Der "Ziegelstadl" und ich
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Der "Ziegelstadl" und ich

Erinnerungen eines GefÀngnisdirektors

  1. 192 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfĂŒgbar
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Der "Ziegelstadl" und ich

Erinnerungen eines GefÀngnisdirektors

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Über dieses Buch

Aus seinem reichen Erfahrungsschatz gewÀhrt uns Stefan Fuchs, der von 1983 bis 2006 zuerst als Psychologe und spÀter als Leiter im "Ziegelstadl" tÀtig war, Einblicke in das Leben hinter den dicken Mauern und Gittern. Sitzen dort auch Schwerverbrecherinnen und -verbrecher? Gab es schon viele Fluchtversuche? Und warum sucht man sich eigentlich einen Job im GefÀngnis aus? Diese und viele weitere Fragen beantwortet er in seinem Buch. Mit stets positivem und verstÀndnisvollem Blick, den er sich trotz seiner nicht immer ganz einfachen Arbeit bewahrt hat, erzÀhlt er oftmals irritierende, manchmal traurige, aber auch heitere Geschichten aus der Welt der HÀftlinge. Auch auf die Rolle der Justizwache und der Betreuungsdienste geht er dabei ein. Er ermöglicht damit einen authentischen Blick hinter die Kulissen des "Hotels Gitterblick".

HĂ€ufig gestellte Fragen

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Die HĂ€ftlinge

Die meisten Menschen, die nicht beruflich oder – fĂŒr sie meist weniger erfreulich – privat mit HĂ€ftlingen zu tun haben, unterliegen einem Klischee, das aus mehr oder weniger reißerischen Filmen bzw. Fernsehserien gespeist wird. Hannibal Lecter, der fiktive Serienmörder aus der Romanreihe von Thomas Harris, ist den meisten von uns aus dem Film „Das Schweigen der LĂ€mmer“ bekannt. Er verkörpert den hochgradig gefĂ€hrlichen Gefangenen, gekennzeichnet durch völlige Skrupel-, GefĂŒhl- und Hemmungslosigkeit, geradezu idealtypisch. Es entspricht meiner Erfahrung aus unzĂ€hligen GesprĂ€chen mit unterschiedlichsten Menschen, dass die GefĂ€hrlichkeit von HĂ€ftlingen meist stark ĂŒberschĂ€tzt wird. Dies gilt zumindest fĂŒr die Mehrheit der in Österreich einsitzenden HĂ€ftlinge. NatĂŒrlich gibt es auch in Österreichs GefĂ€ngnissen einige Ă€ußerst gefĂ€hrliche Gefangene. Bei diesen handelt es sich aber, Gott sei Dank, um eine Minderheit.
HĂ€ufig wurde ich zu den HĂ€ftlingen befragt und meine Antwort lautete wie folgt: „Mir ist keine andere Organisation als ein GefĂ€ngnis bekannt, in der, ganz wertfrei gesehen, so viele interessante Menschen unter einem Dach leben. Vom intelligenten Wirtschaftskriminellen ĂŒber den verwahrlosten Obdachlosen, den schwer in seiner Persönlichkeit gestörten KinderschĂ€nder, den notorischen GewalttĂ€ter, den schwer sĂŒchtigen DrogenabhĂ€ngigen, den eifersĂŒchtigen Mörder, den Hochstapler, den raffinierten FinanzbetrĂŒger, SpielsĂŒchtigen, die in ihrer Neurose gefangene BetrĂŒgerin, den intellektuell unterbegabten Brandstifter und so fort. Sie alle weisen LebenslĂ€ufe auf, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist die Tatsache des Rechtsbruches, der sie in das GefĂ€ngnis gebracht hat. Nicht selten sind es auch vorĂŒbergehende Lebenskrisen, die einen Menschen in die KriminalitĂ€t und somit in eine Justizanstalt katapultieren. Viele HĂ€ftlinge sind also Menschen wie du und ich, die vielleicht etwas Pech hatten oder von einer aktuellen Lebenssituation ĂŒberfordert waren. Diese Feststellung soll keine Entschuldigung fĂŒr ihre Straftaten darstellen, ein StĂŒck weit aber ErklĂ€rungen dafĂŒr liefern.“
Vor diesem Hintergrund sind mir einige ehemalige HÀftlinge ganz besonders in Erinnerung geblieben, exemplarisch möchte ich ihre Geschichten beschreiben.
