Die HĂ€ftlinge
Die meisten Menschen, die nicht beruflich oder â fĂŒr sie meist weniger erfreulich â privat mit HĂ€ftlingen zu tun haben, unterliegen einem Klischee, das aus mehr oder weniger reiĂerischen Filmen bzw. Fernsehserien gespeist wird. Hannibal Lecter, der fiktive Serienmörder aus der Romanreihe von Thomas Harris, ist den meisten von uns aus dem Film âDas Schweigen der LĂ€mmerâ bekannt. Er verkörpert den hochgradig gefĂ€hrlichen Gefangenen, gekennzeichnet durch völlige Skrupel-, GefĂŒhl- und Hemmungslosigkeit, geradezu idealtypisch. Es entspricht meiner Erfahrung aus unzĂ€hligen GesprĂ€chen mit unterschiedlichsten Menschen, dass die GefĂ€hrlichkeit von HĂ€ftlingen meist stark ĂŒberschĂ€tzt wird. Dies gilt zumindest fĂŒr die Mehrheit der in Ăsterreich einsitzenden HĂ€ftlinge. NatĂŒrlich gibt es auch in Ăsterreichs GefĂ€ngnissen einige Ă€uĂerst gefĂ€hrliche Gefangene. Bei diesen handelt es sich aber, Gott sei Dank, um eine Minderheit.
HĂ€ufig wurde ich zu den HĂ€ftlingen befragt und meine Antwort lautete wie folgt: âMir ist keine andere Organisation als ein GefĂ€ngnis bekannt, in der, ganz wertfrei gesehen, so viele interessante Menschen unter einem Dach leben. Vom intelligenten Wirtschaftskriminellen ĂŒber den verwahrlosten Obdachlosen, den schwer in seiner Persönlichkeit gestörten KinderschĂ€nder, den notorischen GewalttĂ€ter, den schwer sĂŒchtigen DrogenabhĂ€ngigen, den eifersĂŒchtigen Mörder, den Hochstapler, den raffinierten FinanzbetrĂŒger, SpielsĂŒchtigen, die in ihrer Neurose gefangene BetrĂŒgerin, den intellektuell unterbegabten Brandstifter und so fort. Sie alle weisen LebenslĂ€ufe auf, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist die Tatsache des Rechtsbruches, der sie in das GefĂ€ngnis gebracht hat. Nicht selten sind es auch vorĂŒbergehende Lebenskrisen, die einen Menschen in die KriminalitĂ€t und somit in eine Justizanstalt katapultieren. Viele HĂ€ftlinge sind also Menschen wie du und ich, die vielleicht etwas Pech hatten oder von einer aktuellen Lebenssituation ĂŒberfordert waren. Diese Feststellung soll keine Entschuldigung fĂŒr ihre Straftaten darstellen, ein StĂŒck weit aber ErklĂ€rungen dafĂŒr liefern.â
Vor diesem Hintergrund sind mir einige ehemalige HÀftlinge ganz besonders in Erinnerung geblieben, exemplarisch möchte ich ihre Geschichten beschreiben.
Ăltere und erfahrene Justizwachebeamtinnen und -beamte beklagten oft die VerĂ€nderungen der Klientel im GefĂ€ngnis. SaĂen dort frĂŒher noch meist âGauner, auf deren Ehrenwort man sich (vermeintlich) verlassen konnteâ, so nahm die Anzahl an suchtmittelabhĂ€ngigen und persönlichkeitsgestörten HĂ€ftlingen im Laufe der Zeit stetig zu.
