Die Zone oder Tschernobyls Söhne
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Die Zone oder Tschernobyls Söhne

  1. 180 Seiten
  2. German
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Die Zone oder Tschernobyls Söhne

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Über dieses Buch

Markijan Kamysch ist der Sohn eines sogenannten Liquidators, der zu den Rettungs- und Aufräumtrupps gehörte, die nach dem Reaktorunfall die Schäden vor Ort beseitigten. Seit 2010 führt Kamysch illegale Ermittlungen in der Sperrzone von Tschernobyl durch. Beinahe ein Jahr hat er mittlerweile in dem strahlenverseuchten Gebiet um das Atomkraftwerk und die nahe gelegene Stadt Prypjat verbracht und seine Erlebnisse aufgezeichnet. Sein Buch ist das einzigartige literarische Dokument einer Erkundung, für die er seinen Leib riskiert. Als Sohn eines 2003 an den Folgen der Strahlenkrankheit verstorbenen Ersthelfers gehört er der »Generation Tschernobyl« an. Der Ort, der das Leben seiner Familie und das einer ganzen Gesellschaft änderte, ist für ihn »ein Land des Friedens, gefroren und zeitlos«, in dem er eine Art von Freiheit erlebt, die in den Gefängnissen einer total konsumistischen und nihilistischen Gesellschaft zu einem Raum der Utopie geworden ist. Wie ein Blinder findet er sich dort zurecht und nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise zum »exotischsten Ort der Welt

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Information

Jahr
2022
ISBN
9783751808057

Hallo, Zone! Leb wohl

Ich komme heim und denke mir: Jetzt bin ich zu Hause, ich mache mir ein oranges Hike auf und knabbere Schokoriegel, schlürfe Pepsi und genieße die süßen Seiten des Lebens. Dabei merke ich, dass ich den Typen, die andauernd gegen den Konsumsegen der modernen Zivilisation wettern, gern ein paar Takte sagen möchte. Denen, die etwas dagegen haben, dass man im Supermarkt zehn verschiedene Sorten TK-Gemüse und zwanzig Sorten Zigaretten kaufen kann. Ihr seid Arschlöcher. Beißt doch einfach mal nach zwei Wochen Alleinkampf in der Zone in einen Schokoriegel, spürt das Knacken der Haselnüsse auf den ewig nicht geputzten Zähnen, schmeckt das Prickeln einer Brause, dann könnt ihr euch gern über das breite Sortiment an Importprodukten auslassen. Ihr Arschlöcher.
Ich sitze also zu Hause, schaue Kubrick-Filme, trinke abwechselnd Tee, Kaffee und Hike, koche mir aus Knoblauch und Pilzen eine Suppe, esse sie langsam und genüsslich, krieche unter alle Decken, die ich finden kann, und schwöre mir hoch und heilig, dass ich nie wieder auf diese ätzende Halde, in diese beschissene Zone fahre.
Als ich sechs war, bekam ich mehrere Sachbücher über die Natur geschenkt. Dort ging es um tektonische Bewegungen, Karstbrüche und Korallenriffe – ich habe sie alle zigmal gelesen. Als ich dreizehn war, spielte ich an die dreißig Mal Max Payne: Es war das Einzige, was auf der Festplatte drauf war. Das reichte mir auch. Was brauchst du noch, wenn du deinen ersten Max Payne hast? Ich blieb hängen.
Mit der Zone war es dasselbe. Ein normaler Mensch schaut sich das einmal an. Wer krass geflasht ist, fährt ein paar Mal hin. Ich habe jedes Mal, wenn ich da war, was Neues entdeckt. Zuerst Prypjat und Tschernobyl 2, dann die vielen, vielen Dörfer, die Pionierlager, die Ferienheime, die Flaks, die Hangars, die Bahnanlagen, die Kühltürme, die Kirchen. Jeden Winkel, jedes Stück Vergangenheit in der Zone wollte ich berühren. Und jedes Mal habe ich mir geschworen, es sei das letzte Mal, mein letzter Trip.
Vergiss es. Einen Monat später schramme ich wieder mit meinem Rucksack am Stacheldraht, stolpere über die Felder, laufe über tote Gleise, baue mir Brücken und entzünde Kerzen in verlassenen Kirchen. Ich bin ein Idiot. Mach mich doch mal einer tot.