Ältere und erfahrene Justizwachebeamtinnen und -beamte beklagten oft die VerĂ€nderungen der Klientel im GefĂ€ngnis. Saßen dort frĂŒher noch meist „Gauner, auf deren Ehrenwort man sich (vermeintlich) verlassen konnte“, so nahm die Anzahl an suchtmittelabhĂ€ngigen und persönlichkeitsgestörten HĂ€ftlingen im Laufe der Zeit stetig zu.
Ein solcher „ehrlicher Gauner“ befand sich auch zu meiner Zeit noch in Haft. Es handelte sich bei ihm um einen einheimischen Gewohnheitseinbrecher, der immer wieder im „Ziegelstadl“ logierte. Seine Freiheitsstrafen waren meist nicht sehr lang, sodass er im Innsbrucker GefĂ€ngnis verbleiben konnte. In jungen Jahren war er Kunstturner gewesen. Dadurch wies er körperliche BewegungsqualitĂ€ten auf, die ihm bei seinem Beruf mit Sicherheit zu Gute kamen. Selbst im fortgeschrittenen Lebensalter ĂŒberraschte er das GefĂ€ngnispersonal fallweise mit einem Salto oder Flickflack auf dem langen Gang der Gefangenenabteilung. Meist war er als sogenannter Hausarbeiter, in der GefĂ€ngnissprache auch „Fazi“ genannt, eingeteilt. Bei den Hausarbeitern handelt es sich um Gefangene, welche auf den Gefangenenabteilungen fĂŒr die Reinigung, Essenausgabe und so weiter zustĂ€ndig sind. FĂŒr derartige Jobs werden nur HĂ€ftlinge eingeteilt, denen man ein gewisses Vertrauen entgegenbringen kann. Der genannte Gefangene war ein solcher. Als ich ihn zu Beginn meiner Laufbahn kennenlernte, war er ein Hausarbeiter auf der Abteilung Untersuchungshaft. Mir fiel er vor allem deshalb auf, weil sein „Stockchef“, der damalige Kommandant dieser Abteilung, untertags stundenlang Schach mit ihm spielte. Damals in den 80er Jahren war das Leben auch im GefĂ€ngnis noch etwas ruhiger und beschaulicher als in unseren Tagen. Nach seiner Entlassung wurde er spĂ€ter wieder rĂŒckfĂ€llig, noch dazu unter Ă€ußerst unglĂŒcklichen UmstĂ€nden. Eines Nachts war er in eine bekannte Innsbrucker Konditorei eingebrochen. Offenbar vermutete er eine Kassa oder sonstige WertgegenstĂ€nde in einem anderen Geschoß. Zu diesem war der Zugang aber fest verschlossen. So versuchte er mittels des Tortenliftes in dieses Stockwerk zu gelangen. Ich verweise an dieser Stelle auf seine turnerischen QualitĂ€ten, zudem war er recht klein von Wuchs. UnglĂŒckseligerweise gelang dieses Manöver nur begrenzt. Er blieb im Tortenlift stecken und einer seiner Arme war in der TĂŒr des Tortenaufzugs eingeklemmt. In dieser misslichen Lage war er gefangen, bis frĂŒhmorgens der erste Konditor seinen Dienst antrat. Zu dessen Schrecken ragte ein Arm aus dem Tortenlift. Von Feuerwehr, Rettung und Polizei wurde der verhinderte Einbrecher aus seiner fatalen Situation gerettet und unverzĂŒglich wieder in den „Ziegelstadl“ eingeliefert. Zu seinem großen UnglĂŒck wurde der eingeklemmte Arm bei diesem misslungenen „Bruch“10 schwer verletzt. Zwar musste der Arm nicht amputiert werden, er konnte ihn aber fĂŒr den Rest seines Lebens nicht mehr richtig nutzen. Damit war es zu Ende mit den Salti und Flickflacks auf dem GefĂ€ngnisgang. Neben diesem Ungemach hatte er als Resultat dieser Geschichte auch noch mit einem Imageproblem zu kĂ€mpfen. Die unglĂŒckliche Aktion im Tortenlift war TagesgesprĂ€ch im „Ziegelstadl“ und auch der lokalen Presse nicht entgangen. Eine Zeitung bezeichnete ihn als den „dĂŒmmsten Einbrecher“. Das konnte er natĂŒrlich nicht auf sich sitzen lassen. Beim