Ein solcher âehrlicher Gaunerâ befand sich auch zu meiner Zeit noch in Haft. Es handelte sich bei ihm um einen einheimischen Gewohnheitseinbrecher, der immer wieder im âZiegelstadlâ logierte. Seine Freiheitsstrafen waren meist nicht sehr lang, sodass er im Innsbrucker GefĂ€ngnis verbleiben konnte. In jungen Jahren war er Kunstturner gewesen. Dadurch wies er körperliche BewegungsqualitĂ€ten auf, die ihm bei seinem Beruf mit Sicherheit zu Gute kamen. Selbst im fortgeschrittenen Lebensalter ĂŒberraschte er das GefĂ€ngnispersonal fallweise mit einem Salto oder Flickflack auf dem langen Gang der Gefangenenabteilung. Meist war er als sogenannter Hausarbeiter, in der GefĂ€ngnissprache auch âFaziâ genannt, eingeteilt. Bei den Hausarbeitern handelt es sich um Gefangene, welche auf den Gefangenenabteilungen fĂŒr die Reinigung, Essenausgabe und so weiter zustĂ€ndig sind. FĂŒr derartige Jobs werden nur HĂ€ftlinge eingeteilt, denen man ein gewisses Vertrauen entgegenbringen kann. Der genannte Gefangene war ein solcher. Als ich ihn zu Beginn meiner Laufbahn kennenlernte, war er ein Hausarbeiter auf der Abteilung Untersuchungshaft. Mir fiel er vor allem deshalb auf, weil sein âStockchefâ, der damalige Kommandant dieser Abteilung, untertags stundenlang Schach mit ihm spielte. Damals in den 80er Jahren war das Leben auch im GefĂ€ngnis noch etwas ruhiger und beschaulicher als in unseren Tagen. Nach seiner Entlassung wurde er spĂ€ter wieder rĂŒckfĂ€llig, noch dazu unter Ă€uĂerst unglĂŒcklichen UmstĂ€nden. Eines Nachts war er in eine bekannte Innsbrucker Konditorei eingebrochen. Offenbar vermutete er eine Kassa oder sonstige WertgegenstĂ€nde in einem anderen GeschoĂ. Zu diesem war der Zugang aber fest verschlossen. So versuchte er mittels des Tortenliftes in dieses Stockwerk zu gelangen. Ich verweise an dieser Stelle auf seine turnerischen QualitĂ€ten, zudem war er recht klein von Wuchs. UnglĂŒckseligerweise gelang dieses Manöver nur begrenzt. Er blieb im Tortenlift stecken und einer seiner Arme war in der TĂŒr des Tortenaufzugs eingeklemmt. In dieser misslichen Lage war er gefangen, bis frĂŒhmorgens der erste Konditor seinen Dienst antrat. Zu dessen Schrecken ragte ein Arm aus dem Tortenlift. Von Feuerwehr, Rettung und Polizei wurde der verhinderte Einbrecher aus seiner fatalen Situation gerettet und unverzĂŒglich wieder in den âZiegelstadlâ eingeliefert. Zu seinem groĂen UnglĂŒck wurde der eingeklemmte Arm bei diesem misslungenen âBruchâ10 schwer verletzt. Zwar musste der Arm nicht amputiert werden, er konnte ihn aber fĂŒr den Rest seines Lebens nicht mehr richtig nutzen. Damit war es zu Ende mit den Salti und Flickflacks auf dem GefĂ€ngnisgang. Neben diesem Ungemach hatte er als Resultat dieser Geschichte auch noch mit einem Imageproblem zu kĂ€mpfen. Die unglĂŒckliche Aktion im Tortenlift war TagesgesprĂ€ch im âZiegelstadlâ und auch der lokalen Presse nicht entgangen. Eine Zeitung bezeichnete ihn als den âdĂŒmmsten Einbrecherâ. Das konnte er natĂŒrlich nicht auf sich sitzen lassen. Beim ZugangsgesprĂ€ch hatte auch ich ihn auf sein Missgeschick angesprochen. Darauf erklĂ€rte er mir, es sei in Wahrheit ja völlig anders gewesen, als die Zeitungen berichteten. Er sei ja nicht so dumm, dass er sich von einem Tortenlift ĂŒbertölpeln lasse. In Wirklichkeit habe ihn wĂ€hrend des Einbruchversuchs eine Depression ĂŒberfallen und er wollte sich mittels Tortenlift das Leben nehmen. In meinen Augen ein origineller, aber nicht allzu tauglicher Versuch, eine Peinlichkeit durch eine noch gröĂere Peinlichkeit zu kaschieren. Trotz der fortan gegebenen Behinderung seines Armes durfte er wieder als Hausarbeiter arbeiten. Er behielt sein offenes und freundliches Wesen und war beim Personal ein Ă€uĂerst beliebter HĂ€ftling. Ein weiteres Mal habe ich ihn nach seiner Haftentlassung nicht mehr im GefĂ€ngnis gesehen. Ich nehme an, er hatte sich auf Grund seiner Behinderung als Einbrecher âzur Ruhe gesetztâ.