Es gibt auch optimistische Momente. Ein sonniger Morgen, ich bin aufgewacht und hatte Energie, alles war gut. Ich öffnete das Fenster, trank einen grünen Tee und schaute auf die Stadt, dann war ich im Fitness, stand zwanzig Minuten unter der Dusche und hab mir die eintönige Musik von Brian Eno reingezogen. Danach bin ich zum Supermarkt. Bin mit dem Wagen durch den Laden gerollt, hab Pepsi, Käse, Ciabatta, Würstchen, Schmalzfleisch und ein paar Flaschen deutsches Bier gekauft. Hab mir einen Wegwerf-Regenmantel genommen und ein Taxi gerufen. Bin bis zum Haltepunkt Klywyny mitten im Dickicht der Wälder gelaufen, hab mich unter freiem Himmel aufs Ohr gehauen und geschlummert, bis der Morgen seine Laken gelüftet, mich die kühle Früh aus dem süßen Vergessen und aus dem warmen Schlafsack geholt hat.
Auf diesen Touren gibt es viele nette, warme Abende, die Leute sitzen am Feuer, reden, ehe sie irgendwann einschlafen. Ehe ihre Turnschuhe in Flammen aufgehen, weil sie zu nah am Feuer stehen, du trinkst Spiritus, verdünnt mit Sumpfwasser, beobachtest die Sterne, schaust in die Flammen, und es scheint dir, als wäre die Zone der schönste Ort der Welt.
So eine Tour läuft immer nach demselben verdammten Schema ab: Man läuft los, hängt seinen Gedanken nach und hofft, dass man sich bald irgendwo gemütlich einrollen und für ein paar Tage abtauchen kann. Angekommen. Im Dunkeln und im süßen Schlaf. Man schlägt sich durch den Busch, humpelt über tote Gleise, die sich längst der Wald und die Wölfe erobert haben. An den Schwellen haben die Schlangen ihr Revier, die Pfade zu beiden Seiten gehören den Wildschweinen. Man lässt sich fallen, wirft sich in den Schotter, schläft ein und ignoriert den Sprühregen, ignoriert das Strahlen der Sterne, ignoriert den Vollmond, der einen auf Spot macht. Gegen Morgen kommt man mit letzter Kraft bei der Kreuzung an und klappt ab, um zu Hause, in der Massagedusche, bei Ambient wieder zu sich zu kommen. Und ein paar Wochen später wieder loszuziehen.
Tour Nummer sechsundvierzig. Keine schlechte Zahl, um endlich mit diesem Schwachsinn aufzuhören. Die Füße sind nass, die Hände taub, die Luft arschkalt. Die Haltestelle ist leer, bis auf zwei siffige Schränke mit Rucksäcken, die stinken wie mittelalterliche Pilger, sie rauchen nervös, starren Richtung Sägewerk und besteigen 5 Uhr 45 ihre gewohnte Marschrutka, sinken in die weichen Polster und träumen von Milizionären, Verfolgungsjagden und jähen Fallen. Von Situationen, in denen die Rauchschwaden eines Kanonenofens alle Milizionäre der Zone anlocken. In denen sie uns in den Bobik zerren und wir von Sicherheitsdienstlern nur deshalb verhört werden, weil wir nichts Besseres mit uns anzufangen wissen, als in der Sperrzone durch die Büsche zu kriechen. Und irgendwann am menschenleeren Busbahnhof Polessien anzukommen, wo früh am Morgen nur Penner und Sahneverkäuferinnen stehen, sich dann stinkend in die Metro zu quetschen und Schiss vor einer Streife zu haben, die dich anhalten könnte, schließlich ist dein Pass längst abgelaufen, und drankriegen können sie dich nicht nur, weil du aussiehst wie der letzte Assi.
Mach ich jetzt endlich Schluss mit meinen illegalen Touren durch die Zone? Will ich nach der nächsten sinnlosen Wanderung, nach dem nächsten Pennertrip wieder mit neununddreißig Grad Fieber zu Hause rumliegen, mich in die Küche schleppen und nur noch Kraft haben, um eine Apfelsine zu schälen und eine Flasche Wasser zur Hand zu nehmen? Ich weiß es nicht.