ZugangsgesprĂ€ch hatte auch ich ihn auf sein Missgeschick angesprochen. Darauf erklĂ€rte er mir, es sei in Wahrheit ja völlig anders gewesen, als die Zeitungen berichteten. Er sei ja nicht so dumm, dass er sich von einem Tortenlift ĂŒbertölpeln lasse. In Wirklichkeit habe ihn wĂ€hrend des Einbruchversuchs eine Depression ĂŒberfallen und er wollte sich mittels Tortenlift das Leben nehmen. In meinen Augen ein origineller, aber nicht allzu tauglicher Versuch, eine Peinlichkeit durch eine noch grĂ¶ĂŸere Peinlichkeit zu kaschieren. Trotz der fortan gegebenen Behinderung seines Armes durfte er wieder als Hausarbeiter arbeiten. Er behielt sein offenes und freundliches Wesen und war beim Personal ein Ă€ußerst beliebter HĂ€ftling. Ein weiteres Mal habe ich ihn nach seiner Haftentlassung nicht mehr im GefĂ€ngnis gesehen. Ich nehme an, er hatte sich auf Grund seiner Behinderung als Einbrecher „zur Ruhe gesetzt“.
Ein ganz anderes Kaliber von HĂ€ftling darf ich namentlich nennen, wurde er doch auch vielfach in den Medien genannt. Im Jahr 2019 ist zuletzt ein Buch ĂŒber sein Leben erschienen: der SĂŒdtiroler Max Leitner11. Im August 1990 hatte die „Leitner-Bande“, neben dem Chef noch drei weitere italienische Kriminelle, schwer bewaffnet einen Geldtransporter auf dem Weg vom Brenner nach Innsbruck ĂŒberfallen. Dieser hatte rund 100 Millionen Schilling an Bord, der Coup hĂ€tte sich also durchaus rentiert. Was Max Leitner nicht wusste: Die Polizei hatte offenbar einen Tipp bekommen und die Bande schon seit Wochen observiert. Unweit von Innsbruck kam es schließlich zu einer wilden Schießerei zwischen einer Sondereinsatzgruppe der Polizei und den verhinderten GeldrĂ€ubern. Diese endete mit der Festnahme und Inhaftierung aller vier Bandenmitglieder. Leitner wurde als Folge des misslungenen Coups zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. SpĂ€ter erarbeitete sich Max Leitner mĂŒhsam den Titel eines „Ausbrecher-Königs“. Nach eigenen Angaben war er insgesamt 28 Jahre in circa 200 verschiedenen GefĂ€ngnissen inhaftiert, davon 27 oder 28 alleine in Marokko. FĂŒnfmal gelang ihm die Flucht aus verschiedenen GefĂ€ngnissen, Gott sei Dank aber nie aus dem „Ziegelstadl“. Ich habe Leitner als nicht unattraktiven, blond gelockten jungen Mann in Erinnerung, der keinesfalls den Eindruck eines kriminellen Bandenchefs vermittelte. Auffallend war seine dĂŒnne, fast engelhaft klingende Stimme, die mich eher an einen Theologiestudenten oder jungen Priester denken ließ als an einen Schwerkriminellen. Er prĂ€sentierte sich wĂ€hrend seiner Haft auch Ă€ußerst religiös, wollte möglichst oft am Gottesdienst im GefĂ€ngnis teilnehmen und wurde hĂ€ufig in seinem Haftraum am Boden kniend und betend beobachtet. Die Meinungen, ob es sich dabei um echten Glauben oder eine gezielte Show handelte, gingen beim Personal der Justizanstalt auseinander. Immerhin hĂ€tte eine derartige Inszenierung ja auch Chancen zum Ausbruch, beispielsweise durch eine Geiselnahme wĂ€hrend des Gottesdienstes, eröffnen können. Dies wĂ€re Leitner damals durchaus zuzutrauen gewesen. Andererseits ist auch von großen italienischen Mafiabossen bekannt, dass sie sich einerseits Ă€ußerst glĂ€ubig zeigten, andererseits, wĂ€hrend sie betend beim Gottesdienst knieten, Menschen in ihrem Auftrag ermordet wurden. Sie betrachteten dies nicht zwingend als Widerspruch.
