Neu-Delhi, 1. Dezember 2011 â Der Menschenrechtsanwalt
Colin Gonsalves vertritt FĂ€lle am Supreme Court, dem obersten Gericht Indiens, und kennt das Justizsystem in- und auswendig. Als ich den Sitz der NGO in Neu-Delhi suche, wird mir schnell klar, dass es sich dabei um keinen luxuriösen BĂŒrokomplex mit Glasfassaden und teurem Mobiliar handeln kann, wie bei einer Anwaltskanzlei in ZĂŒrich. Das BĂŒro befindet sich in Jangpura, im SĂŒden der Stadt. Hier hĂ€ngen die Stromleitungen wie groĂe SpaghettiknĂ€uel tief ĂŒber den schmutzigen Gehwegen, auf denen ĂŒberquellende Container stehen. StraĂenhunde wĂŒhlen im MĂŒll. Eine Moschee und ein Hindutempel liegen in unmittelbarer NĂ€he der NGO, und die NachbarhĂ€user stehen so eng, dass die BĂŒros selbst am Tag mit Kunstlicht erhellt werden mĂŒssen.
Gonsalves sitzt vor einer Wand, die von vollen BĂŒcherregalen verdeckt wird. Wenn er spricht, untermalt er seine SĂ€tze in der Luft mit seinen langen Fingern. Eigentlich sei er Bauingenieur, sagt er, sein Herz habe jedoch schon immer fĂŒr die UnterdrĂŒckten geschlagen. Deshalb habe er nach dem Studium am Indian Institute of Technology Bombay ab 1979 noch Rechtswissenschaften studiert. Als Anwalt könne er besser fĂŒr mehr Gerechtigkeit im Land und die Rechte der Ărmsten kĂ€mpfen, glaubte er. Zuerst arbeitete er in den Slums und versuchte dort die Bulldozer aufzuhalten und die Anordnungen der Regierung zu verhindern. Die wollte anstelle der Slums lieber Einkaufszentren und luxuriöse Wohnsiedlungen in ihren StĂ€dten. Wurden die Slums plattgewalzt, wurden ihre Bewohner an den Stadtrand gedrĂ€ngt. So verloren die, die bereits arm waren, nicht nur ihr Zuhause, sondern auch die Möglichkeit, in den Vierteln der Reichen als Abfallsammler, StraĂenhĂ€ndler oder Haushaltsangestellte ein bescheidenes Einkommen zu verdienen. Deshalb klammerten sie sich an Menschen wie Colin Gonsalves, die sowohl die RealitĂ€t der Reichen als auch jene der Armen kannten, sich aber entschieden hatten, fĂŒr die Rechte der Armen zu kĂ€mpfen. Gonsalves erzĂ€hlt von jener Zeit, von den gröĂten Ungerechtigkeiten, den grausamsten Erlebnissen in ruhiger, leicht nasaler Stimme und lĂ€chelt dabei. Muss einer lĂ€cheln können, trotz allem lĂ€cheln können, um wie Gonsalves jahrzehntelang gegen die systematische Ungerechtigkeit, wie sie in Indien ĂŒberall sichtbar ist, kĂ€mpfen zu können, frage ich mich. Oder ist das LĂ€cheln vielleicht bloĂ Gonsalves Versuch, seine eigene Verzweiflung zu ĂŒberspielen? Sein Kampf beschrĂ€nkte sich nicht auf die Slums. Der Anwalt engagierte sich auch in den Gewerkschaften. In seinem ersten Fall kĂ€mpfte er fĂŒr 5000 Arbeiter, die ihren Job verloren hatten. 1983 grĂŒndete Gonsalves dann seine eigene NGO, das Human Rights Law Network. Heute vertreten mehr als 200 AnwĂ€ltinnen und AnwĂ€lte der NGO in ganz Indien die Rechte der Ărmsten: Slumbewohner, Kastenlose, Prostituierte, Tagelöhner, Indigene, Kranke und Behinderte, Frauen und Kinder, die MenschenhĂ€ndlern zum Opfer gefallen sind. Sie tun das gratis, finanziert durch Spenden oder BeitrĂ€ge von Klienten, die sich die Anwaltskosten leisten können. Jeder in Indien habe zwar das Recht auf einen Anwalt, sagt Gonsalves, aber: PflichtanwĂ€lte seien schlecht ausgebildet, schlecht bezahlt und engagierten sich deshalb nicht fĂŒr ihre Klienten. Sie erschienen vor Gericht, wann immer es ihnen gerade passe, oder eben gar nicht. »Viele AnwĂ€lte und auch Richter sehen die Armen als bloĂe Zeitverschwendung, als Menschen, fĂŒr die man sich nicht einsetzen muss«, sagt Gonsalves. Wer also kein Geld besitzt, hat auch schlechte Karten vor Gericht und noch schlechtere im GefĂ€ngnis. Die Vipassana-Meditation, die BĂ€ckerei, das Malatelier im Tihar-GefĂ€ngnis â alles bloĂe Fassade, um Folter, SchlĂ€ge und sexuelle Ăbergriffe zu verdecken, die bis heute noch in Tihar existieren. »Nur raffinierter versteckt als frĂŒher«, sagt Gonsalves und bestĂ€tigt damit, was bereits die GefĂ€ngnisreformerin Kiran Bedi gesagt und Jacob in seinen Briefen beschrieben hat.