Natürlich weiß ich es. Spätestens nach einem Monat will ich wieder hin. Ich hole meine laminierte A2-Karte des Sperrgebiets raus. Ich schlage sie auf und hol mir damit einen runter.
Ich trinke meinen Morgentee, kaue Gebäck und habe nur noch Augen für die Topografie: die grünen Flächen mit Wald, die weißen Streifen mit Feldern, die ja in Wirklichkeit längst zugewachsen und zu jungen Fichtenwäldern, Buschland und Sumpf geworden sind und die man nur unter den unflätigsten Flüchen durchqueren kann.
Es wird noch weitere Touren in die Zone geben, denn noch hat die Karte weiße Flecken. Ich wollte schon lange mal nach Olschanka, aber irgendwie komme ich nie hin, dauernd verfehle ich das Dorf, dauernd laufe ich vorbei.
Oft kommen Freunde zu mir, wir reden über belangloses Zeug: die gemeinsame Vergangenheit, lustige Erinnerungen, Geopolitik und Literatur, sie trinken grünen Tee oder bechern Wodka, ganz egal. Manchmal betrachten sie die Landkarten, schauen sich zum x-ten Mal Fotos aus der Zone an, die ich ihnen zum x-ten Mal »vorsetze«: Sie nicken und wollen mit. Meinen Freunden schlage ich nie etwas ab, ich weiß ja, was kommt. Sie sitzen da und sagen: »Wir müssen hin, unbedingt.« Das ist im Trend, denken sie, warum gäbe es sonst die Beiträge im National Geographic über diesen ganzen Scheiß. Aber es wird nie was draus. Es gibt tausend Gründe, warum es nicht geht: Das Bein tut weh, die Freundin erlaubt es nicht, man kann sich nicht eine ganze Woche freimachen, und dafür jetzt Urlaub zu nehmen, wäre auch blöd.
Macht nichts, sage ich, das macht wirklich nichts, das ist ein schwerer Schritt, ihr müsst euch das gut überlegen und alles abwägen, müsst euch fragen, ob ihr euch und eure Lieben wirklich einem solchen Risiko aussetzen wollt. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Und überhaupt, verpisst euch doch, ich habe meine eigenen Pläne, und zum scheiß wievielten Mal jemandem Prypjat zu zeigen, kotzt mich sowieso an.
Ich nehme überhaupt nicht gern neue Leute mit. Und alte manchmal auch nicht. Wenn man nämlich mit jemandem was ausgemacht hat, muss man das vereinbarte Ziel auch ansteuern. Also Prypjat. Und wenn mir dann auf dem Weg nach Prypjat, irgendwo hinter Tschernobyl 2, plötzlich einfällt, dass ich schon eine Ewigkeit nicht mehr im Ferienlager Smaragd war und dass die alten Holzhütten sicher bald auseinanderfallen, was dann? Wenn man also jemanden auf eine Tour mitnimmt, ist das so, als würde man einen Kanaldeckel auf den Kopf kriegen, den jemand aus dem neunten Stock schmeißt, nichts als Pflichten und Regeln. Die Pflichten drücken, es hat nichts von einem Ausflug an einem freien Tag, der unbedingt auf einen Streifzug durch die Zone führen muss.
Oder aber wir sind in diesem beschissenen Prypjat angekommen, haben uns eine Zeit lang auf den Sofas gerekelt, Tee und Becherovka getrunken, die zentralen Plätze gesehen und die markanten Stellen der gängigen Touren abgeklappert, und jetzt würdest du gern weiterziehen, denn ihr habt noch ein paar Tage Zeit. Du könntest mit ihnen natürlich zur Eisenbahnbrücke gehen oder zu den Kränen, könntest ihnen Nowoschepelytschi oder noch was anderes zeigen, aber eigentlich hast du Bock drauf, nach Krasno, ans linke Ufer des Prypjat, in die Kirche zu gehen, dort eine Kerze anzuzünden, einen Tee zu trinken und Armawir Guten Tag zu sagen. Aber nach dem Trägheitsgesetz der Zone kriegen deine Mäuse ihren Arsch nicht hoch. Sie wollen nur in dieses verdammte Prypjat und sonst scheißen sie auf alles.