Als besonders bemerkenswerten HĂ€ftling habe ich einen jungen Burschen aus einem entlegenen Tiroler Tal in Erinnerung. Er musste im „Ziegelstadl“ einige Monate einer sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe verbĂŒĂŸen. Solche Ersatzfreiheitsstrafen werden gerichtlich angeordnet, wenn der Verurteilte eine rechtskrĂ€ftig verhĂ€ngte Geldstrafe nicht begleicht. Der junge Mann wurde zu einer Strafe wegen Paragraph 137 Strafgesetzbuch, „Eingriff in fremdes Jagd- oder Fischereirecht“, auf gut Tirolerisch wegen „Wilderns“, verurteilt. Als damals fĂŒr den Jugendstrafvollzug im „Ziegelstadl“ zustĂ€ndiger Psychologe fĂŒhrte ich einige GesprĂ€che mit dem genannten Wilderer. Er vertrat noch die klassischen Wilderer-Ideale. Wildern mit dem Auto unter Einsatz von Scheinwerfern wĂ€re fĂŒr ihn nicht in Frage gekommen. Er schilderte mir ausfĂŒhrlich, dass er bei seinen Wilderer-Touren noch mit rußgeschwĂ€rztem Gesicht und „Fetzen“ um die Schuhsohlen gewickelt, um keine FußabdrĂŒcke zu hinterlassen, am frĂŒhesten Morgen auf die Jagd ging. So hĂ€tten es auch seine Vorfahren gemacht. Schon sein Großvater hĂ€tte gewildert, sein Vater und mehrere seiner Onkel ebenso, warum sollte ausgerechnet er nicht wildern, „nur weil dös in Innschbrugg in an Biachl drinsteht!“ Mit dem „Biachl in Innschbrugg“ meinte er wohl das Strafgesetzbuch. Da ich mich fĂŒr sein Jagdfieber sehr interessiert zeigte, wollte er mich allen Ernstes dazu einladen, ihn nach seiner Entlassung um fĂŒnf Uhr am Morgen und mit rußgeschwĂ€rztem Gesicht auf die Jagd zu begleiten. Er betrachtete das Wildern sozusagen als eine Art Tiroler Naturrecht, welches ihm zweifelsfrei zustehe. DiesbezĂŒglich hatte er keinerlei Schuldeinsicht. Freilich ging es ihm nicht nur und ausschließlich um Ganghofer’sche Wilderer-Romantik. Der junge WildschĂŒtz rĂ€umte schon auch ein, das erlegte Wildbret an Hoteliers und Restaurantbesitzer gewinnbringend zu verkaufen. Die Nachfrage dieser Klientel nach frisch erlegtem Wildbret wĂ€re riesig.