Irgendwie beruhigt mich das. Wenn das stimmt, dann stimmt vielleicht auch der Rest, den mir Jacob erzĂ€hlt und den ich am Ende doch nie ganz ĂŒberprĂŒfen, nur quervergleichen kann.
Im Vergleich zu anderen GefĂ€ngnissen im Land sei Tihar jedoch ein FĂŒnf-Sterne-Hotel, fĂ€hrt Gonsalves fort. Tihar werde, anders als die anderen GefĂ€ngnisse, zumindest von MenschenrechtsanwĂ€lten und NGO-Vertretern besucht: »Die GefĂ€ngnisadministration lĂ€sst uns arbeiten, solange wir uns still um die Gefangenen kĂŒmmern, sie vertreten und dafĂŒr einstehen, dass sie auf Kaution freikommen. Sobald wir aber die Gewalt, Ausbeutung und Erpressung im GefĂ€ngnis anprangern, wird auch uns der Zugang verwehrt.« Ihre Arbeit werde so zum Balanceakt in einem zermĂŒrbenden System.
Und was erwartet nun Jacob? Noch weitere Jahre der Ungewissheit, ob er in die USA ausgeliefert wird oder freikommt? Jacobs Fall sei eine eigenartige Geschichte, sagt Gonsalves. Jacob habe bereits mehr als drei Jahre im GefĂ€ngnis verbracht, wĂ€hrend seine Mitangeklagten in den USA ihre Strafe nach wenigen Monaten abgesessen hĂ€tten â trotzdem verlangten die USA noch immer Jacobs Auslieferung. Wieso die amerikanischen Justizbehörden die drei Jahre, die Jacob hier bereits hinter Gittern saĂ, nicht anerkannten und es gut sein lieĂen, wieso Indien den Amerikanern nicht die Stirn böte, fragt sich Gonsalves und beantwortet die Frage gleich selbst: »Die USA benehmen sich wie ein Kaiserreich, das seinen Vasallenstaat herumkommandiert.« Das Schlimmste dabei sei: Indien lasse sich das gefallen. Ich denke: Herrscher und Beherrschte, Kolonialisten und Untertanen, ein VerhĂ€ltnis, das ĂŒber Generationen verinnerlicht wurde und bis heute fortbesteht, obwohl es ja nicht einmal die Amerikaner, sondern die EnglĂ€nder waren, die den Subkontinent kolonialisiert hatten. Gonsalves scheint meine Gedanken zu lesen und beginnt ĂŒber das Erbe der englischen Kolonialherren zu sprechen. Noch immer existiere dieses koloniale Denken, dass die Armen, die Landlosen, die Menschen niederer Kasten keine Rechte haben. »Heute sind es nicht die EnglĂ€nder, die so denken, sondern die, die ihre PlĂ€tze eingenommen haben: Richter, GeschĂ€ftsleute, Politiker«, sagt Gonsalves und bestĂ€tigt gleich noch einmal, was Jacob bereits gesagt hatte. Sie glaubten, wer fĂŒr die Armen einstehe, fĂŒr ihr Land und ihre Rechte, verhindere die Entwicklung im Land. FĂŒr sie bedeute Entwicklung einzig wirtschaftliches Wachstum. Doch Millionen von Menschen in diesem Land können davon nicht profitieren. »Deshalb brauchen wir eine Revolution, um das zu Ă€ndern.«
Den Glauben an ein gerechtes System hat Gonsalves aufgegeben. Wie motiviert sich einer, der in einem Haus lebt und arbeitet, an dessen Fundament er nicht mehr glaubt? »Wir sind wie Ărzte, die aufblĂŒhen, wenn andere krank sind, weil sie dann gebraucht werden«, sagt der Anwalt und lĂ€chelt wieder. Ihn und all die anderen MenschenrechtsanwĂ€lte brauche es, weil die indische Gesellschaft gebrochen und krank sei und sie sich um die Patienten kĂŒmmern mĂŒssten. »Ich habe keine Hoffnung, dass sich etwas grundsĂ€tzlich Ă€ndern wird. Das Einzige, was ich habe, ist Geduld und MitgefĂŒhl fĂŒr meine Patienten«, sagt er. Ein LĂ€cheln aus MitgefĂŒhl also, denke ich und: Vielleicht sind er und seine AnwĂ€ltinnen und AnwĂ€lte wie Balsam fĂŒr die Verwundeten. Manchmal gelingt es ihnen tatsĂ€chlich, jemandem zu helfen. Das ist dann wie ein Wunder, eine Wunde, die heilen kann.
