesetzt hatte, und in dem Fall würden sie nichts finden.
Kurz und gut, sie fuhren zum Friedhof, denn man hatte ihnen gesagt, die Toten würden aus eig...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Kapitel I
  5. Kapitel II
  6. Kapitel III
  7. Impressum