Eines Tages machten wir mit einigen jugendlichen HĂ€ftlingen einen gemeinsamen Gruppenausgang in die Kranebitter-Klamm. Auch unser junger Wilderer war mit von der Partie. Solche GruppenausgĂ€nge sind im Jugendgerichtsgesetz als erlebnispĂ€dagogische Maßnahmen vorgesehen. Sie sollen gestrauchelten jugendlichen StraftĂ€tern helfen, andere und alternative Formen der Freizeitgestaltung kennen und schĂ€tzen zu lernen. Viele jugendliche HĂ€ftlinge haben hier in der Tat massive Defizite. Bei diesem Gruppenausgang, ich begleitete die Jugendlichen selbst gemeinsam mit einem Justizwachebeamten, war ich schwer fasziniert vom umfassenden Wissen unseres SchwarzjĂ€gers ĂŒber Flora und Fauna in unserer Natur. Nicht nur dass er uns sĂ€mtliche BĂ€ume und Pflanzen genauestens erklĂ€ren konnte, ordnete er jeden Vogelschrei oder jedes sonstige von Tieren erzeugte GerĂ€usch treffend ein. Anhand der Losung von Tieren konnte er bestimmen, wann das betreffende Tier an der Fundstelle vorbeigekommen war. Anfangs noch etwas unglĂ€ubig, ĂŒberzeugte er mich mit folgender Leistung: Nachdem er unvermittelt stehen geblieben war und wie ein witterndes Wild die Umgebung gemustert hatte, meinte er plötzlich: „Sch
 jetzt sind wir zwischen eine Gams und ihr Kitz geraten!“ Wenige Minuten spĂ€ter deutete er nach links hoch ĂŒber uns auf einen Felsen hinauf und zeigte uns das Muttertier. Nachdem wir auf sein Geheiß ganz leise weitergegangen waren, drĂŒckte er mir unseren Feldstecher in die Hand. TatsĂ€chlich konnte ich dann die Gams mit ihrem Kitz rechts unter uns erblicken. In diesem Moment wurde mir klar, wie weit wir Stadtmenschen uns von der Wahrnehmung von VorgĂ€ngen in der uns umgebenden Natur entfernt haben. WĂ€re ich alleine unterwegs gewesen, hĂ€tte ich vermutlich weder die Gams und schon gar nicht ihr Kitz wahrgenommen. So beeindruckte mich unser junger Naturbursche durch seine Instinkte und sein Wissen um die Natur wirklich schwer. Ich schlug ihm vor, seine hervorragenden FĂ€higkeiten und Fertigkeiten doch in den Diensten der offiziellen JĂ€gerschaft ganz legal auszuleben und damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dies wĂŒrde ihm zukĂŒnftige Aufenthalte im „Ziegelstadl“ ersparen. Dazu meinte er nur: „Die Jager nehmen mi als talbekannten Wilderer nimmermehr und außerdem isch dös nit desselbe!“
Ebenfalls mit dem Thema Wildern hatte ein anderer HÀftling zu tun, allerdings auf Seiten der JÀgerschaft. Auch seinen Namen kann ich nennen, erlangte er doch durch seine Tat österreichweite Bekanntheit: Johann Schett.
Der JĂ€ger Johann Schett hatte am 8. September 1982 den als WildschĂŒtzen VerdĂ€chtigten Pius Walder in einem Wald bei Kalkstein in Osttirol erschossen. Vom Landesgericht Innsbruck wurde Schett fĂŒr diese Tat wegen schwerer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Familie des Mordopfers hatte in Zusammenhang mit diesem folgenschweren Schuss stets von „kaltblĂŒtigem Meuchelmord“ gesprochen. Angeblich hatte Hermann Walder, Bruder des erschossenen Pius, bei dessen Beerdigung am offenen Grab Rache geschworen. Nun musste der so verurteilte JĂ€ger Johann Schett seine Haftstrafe im Innsbrucker „Ziegelstadl“ verbĂŒĂŸen. Da es sich bei ihm ja grundsĂ€tzlich um keine gefĂ€hrliche Person handelte, konnte er recht bald in den gelockerten Strafvollzug eingeteilt werden. Dies bedeutete, dass er in der anstaltseigenen Ökonomie arbeiten und sich dort weitgehend frei bewegen durfte. Ich erinnere mich noch gut an den urigen Osttiroler mit Bart, stets eine gekrĂŒmmte Pfeife im Mund, wenn er auf dem großen Areal des Ökonomiebetriebes der Anstalt herumschlurfte. Die Anstaltsleitung hatte keinerlei Bedenken, dass er seine Haftlockerungen fĂŒr eine Flucht oder sonstige Ordnungswidrigkeit missbrauchen wĂŒrde. In diesem Fall hatten wir eher die umgekehrten Bedenken, ob wir nicht den Gefangenen Schett vor einer allfĂ€lligen Racheaktion der Walder-BrĂŒder schĂŒtzen mĂŒssten. Immerhin war das Landwirtschaftsareal damals fĂŒr jedermann völlig frei zugĂ€nglich. Da es sich bei Schett jedoch um einen furchtlosen Mann handelte, der Schutzmaßnahmen fĂŒr seine Person vehement ablehnte, wurde auf eine „Schutzhaft“ fĂŒr ihn verzichtet. Wir gingen bei der AbwĂ€gung dieser Entscheidung davon aus, dass die Folgen eines geschlossenen Vollzuges fĂŒr einen naturverbundenen Menschen wie Schett verheerender gewesen wĂ€ren, als das angefĂŒhrte Risiko in Kauf zu nehmen. Dass unsere damaligen Bedenken aber nicht völlig unbegrĂŒndet waren, wird durch folgenden Vorfall aus dem Juli 2012, also knapp 30 Jahre spĂ€ter, belegt:
„FĂŒr Schlagzeilen sorgte daher auch das BegrĂ€bnis Schetts, der am Montagnachmittag 72-jĂ€hrig in Innervillgraten beerdigt worden ist. Pius Walders Bruder Hermann hatte sich mit einer Tafel vor der Kirche postiert, auf der VorwĂŒrfe wie ‚Mörder‘ zu lesen waren. Nicht als Trauernder, sondern als Rachesuchender begleitete er den Zug zum Friedhof, wo er die Grabrede des Priesters mit lauten Parolen störte. Mehrere Polizisten entfernten ihn schließlich von der Trauerfeier, die Exekutive ermittelt nun wegen ‚Störung einer Bestattungsfeier‘“, wie die Wiener Zeitung vom 24. Juli 2012 schreibt.