Tihar, 15. Dezember 2011 â Brief von Jacob
Liebe Karin,
heute fĂŒhle ich mich stumpf. Drei Jahre GefĂ€ngnis haben meinen Geist zermĂŒrbt. Ich habe versucht, mich der Dunkelheit und der Einsamkeit anzupassen. Ich sage mir, andere haben Schlimmeres durchgemacht. Ich denke, Schmerz gehört zum Leben. Ich will den Schmerz und meine Einsamkeit in Worte fassen, aber wenn ich nach ihnen suche, dann finde ich nur Leere. Ich konzentriere mich auf meinen Atem, suche nach seiner Gesellschaft, wenn ich mich von allen anderen verlassen fĂŒhle. Ich will spĂŒren, dass ich noch lebe, ĂŒberlebe. Doch dann kommen die DĂ€monen. Tag fĂŒr Tag kĂ€mpfe ich gegen sie, diese dunklen Schatten, die meine Seele umklammern. Werde ich je rauskommen? Und wenn ja, werden mich die DĂ€monen dann verfolgen? Werde ich ausgeliefert oder komme ich tatsĂ€chlich frei? Wie wird es drauĂen sein, in der richtigen Welt? Ich, der Single, der Ex-Gefangene. Wer will einen wie mich? BeschĂ€digt und verletzt. Hier drinnen werden Frauen zum Phantom. UnberĂŒhrbar. ZĂ€rtlichkeit ist nicht kĂ€uflich.
Das ist der GefĂ€ngnis-Film: in Endlosschleifen in den eigenen AbgrĂŒnden herumirren, dann plötzlich wieder hinausgeschleudert werden, in die fremden Dramen. Ich habe vor ein paar Tagen einen Toten gesehen. Ich kannte ihn kaum, aber am Morgen war er tot, abgestochen, und niemand hat um ihn geweint. Jeder ist verletzlich hinter diesen Mauern. Wie viele Leben hat ein Mensch? Vielleicht so viele wie Katzen? Neun Katzenleben sagen wir in den USA, ihr EuropĂ€er gebt ihnen nur sieben. Ich will nicht einmal sieben Leben. Ich will nur eines â in Freiheit!
Heute ist kein Tag zum Schreiben. Ich versuche es an einem anderen Tag wieder.
Machâs gut
Jacob
Ein Verwundeter, denke ich, und der Balsam von Schwester Suma reicht nicht mehr. Ich erinnere mich an meine eigenen Verwundungen. Momente, in denen ich in den Endlosschleifen meiner AbgrĂŒnde gefangen war. Was hat mir damals geholfen? Es waren immer Menschen, die zuhörten, einfach nur da waren, vielleicht ihren Arm um meine Schulter legten. Dieses MitgefĂŒhl war Licht genug, um meine eigene Dunkelheit zu erhellen. Dann versuchten sie mich, wie eine Katze aus ihrem Versteck, langsam mit einer Geschichte aus meiner dunklen Ecke hervorzulocken, die Neugier auf die Welt in mir zu wecken. Sie halfen mir, meine kleine, eingestĂŒrzte Welt dank der groĂen, vielversprechenden zu vergessen. Das ist es, wie uns Reisen, und seien es nur Reisen, wie wir sie durch BĂŒcher, Briefe oder Filme erleben, bereichern. Nicht wir selbst stehen mehr im Zentrum der Welt, sondern wir brechen auf, um sie zu erkunden, den Fokus auf anderes und andere zu richten als auf uns. Grund genug, Jacob weiter Briefe zu schreiben, egal wohin diese Geschichte fĂŒhrt.