Ein ganz anderes Kaliber von HĂ€ftling darf ich namentlich nennen, wurde er doch auch vielfach in den Medien genannt. Im Jahr 2019 ist zuletzt ein Buch ĂŒber sein Leben erschienen: der SĂŒdtiroler Max Leitner11. Im August 1990 hatte die âLeitner-Bandeâ, neben dem Chef noch drei weitere italienische Kriminelle, schwer bewaffnet einen Geldtransporter auf dem Weg vom Brenner nach Innsbruck ĂŒberfallen. Dieser hatte rund 100 Millionen Schilling an Bord, der Coup hĂ€tte sich also durchaus rentiert. Was Max Leitner nicht wusste: Die Polizei hatte offenbar einen Tipp bekommen und die Bande schon seit Wochen observiert. Unweit von Innsbruck kam es schlieĂlich zu einer wilden SchieĂerei zwischen einer Sondereinsatzgruppe der Polizei und den verhinderten GeldrĂ€ubern. Diese endete mit der Festnahme und Inhaftierung aller vier Bandenmitglieder. Leitner wurde als Folge des misslungenen Coups zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. SpĂ€ter erarbeitete sich Max Leitner mĂŒhsam den Titel eines âAusbrecher-Königsâ. Nach eigenen Angaben war er insgesamt 28 Jahre in circa 200 verschiedenen GefĂ€ngnissen inhaftiert, davon 27 oder 28 alleine in Marokko. FĂŒnfmal gelang ihm die Flucht aus verschiedenen GefĂ€ngnissen, Gott sei Dank aber nie aus dem âZiegelstadlâ. Ich habe Leitner als nicht unattraktiven, blond gelockten jungen Mann in Erinnerung, der keinesfalls den Eindruck eines kriminellen Bandenchefs vermittelte. Auffallend war seine dĂŒnne, fast engelhaft klingende Stimme, die mich eher an einen Theologiestudenten oder jungen Priester denken lieĂ als an einen Schwerkriminellen. Er prĂ€sentierte sich wĂ€hrend seiner Haft auch Ă€uĂerst religiös, wollte möglichst oft am Gottesdienst im GefĂ€ngnis teilnehmen und wurde hĂ€ufig in seinem Haftraum am Boden kniend und betend beobachtet. Die Meinungen, ob es sich dabei um echten Glauben oder eine gezielte Show handelte, gingen beim Personal der Justizanstalt auseinander. Immerhin hĂ€tte eine derartige Inszenierung ja auch Chancen zum Ausbruch, beispielsweise durch eine Geiselnahme wĂ€hrend des Gottesdienstes, eröffnen können. Dies wĂ€re Leitner damals durchaus zuzutrauen gewesen. Andererseits ist auch von groĂen italienischen Mafiabossen bekannt, dass sie sich einerseits Ă€uĂerst glĂ€ubig zeigten, andererseits, wĂ€hrend sie betend beim Gottesdienst knieten, Menschen in ihrem Auftrag ermordet wurden. Sie betrachteten dies nicht zwingend als Widerspruch.
Als besonders bemerkenswerten HĂ€ftling habe ich einen jungen Burschen aus einem entlegenen Tiroler Tal in Erinnerung. Er musste im âZiegelstadlâ einige Monate einer sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe verbĂŒĂen. Solche Ersatzfreiheitsstrafen werden gerichtlich angeordnet, wenn der Verurteilte eine rechtskrĂ€ftig verhĂ€ngte Geldstrafe nicht begleicht. Der junge Mann wurde zu einer Strafe wegen Paragraph 137 Strafgesetzbuch, âEingriff in fremdes Jagd- oder Fischereirechtâ, auf gut Tirolerisch wegen âWildernsâ, verurteilt. Als damals fĂŒr den Jugendstrafvollzug im âZiegelstadlâ zustĂ€ndiger Psychologe fĂŒhrte ich einige GesprĂ€che mit dem genannten Wilderer. Er vertrat noch die klassischen Wilderer-Ideale. Wildern mit dem Auto unter Einsatz von Scheinwerfern wĂ€re fĂŒr ihn nicht in Frage gekommen. Er schilderte mir ausfĂŒhrlich, dass er bei seinen Wilderer-Touren noch mit ruĂgeschwĂ€rztem Gesicht und âFetzenâ um die Schuhsohlen gewickelt, um keine FuĂabdrĂŒcke zu hinterlassen, am frĂŒhesten Morgen auf die Jagd ging. So hĂ€tten es auch seine Vorfahren gemacht. Schon sein GroĂvater hĂ€tte gewildert, sein Vater und mehrere seiner Onkel ebenso, warum sollte ausgerechnet er nicht wildern, ânur weil dös in Innschbrugg in an Biachl drinsteht!â Mit dem âBiachl in Innschbruggâ meinte er wohl das Strafgesetzbuch. Da ich mich fĂŒr sein Jagdfieber sehr interessiert zeigte, wollte er mich allen Ernstes dazu einladen, ihn nach seiner Entlassung um fĂŒnf Uhr am Morgen und mit ruĂgeschwĂ€rztem Gesicht auf die Jagd zu begleiten. Er betrachtete das Wildern sozusagen als eine Art Tiroler Naturrecht, welches ihm zweifelsfrei zustehe. DiesbezĂŒglich hatte er keinerlei Schuldeinsicht. Freilich ging es ihm nicht nur und ausschlieĂlich um Ganghoferâsche Wilderer-Romantik. Der junge WildschĂŒtz rĂ€umte schon auch ein, das erlegte Wildbret an Hoteliers und Restaurantbesitzer gewinnbringend zu verkaufen. Die Nachfrage dieser Klientel nach frisch erlegtem Wildbret wĂ€re riesig.