Und außerdem machen sie alle schlapp. Bei Kilometer zwanzig können sie nicht mehr, und damit sie ihre desolate Verfassung nicht zugeben müssen, faseln sie auf einmal was von einer Verletzung und dass man sich Zeit nehmen müsse. Allen tut das linke Knie weh. Einfach allen.
Damit wir uns nicht missverstehen. Bezeichnungen wie »Feldzug«, »Marsch« oder anderes Vokabular aus dem Wortschatz von Stammtischmilitaristen sind hier fehl am Platz. Spaziergang durch die Zone. So und nicht anders. In der Zone gibt es nämlich nichts, was sie zu einem megagefährlichen Ort, zu einem Bewährungsfeld für die Stärksten des Menschengeschlechts machen würde. Ist es das, was ihr sucht? Dann fahrt in die Tundra, steigt in Vulkane hinunter, in der Zone gibt es nur gemächliche Spaziergänge durch Mischwälder.
Die Leute verkomplizieren alles. Sie machen sich selbst verrückt, Tschernobyl, was für eine exotische Gefahr und gefährliche Exotik. Sie schauen Dokus über Raubtiere und Plünderer. Und das alles, um den richtigen Kick zu kriegen, sich vor dem eigenen Schatten zu fürchten, sich an imaginären Schrecken und ominösen Gesetzesübertretungen aufzugeilen.
Wenn du jeden Winkel durchkämmt hast, wenn das Panorama von Prypjat für dich nichts Besonderes mehr ist, nur noch beiläufige Kulisse für den Gute-Nacht-Tee, wenn du schon so oft auf die Antennen von Tschernobyl 2 geklettert bist, dass du selbst nicht mehr weißt, wie oft, wenn alle verlassenen Kolchosen, Dörfer, Weiler, Hochstände abgeklappert sind, dann suchst du das Unerreichbare.
Und findest völlig abgedrehte Orte, wo nur heiße Sümpfe sind, wo die Watstiefel einsinken und die Mücken surren. Du fährst schon lange nicht mehr mit der Marschrutka bis zum Stacheldraht, du schmeißt dich einfach ins Taxi und kriechst lautlos rein. Du läufst ohne Karte durch Gestrüpp, das nur du allein kennst, durch ein wirres Kanalsystem und verlässt dich dabei auf deine Nase und deinen sechsten Sinn. Du suchst dir die entlegensten Dörfer und Fleckchen der Zone. Und danach gehst du sowieso nach Wiltscha.
Es gibt viele grausame und absurde Dinge im Leben. Man kann abstinent leben, jeden Morgen mit Bus und Bahn von einem Ende der Stadt zum anderen fahren, literweise Niedrigprozentiges trinken, Shisha rauchen, den Kragen am Polohemd hochklappen, Schlager-Radio hören, mit achtzehn heiraten und für das neueste iPhone einen Kredit aufnehmen.
Aber nichts ist schrecklicher, als nach Wiltscha zu kommen. Obwohl der Anmarsch angenehm und sogar nett ist. Du steigst aus einem riesigen Bus, der einmal am Tag nach Owrutsch brettert, und dann läufst du direkt weiter nach Radtscha.
Radtscha ist ein besonderer Ort. Hier gibt es nur dösende Mütterchen und Lärm aus der Kneipe, in der Schmuggler, Plünderer und Grenzer saufen. Und wenn jemand tatsächlich dem Delirium entkommen will … – dann sollte er lieber für drei Tage zum Angeln nach Prypjat gehen. In Radtscha hast du keine Chance.
Dann kommt der Bahnhof Wiltscha, den ein farbenfrohes sowjetisches Wandbild ziert. Im Bahnhof wohnt Biber. Der hat immer jede Menge zu saufen, und anders als die abgerissenen Schrottgeier sieht er aus wie der wahre Gebieter über dieses von Gott vergessene und von den Menschen verlassene Kaff, und mit ihm hat man für ein paar Abende nette Gesellschaft mit fuseligem Wein. Biber reißt sich das letzte Altmetall in der Umgebung unter den Nagel, säuft manchmal mit dem Wachpersonal auf dem Mobilfunkmast und zieht Wasser aus einem Brunnen, zu dem nur er den Weg kennt.