SelbstverstĂ€ndlich finden sich in einem GefĂ€ngnis aber nicht nur solche Naturburschen wie die beiden zuletzt geschilderten Gefangenen. Nicht wenige HĂ€ftlinge sind schwer in ihrer Persönlichkeit gestört und dieser Umstand bringt sie letztlich ins GefĂ€ngnis. Psychische Störungen können in völlig unterschiedliche Entwicklungen des Verhaltens eines Menschen mĂŒnden, manchmal auch in Straftaten, die ihn hinter Gitter bringen. Das möchte ich anhand einiger besonders gravierender Beispiele illustrieren:
Ein HĂ€ftling, nennen wir ihn Otto, wies eine schwere, damals als psychopathisch bezeichnete Persönlichkeitsstörung auf. Symptomatisch dafĂŒr waren zum Beispiel unkontrollierte WutausbrĂŒche, fehlende Aggressionskontrolle, autoaggressive Tendenzen et cetera. Zudem bestand bei ihm eine massive Polytoxikomanie, eine AbhĂ€ngigkeit von Rausch- und Suchtmitteln unterschiedlichster Art. SelbstverstĂ€ndlich konnte sich Otto nur Ă€ußerst schwer den einschrĂ€nkenden Bedingungen der Haft fĂŒgen. Eine Möglichkeit, mit diesen Spannungen umzugehen, besteht in der ZufĂŒgung von SelbstbeschĂ€digungen beziehungsweise Selbstverletzungen. Bei schwer gestörten Menschen sind diese Selbstverletzungen nicht nur oberflĂ€chlicher Natur, sondern Ă€ußerst massiv bis lebensbedrohend. In den 80er Jahren waren sowohl das „Schneiden“ als auch das „Schlucken“ als Form der SelbstbeschĂ€digung Ă€ußerst populĂ€r. Ich erinnere mich an Zeiten in diesen Jahren, als kaum ein Nachtdienst ohne derartige SelbstbeschĂ€digung zu Ende ging. Otto war ein absoluter „Profi“, was derartige SelbstbeschĂ€digungen betrifft. Er hatte sich ĂŒber einen lĂ€ngeren Zeitraum derart viele Schnittverletzungen an unterschiedlichsten Körperteilen zugefĂŒgt, dass ein großer Teil seiner KörperoberflĂ€che völlig vernarbt war und von den Ärzten kaum noch genĂ€ht werden konnte. So hatte sich Otto zum Beispiel den Bauchraum einmal derart tief aufgeschnitten, dass seine GedĂ€rme buchstĂ€blich heraushingen und er sie mit beiden blutverschmierten HĂ€nden vor dem Hinunterfallen bewahrte. Besonders eindrĂŒcklich ist mir im GedĂ€chtnis, dass er sich einmal in einem Arbeitsbetrieb mittels eines Hammers und eines Nagels seinen eigenen Hodensack auf einen Holzschemel nagelte.