Eines Tages machten wir mit einigen jugendlichen HĂ€ftlingen einen gemeinsamen Gruppenausgang in die Kranebitter-Klamm. Auch unser junger Wilderer war mit von der Partie. Solche GruppenausgĂ€nge sind im Jugendgerichtsgesetz als erlebnispĂ€dagogische MaĂnahmen vorgesehen. Sie sollen gestrauchelten jugendlichen StraftĂ€tern helfen, andere und alternative Formen der Freizeitgestaltung kennen und schĂ€tzen zu lernen. Viele jugendliche HĂ€ftlinge haben hier in der Tat massive Defizite. Bei diesem Gruppenausgang, ich begleitete die Jugendlichen selbst gemeinsam mit einem Justizwachebeamten, war ich schwer fasziniert vom umfassenden Wissen unseres SchwarzjĂ€gers ĂŒber Flora und Fauna in unserer Natur. Nicht nur dass er uns sĂ€mtliche BĂ€ume und Pflanzen genauestens erklĂ€ren konnte, ordnete er jeden Vogelschrei oder jedes sonstige von Tieren erzeugte GerĂ€usch treffend ein. Anhand der Losung von Tieren konnte er bestimmen, wann das betreffende Tier an der Fundstelle vorbeigekommen war. Anfangs noch etwas unglĂ€ubig, ĂŒberzeugte er mich mit folgender Leistung: Nachdem er unvermittelt stehen geblieben war und wie ein witterndes Wild die Umgebung gemustert hatte, meinte er plötzlich: âSch⊠jetzt sind wir zwischen eine Gams und ihr Kitz geraten!â Wenige Minuten spĂ€ter deutete er nach links hoch ĂŒber uns auf einen Felsen hinauf und zeigte uns das Muttertier. Nachdem wir auf sein GeheiĂ ganz leise weitergegangen waren, drĂŒckte er mir unseren Feldstecher in die Hand. TatsĂ€chlich konnte ich dann die Gams mit ihrem Kitz rechts unter uns erblicken. In diesem Moment wurde mir klar, wie weit wir Stadtmenschen uns von der Wahrnehmung von VorgĂ€ngen in der uns umgebenden Natur entfernt haben. WĂ€re ich alleine unterwegs gewesen, hĂ€tte ich vermutlich weder die Gams und schon gar nicht ihr Kitz wahrgenommen. So beeindruckte mich unser junger Naturbursche durch seine Instinkte und sein Wissen um die Natur wirklich schwer. Ich schlug ihm vor, seine hervorragenden FĂ€higkeiten und Fertigkeiten doch in den Diensten der offiziellen JĂ€gerschaft ganz legal auszuleben und damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dies wĂŒrde ihm zukĂŒnftige Aufenthalte im âZiegelstadlâ ersparen. Dazu meinte er nur: âDie Jager nehmen mi als talbekannten Wilderer nimmermehr und auĂerdem isch dös nit desselbe!â
Ebenfalls mit dem Thema Wildern hatte ein anderer HÀftling zu tun, allerdings auf Seiten der JÀgerschaft. Auch seinen Namen kann ich nennen, erlangte er doch durch seine Tat österreichweite Bekanntheit: Johann Schett.