Neu-Delhi, 19. Dezember 2011 â Gerichtsverhandlung
In den GĂ€ngen des Bezirksgerichts Patiala House in Neu-Delhi sitzen Notare, die fĂŒr ein paar Rupien ihre Dienste anbieten: Sie schreiben auf klapprigen Schreibmaschinen Gesuche und Bittschriften. Andere kopieren den ganzen Tag Dossiers fĂŒr die AnwĂ€lte, die in ihren Talaren herumflitzen. Ich bin gekommen, um bei einer von Jacobs Verhandlungen dabei zu sein, um da zu sein. Es ist ernĂŒchternd.
Schwester Suma und der blinde Pankaj stehen im Gerichtssaal und warten. »Jacob hat mir von dem Vorfall vor Sonus Haus erzĂ€hlt, von den Bulldozern und Ihrer mutigen Aktion. Was ist danach passiert?«, frage ich die Schwester. Die Nonne seufzt: »Als die Bulldozer weg waren, rief ich einen Anwalt unserer NGO an und wir gingen zusammen zum nĂ€chsten Polizeiposten. Wir wollten die MĂ€nner, die fĂŒr die Zerstörung verantwortlich waren, anzeigen. Doch die Polizisten weigerten sich, die Anzeige aufzunehmen. Sie sagten, das sei alles mit rechten Dingen zugegangen, die Bezirksregierung sei informiert und habe den Abriss angeordnet. SchlieĂlich lebten die Leute dort alle illegal auf kommunalem Land. Doch Beweise konnten die Polizisten keine vorlegen.« Schwester Suma und ihr Kollege lieĂen sich nicht abwimmeln. Da seien die Polizisten wĂŒtend geworden, hĂ€tten der Nonne und dem Anwalt vorgeworfen, sich in Angelegenheiten einzumischen, die sie nichts angingen. »Sie wollten uns aus der Polizeistation werfen, doch wir wehrten uns. Sie packten uns und wollten uns einsperren. Dann lieĂen sie von mir ab, aber meinen Kollegen schlugen sie grĂŒn und blau und brachen ihm die Hand.«
Auf einmal kommt Bewegung in den Gerichtssaal. Jacob wird mit zwei Stunden VerspĂ€tung vorgefĂŒhrt. Die AnwĂ€lte stehen auf, eilen nach vorn und stellen sich vor den Richter, der sie von oben herab ĂŒber den Brillenrand betrachtet. Er sitzt auf einem imposanten Stuhl, der mich an einen Thron erinnert. Die AnwĂ€lte argumentieren gegen die Auslieferung und die unverhĂ€ltnismĂ€Ăig lange Haft. »Jacobs Mitangeklagte in den USA sind nur zu drei Monaten verurteilt worden, wĂ€hrend Jacob schon seit mehr als drei Jahren sitzt. Ist er nicht genug bestraft?«, fragt Schwester Suma und schaut den Richter herausfordernd an. Klein und zierlich steht sie in ihrem Ordensgewand vor dem fĂŒlligen Richter, der die massige Hand, ein Ring an beinahe jedem Finger, auf Jacobs Dossier gelegt hat, das so dick ist wie sein Unterarm lang. Nachdem auch der Staatsanwalt ein paar Worte gesagt hat, wird der Prozess vertagt, der Richter will zum Lunch. Ich suche nach einer Möglichkeit, Jacob in seinem Gefangenentrakt am Gericht zu sehen. Er wirkt niedergeschlagen. Ich möchte ihn am liebsten in den Arm nehmen, ihm wie einem Kind ein Lied vorsingen. Ich mache weder das eine noch das andere.
Kurze Notiz im Dezember â Der GefĂ€ngnischef
GefĂ€ngnisvorsteher Shamsher Singh hat mich angerufen. Er sagte: »Nun, haben Sie am Wochenende schon etwas vor? Wir könnten essen und dann ins Kino gehen.« Es ist nicht das erste Mal, dass er anrief. Er hat es seit meinem ersten Besuch immer wieder versucht. Das ist also die Gegenleistung, die er so ganz selbstverstĂ€ndlich einfordert. Eines ist klar: Ich werde Jacob nicht mehr im GefĂ€ngnis besuchen, nur noch am Gericht. Dort hat Singh keinen Einfluss. Irgendwann wird er sich ein neues Opfer suchen. Bis dahin werde ich seine Anrufe einfach ignorieren und hoffen, dass meine Ablehnung keine negativen Konsequenzen fĂŒr Jacob haben wird.