Biber lassen alle in Ruhe. Nur Leute wie ich schauen manchmal auf ein paar Gläser bei ihm rein. Er erzählt von einem Einsiedler, der ganz in der Nähe lebt und Flöße zimmert. Biber füllt meine alten Anderthalbliterflaschen mit Brunnenwasser. Ich gehe.
Hier ist schon Zone: drei Kilometer, dreißig Jahre, Tausende Tonnen Schrott, die verfluchte Zone. Die Republik Wiltscha ist ein Ort des Verständnisses und gegenseitigen Respekts: Die Milizionäre respektieren die schwarzsiedelnden Mütterchen, und wenn sie gestorben sind und wochenlang in ihren schimmeligen Häusern gelegen haben, zollen die Milizionäre den Schrottgeiern Respekt: Sie versprechen ihnen eine Belohnung – wenn sie die Leiche bestatten, dürfen sie drei Tage lang ein Dorf plündern. Biber wird von allen respektiert. Er denkt nicht an Respekt, Biber säuft einfach und sammelt Schrott.
Mein Verhältnis zur Miliz ist ein Kapitel für sich. Nach langen Streifzügen durch Prypjat suche ich mir eine Penne. Ich hole Schmalzfleisch raus und rolle mich im kuscheligsten aller Schlafsäcke ein.
Durch einen Lichtpunkt am Fenster kriegen uns die Bullen spitz, sie scheuchen uns auf, jagen unsere schlafenden Körper hoch, filzen uns endlos und drohen jedem, der rumwuselt und versucht, was beiseitezuschaffen, mit einem Arschfick. Ich beschwere mich, dass sie die Stimmung kaputtmachen, die Jungs wollen unbedingt meine Papiere sehen, filzen mich mit dreifachem Bums und finden nichts. Ich bin so verpennt, dass sie mir mit dem Pass auch mein Schweizer Messer aus der Tasche ziehen, sie schnauzen mich an, ich solle gefälligst meinen Krempel zusammenpacken. Wir stehen irgendwie ewig am Kontrollpunkt rum, ich rauche eine nach der anderen, höre mir die Bullenschelte an, schaue hoch zur Milchstraße und suche bekannte Sterne: Fixpunkte und Wegweiser der Freude, eine Verbindung von Glück und Leid, die die Razzia und alle aufgenommenen Protokolle dieser Welt ausblendet. Alles halb so wild. Der nächste Programmpunkt ist Angeln im Prypjat-Delta. Das ist vom Stacheldraht aus sogar besser zu erreichen.
Das ist eine andere Zone. Glänzende Motorboote und riesige Fische, verlassene Mutterschiffe und alte Schiffswracks mit ulkigen Namen. Tausende Inseln im Morgendunst, in den letzten Zügen des Altweibersommers. Die Sonne wirft unzählige Lichtpunkte auf das Schilf und das dichte Sumpfgras, Menschen verstecken sich auf diesen Fleckchen Erde ohne Namen. Sie verstecken sich, um nicht von der Patrouille aufgegriffen zu werden, um mit dem Boot nach Prypjat zu fahren, in verbotenen Gewässern riesige Welse zu fangen und an Kiewer Restaurants zu verkaufen, deren Namen der Sumpf geschluckt hat.
Irgendwann stecken sie mich in den Bobik, eine Grüne Minna, in der du wie ein Fragezeichen sitzt, normalerweise als Strafe für die Sünden des Suffs, begangen an öffentlichen Plätzen, oder wegen Kleinrowdytum in der Großstadt. Außer mir werden noch zwei Rucksäcke und ein Topf Buchweizen verladen, den wir wegen der Bullenattacke nicht mehr aufessen konnten. Die Tür klappt, der Bobik springt an, hüpft über die holprigen Straßen und lässt die geheimen Objekte und toten Städte hinter sich.
Ich versuche, an etwas Schönes zu denken, aber außer einer Flasche Schnaps habe ich keine Idee. Der Buchweizen fällt mir wieder ein, und ich versuche es damit. Das ist ungefähr so, als wollte jemand ein Tattoo stechen, während er siebzig Kilometer querfeldein rennt. Ich esse die Grütze mit den F...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Inhalt
  5. Heiß, braun gebrannt und nackt
  6. Ein wundervolles Märchen in der Neujahrsnacht
  7. Campari
  8. Polesian Zen
  9. Hallo, Zone! Leb wohl
  10. Impressum