Andere HĂ€ftlinge wiederum bevorzugten das „Schlucken“ von GegenstĂ€nden, bevorzugt von Rasierklingen, Gabeln oder Messern. Man stelle sich vor, ein normales Besteckmesser in ĂŒblicher GrĂ¶ĂŸe muss man erst einmal „hinunterbringen“. Zur ÜberprĂŒfung, ob die Behauptung, dass ein Gegenstand verschluckt wurde, ĂŒberhaupt zutraf, musste der betroffene HĂ€ftling jeweils einer Röntgenuntersuchung im Krankenhaus zugefĂŒhrt werden. Von den Ärzten wurde dann entschieden, ob gegebenenfalls eine operative Entfernung des verschluckten Gegenstandes notwendig war oder aber die berĂŒhmte SauerkrautdiĂ€t ausreichte. Der Betroffene bekam dann ausschließlich Sauerkraut serviert, bis der verschluckte Gegenstand auf natĂŒrlichem Weg abging.
Warum verletzen sich HĂ€ftlinge nun selbst an ihrem Körper? GrundsĂ€tzlich ist selbstverletzendes Verhalten ein Ausdruck Ă€ußerst starker seelischer Spannungen und kommt auch außerhalb des GefĂ€ngnisses zum Beispiel bei Jugendlichen („Ritzen“) nicht selten vor. Als Reaktion auf belastende UmstĂ€nde wird versucht, daraus resultierende GefĂŒhlszustĂ€nde zu kontrollieren und die seelischen Spannungen auf diese Art abzubauen. Auch unbewusste Selbstbestrafungstendenzen können dabei eine Rolle spielen.
Psychisch kranke Menschen, die im Strafvollzug gehĂ€uft anzutreffen sind, weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit fĂŒr selbstbeschĂ€digendes Verhalten auf. Dazu kommt in der Haft die Belastung der sozialen Isolation, der Hilflosigkeit und der eingeschrĂ€nkten konstruktiveren Möglichkeiten, mit den seelischen Spannungen umzugehen. Es handelt sich also um destruktive BewĂ€ltigungsstrategien, die den HĂ€ftling nicht wirklich weiterbringen, sondern seine Situation lĂ€ngerfristig noch verschlechtern. NatĂŒrlich ist es auch ein hilfloser und meist erfolgloser Versuch, sich durchzusetzen, zu erpressen und das GefĂ€ngnispersonal unter Druck zu setzen. Erleichtert wird derartiges Verhalten durch den Umstand, dass diese HĂ€ftlinge meist einen massiven Missbrauch von legalen (Psychopharmaka) und illegalen Suchtmitteln betreiben, welcher ihr Schmerzempfinden reduziert und somit die Selbstverletzungen ertrĂ€glicher macht. Zudem schĂŒttet der Körper in derartigen Situationen auch körpereigene Endorphine aus. Dabei handelt es sich um „GlĂŒckshormone“, die zunĂ€chst auch zu einer Schmerzun...

Inhaltsverzeichnis

  1. COVER
  2. TITEL
  3. DER HOFRATSHÜGEL
  4. KINDHEITSERINNERUNGEN
  5. STUDIENZEIT
  6. GRUNDWEHRDIENST
  7. BERUFSEINSTIEG IM GEFÄNGNIS
  8. ERSTE ERFAHRUNGEN IM „ZIEGELSTADL“
  9. PSYCHOLOGISCHER DIENST IM GEFÄNGNIS
  10. GESCHICHTE DES „ZIEGELSTADL“
  11. DIE ZIEGELEI
  12. DIE HÄFTLINGE
  13. DIE JUSTIZWACHE
  14. DIE SICHERHEIT DES „ZIEGELSTADL“
  15. PLÄDOYER FÜR EINEN ZWECKMÄSSIGEN STRAFVOLLZUG
  16. AUFSTIEG IN DIE LEITUNG
  17. GOLDENE JAHRE
  18. „SEUCHENJAHRE“
  19. TIMEOUT
  20. OPFERERFAHRUNG
  21. NEUSTART
  22. DER „ZIEGELSTADL“ AUS DER FERNE DES BMJ
  23. EPILOG
  24. DANK
  25. STEFAN FUCHS
  26. DER AUTOR
  27. IMPRESSUM
  28. WEITERE E-BOOKS AUS DEM HAYMON VERLAG