Der JĂ€ger Johann Schett hatte am 8. September 1982 den als WildschĂŒtzen VerdĂ€chtigten Pius Walder in einem Wald bei Kalkstein in Osttirol erschossen. Vom Landesgericht Innsbruck wurde Schett fĂŒr diese Tat wegen schwerer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Familie des Mordopfers hatte in Zusammenhang mit diesem folgenschweren Schuss stets von âkaltblĂŒtigem Meuchelmordâ gesprochen. Angeblich hatte Hermann Walder, Bruder des erschossenen Pius, bei dessen Beerdigung am offenen Grab Rache geschworen. Nun musste der so verurteilte JĂ€ger Johann Schett seine Haftstrafe im Innsbrucker âZiegelstadlâ verbĂŒĂen. Da es sich bei ihm ja grundsĂ€tzlich um keine gefĂ€hrliche Person handelte, konnte er recht bald in den gelockerten Strafvollzug eingeteilt werden. Dies bedeutete, dass er in der anstaltseigenen Ăkonomie arbeiten und sich dort weitgehend frei bewegen durfte. Ich erinnere mich noch gut an den urigen Osttiroler mit Bart, stets eine gekrĂŒmmte Pfeife im Mund, wenn er auf dem groĂen Areal des Ăkonomiebetriebes der Anstalt herumschlurfte. Die Anstaltsleitung hatte keinerlei Bedenken, dass er seine Haftlockerungen fĂŒr eine Flucht oder sonstige Ordnungswidrigkeit missbrauchen wĂŒrde. In diesem Fall hatten wir eher die umgekehrten Bedenken, ob wir nicht den Gefangenen Schett vor einer allfĂ€lligen Racheaktion der Walder-BrĂŒder schĂŒtzen mĂŒssten. Immerhin war das Landwirtschaftsareal damals fĂŒr jedermann völlig frei zugĂ€nglich. Da es sich bei Schett jedoch um einen furchtlosen Mann handelte, der SchutzmaĂnahmen fĂŒr seine Person vehement ablehnte, wurde auf eine âSchutzhaftâ fĂŒr ihn verzichtet. Wir gingen bei der AbwĂ€gung dieser Entscheidung davon aus, dass die Folgen eines geschlossenen Vollzuges fĂŒr einen naturverbundenen Menschen wie Schett verheerender gewesen wĂ€ren, als das angefĂŒhrte Risiko in Kauf zu nehmen. Dass unsere damaligen Bedenken aber nicht völlig unbegrĂŒndet waren, wird durch folgenden Vorfall aus dem Juli 2012, also knapp 30 Jahre spĂ€ter, belegt:
âFĂŒr Schlagzeilen sorgte daher auch das BegrĂ€bnis Schetts, der am Montagnachmittag 72-jĂ€hrig in Innervillgraten beerdigt worden ist. Pius Walders Bruder Hermann hatte sich mit einer Tafel vor der Kirche postiert, auf der VorwĂŒrfe wie âMörderâ zu lesen waren. Nicht als Trauernder, sondern als Rachesuchender begleitete er den Zug zum Friedhof, wo er die Grabrede des Priesters mit lauten Parolen störte. Mehrere Polizisten entfernten ihn schlieĂlich von der Trauerfeier, die Exekutive ermittelt nun wegen âStörung einer Bestattungsfeierââ, wie die Wiener Zeitung vom 24. Juli 2012 schreibt.
SelbstverstĂ€ndlich finden sich in einem GefĂ€ngnis aber nicht nur solche Naturburschen wie die beiden zuletzt geschilderten Gefangenen. Nicht wenige HĂ€ftlinge sind schwer in ihrer Persönlichkeit gestört und dieser Umstand bringt sie letztlich ins GefĂ€ngnis. Psychische Störungen können in völlig unterschiedliche Entwicklungen des Verhaltens eines Menschen mĂŒnden, manchmal auch in Straftaten, die ihn hinter Gitter bringen. Das möchte ich anhand einiger besonders gravierender Beispiele illustrieren:
Ein HĂ€ftling, nennen wir ihn Otto, wies eine schwere, damals als psychopathisch bezeichnete Persönlichkeitsstörung auf. Symptomatisch dafĂŒr waren zum Beispiel unkontrollierte WutausbrĂŒche, fehlende Aggressionskontrolle, autoaggressive Tendenzen et cetera. Zudem bestand bei ihm eine massive Polytoxikomanie, eine AbhĂ€ngigkeit von Rausch- und Suchtmitteln unterschiedlichster Art. SelbstverstĂ€ndlich konnte sich Otto nur Ă€uĂerst schwer den einschrĂ€nkenden Bedingungen der Haft fĂŒgen. Eine Möglichkeit, mit diesen Spannungen umzugehen, besteht in der ZufĂŒgung von SelbstbeschĂ€digungen beziehungsweise Selbstverletzungen. Bei schwer gestörten Menschen sind diese Selbstverletzungen nicht nur oberflĂ€chlicher Natur, sondern Ă€uĂerst massiv bis lebensbedrohend. In den 80er Jahren waren sowohl das âSchneidenâ als auch das âSchluckenâ als Form der SelbstbeschĂ€digung Ă€uĂerst populĂ€r. Ich erinnere mich an Zeiten in diesen Jahren, als kaum ein Nachtdienst ohne derartige SelbstbeschĂ€digung zu Ende ging. Otto war ein absoluter âProfiâ, was derartige SelbstbeschĂ€digungen betrifft. Er hatte sich ĂŒber einen lĂ€ngeren Zeitraum derart viele Schnittverletzungen an unterschiedlichsten Körperteilen zugefĂŒgt, dass ein groĂer Teil seiner KörperoberflĂ€che völlig vernarbt war und von den Ărzten kaum noch genĂ€ht werden konnte. So hatte sich Otto zum Beispiel den Bauchraum einmal derart tief aufgeschnitten, dass seine GedĂ€rme buchstĂ€blich heraushingen und er sie mit beiden blutverschmierten HĂ€nden vor dem Hinunterfallen bewahrte. Besonders eindrĂŒcklich ist mir im GedĂ€chtnis, dass er sich einmal in einem Arbeitsbetrieb mittels eines Hammers und eines Nagels seinen eigenen Hodensack auf einen Holzschemel nagelte.
Andere HĂ€ftlinge wiederum bevorzugten das âSchluckenâ von GegenstĂ€nden, bevorzugt von Rasierklingen, Gabeln oder Messern. Man stelle sich vor, ein normales Besteckmesser in ĂŒblicher GröĂe muss man erst einmal âhinunterbringenâ. Zur ĂberprĂŒfung, ob die Behauptung, dass ein Gegenstand verschluckt wurde, ĂŒberhaupt zutraf, musste der betroffene HĂ€ftling jeweils einer Röntgenuntersuchung im Krankenhaus zugefĂŒhrt werden. Von den Ărzten wurde dann entschieden, ob gegebenenfalls eine operative Entfernung des verschluckten Gegenstandes notwendig war oder aber die berĂŒhmte SauerkrautdiĂ€t ausreichte. Der Betroffene bekam dann ausschlieĂlich Sauerkraut serviert, bis der verschluckte Gegenstand auf natĂŒrlichem Weg abging.
Warum verletzen sich HĂ€ftlinge nun selbst an ihrem Körper? GrundsĂ€tzlich ist selbstverletzendes Verhalten ein Ausdruck Ă€uĂerst starker seelischer Spannungen und kommt auch auĂerhalb des GefĂ€ngnisses zum Beispiel bei Jugendlichen (âRitzenâ) nicht selten vor. Als Reaktion auf belastende UmstĂ€nde wird versucht, daraus resultierende GefĂŒhlszustĂ€nde zu kontrollieren und die seelischen Spannungen auf diese Art abzubauen. Auch unbewusste Selbstbestrafungstendenzen können dabei eine Rolle spielen.
Psychisch kranke Menschen, die im Strafvollzug gehĂ€uft anzutreffen sind, weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit fĂŒr selbstbeschĂ€digendes Verhalten auf. Dazu kommt in der Haft die Belastung der sozialen Isolation, der Hilflosigkeit und der eingeschrĂ€nkten konstruktiveren Möglichkeiten, mit den seelischen Spannungen umzugehen. Es handelt sich also um destruktive BewĂ€ltigungsstrategien, die den HĂ€ftling nicht wirklich weiterbringen, sondern seine Situation lĂ€ngerfristig noch verschlechtern. NatĂŒrlich ist es auch ein hilfloser und meist erfolgloser Versuch, sich durchzusetzen, zu erpressen und das GefĂ€ngnispersonal unter Druck zu setzen. Erleichtert wird derartiges Verhalten durch den Umstand, dass diese HĂ€ftlinge meist einen massiven Missbrauch von legalen (Psychopharmaka) und illegalen Suchtmitteln betreiben, welcher ihr Schmerzempfinden reduziert und somit die Selbstverletzungen ertrĂ€glicher macht. Zudem schĂŒttet der Körper in derartigen Situationen auch körpereigene Endorphine aus. Dabei handelt es sich um âGlĂŒckshormoneâ, die zunĂ€chst auch zu einer Schmerzun...