Tihar, 20. Dezember 2011 â Brief von Jacob
Liebe Karin,
zuerst möchte ich mich bedanken. Ich hatte mich den ganzen Tag gefreut, dich zu sehen, oder viel mehr, ich hatte gehofft, dass du kommen wĂŒrdest. Und dann warst du da und hast mir sogar ein Salamisandwich mitgebracht. Das hat mich mehrfach entschĂ€digt fĂŒr die lange, sinnlose Wartezeit und den nutzlosen Gerichtstermin. Wieder kein Urteil! Wieder Warten bis zum nĂ€chsten Termin! Aber dein Sandwich ⊠Wer in Freiheit lebt und jederzeit in Salami und frisches Brot beiĂen kann, weiĂ dieses Geschenk nicht zu schĂ€tzen. FĂŒr mich war es ein StĂŒck Himmel. Alle Nerven in meinem Mund erwachten zum Leben. Als ob meine Sinne explodierten, so, so, so lecker! Verloren geglaubte Geschmacksempfindungen waren auf einmal wieder da. Ich weiĂ, das mag eigenartig klingen in deinen Ohren, aber glaub mir, die SĂŒĂe eines Keks, der deftige Geschmack eines Lammcurrys, ein StĂŒck KĂ€se, das im Mund zerschmilzt, all das ist irgendwo in unserer Erinnerung gespeichert. Es ist wie eine TĂ€towierung deiner Sinne. Wenn du sie jeden Tag siehst, vergisst du sie. Erst wenn sie lange verborgen war, kannst du ihre Schönheit und ihren Wert erkennen. Eine SalamitĂ€towierung also!
Es tut mir auch leid, dass du so lange warten musstest, weil sie dich am Gericht nicht gleich in den Gefangenentrakt gelassen haben. Als mein Bruder hier war, musste er 1000 Rupien bezahlen, damit sie ihn einlieĂen. NatĂŒrlich wusstest du das nicht! Deshalb habe ich den Polizisten 500 Rupien gegeben, als sie kamen und sagten, am Tor warte Besuch fĂŒr mich. Man muss den richtigen Preis anfangs aushandeln, der steht ja nirgendwo geschrieben. Aber ohne Geld geht es auch hier nicht. Die Polizisten hier wissen, dass der Richter den Angehörigen höchstens zwanzig Minuten Besuchszeit erlauben wĂŒrde, aber selbst die sind mit viel Papierkram verbunden. Mit Geld aber kannst du dir viele Stunden kaufen. Das Gericht ist deshalb der beste und einfachste Ort, um Treffen zu arrangieren. Wer genug bezahlt, kann vor oder nach dem Gerichtstermin sogar einen kleinen Abstecher in ein Restaurant oder zu sich nach Hause machen â sofern er fĂŒr den RĂŒcktransport ins GefĂ€ngnis wieder da ist. Der korrupte Politiker Kalmadi, den du heute auch gesehen hast, macht das oft. Je mehr du zahlst, desto mehr Möglichkeiten kriegst du, kannst Essen, Mobiltelefone, Zigaretten und anderes reinbringen und kannst, wie wir, im Gang auf den Steinstufen sitzen, wĂ€hrend die anderen Gefangenen in der dunklen Zelle am Ende des Ganges auf ihre Anhörung warten oder darauf, zurĂŒck ins GefĂ€ngnis gebracht zu werden. UnzĂ€hlige Stunden habe ich bereits in dieser dunklen Zelle gewartet und durch die GitterstĂ€be dem Treiben im Gang zugeschaut. Das Schlimmste war jeweils der Geruch von frisch gebratenem Huhn, das Angehörige reinbrachten und das vor unseren Augen verzehrt wurde. Wie sie sich jeweils die Finger leckten! Das ist Folter fĂŒr die Geruchsnerven all jener, die nie besucht werden.
Ich hatte lange Zeit niemanden, der mich besuchen kam. GefĂ€ngnis ist eine einsame Sache. Als Gefangener gehörst du zum Abschaum der Gesellschaft. Die Welt hat dich vergessen. Wer dich einmal gekannt hat, verachtet und meidet dich jetzt, als hĂ€ttest du eine ansteckende Krankheit. Wenn du in Freiheit lebst, sind Besuche keine groĂe Sache. FĂŒr einen Gefangenen jedoch wird jeder Besuch zu einem GroĂereignis. Wenn ich etwa weiĂ, dass Schwester Suma oder du bei Gericht dabei sein werdet, bin ich so aufgeregt, dass ich mir Tage zuvor schon verschiedene Hemden bereitlege. Ich lasse mir die Haare schneiden und rasiere mich am frĂŒhen Morgen. All das tue ich fĂŒr euch, fĂŒr euer LĂ€cheln, obwohl ich weiĂ, dass auch der anstehende Gerichtstermin kein Urteil bringen wird. Zu wissen, dass da drauĂen jemand ist, der an mich denkt, der mir ein Sandwich zubereitet oder einen Brief schreibt, macht es so viel einfacher, einen we...