Historischer Überblick
Woher kommen die Finnen?
Zum ersten Mal in der antiken Geschichtsschreibung erwähnt Tacitus in seiner Germania (98 n. Chr.) die „Fenni“ – und seine Beschreibung klingt zunächst nicht gerade schmeichelhaft! Denn den Nordlandbewohnern, die er selbst nur vom Hörensagen kannte, bescheinigte er eine „absonderliche Tierähnlichkeit“, „abstoßende Dürftigkeit“ und „Verwahrlosung bei allen und Dumpfheit bei den Vornehmen“. Nach Tacitus’ Darstellung müssen die Finnen damals absolut barbarisch gehaust haben: „Sie haben keine Waffen, keine Pferde, kein Zuhause; als Nahrung Kräuter, als Kleidung Felle, als Lager der Erdboden; ihre einzige Hoffnung sind ihre Pfeile, die sie mangels Eisen mit Knochenspitzen versehen (…).“
„Primitivität“ ist aber bei Tacitus, der oft die „gesunden Wilden“ der dekadenten römischen Gesellschaft gegenüberstellt, nichts Schlimmes. Zudem stellt er ausdrücklich fest, dass „die Fenni das Schwerste erreicht“ haben: „wunschlos zufrieden zu sein“.
Obwohl heutzutage umstritten ist, ob Tacitus mit diesen Worten tatsächlich die Finnen oder das Volk der Sámi meinte, wirft schon dieses erste schriftliche Zeugnis die Frage auf, woher die Finnen eigentlich kommen und mit wem sie verwandt sind. Tacitus ist sich nämlich nicht sicher, ob er sie den Germanen oder den Sarmaten (= Skythen) zuzuschreiben habe. Genau diese Frage der ethnischen Zugehörigkeit beschäftigte die Wissenschaft bis ins 20. Jh. hinein und ist selbst heute noch Gegenstand widerstreitender Theorien.
Funde in Südfinnland belegen, dass bereits vor über 9.000 Jahren Steinzeitmenschen in der Region lebten, unmittelbar nachdem die Gletscher der letzten Eiszeit das Land freigegeben hatten. Wer diese Ureinwohner waren, von denen nicht nur Steinäxte, Tonscherben und Feuerstellen, sondern auch das weltweit älteste Fischernetz (Nationalmuseum Helsinki) erhalten geblieben sind, in welcher Sprache sie sich verständigten und welche Religion sie hatten, kann heute nicht mehr rekonstruiert werden.
Aber vielleicht waren sie ja tatsächlich die Urahnen der modernen Finnen – so behauptet es jedenfalls die neuere Forschung (sog. Kontinuitätstheorie). Die Einwanderer vermischten sich mit der arktischen Urbevölkerung und über Jahrtausende entstanden auf diese Weise die Finnen. Blutuntersuchungen ergaben, dass die Gene der Finnen zu 20–25 % baltischen, rund 25 % sibirischen und 25–50 % germanischen Ursprungs sind und dass Finnen und Esten zu zwei Dritteln eine gemeinsame genetische Basis haben.
Die Erkenntnisse der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, Archäologie und Genetik sind dabei höchst widersprüchlich und historische Quellen rar: Während Anthropologie und Archäologie die Herkunft der Finnen im Land selbst vermuten, können Linguisten sehr deutlich Auskunft über die finnische Sprache geben. Sie gehört zu den uralischen Sprachen und ist mit anderen finno-ugrischen Sprachen (z. B. Estnisch und Ungarisch) verwandt (vgl. S. 47). Lange Zeit wurde deshalb die Theorie vertreten, die Urheimat der Finnen befände sich am Lauf der Wolga, von wo einzelne Völkerschaften aufgebrochen seien und ein südlicher Zweig Ungarn erreicht habe, während ein nördlicher um die Zeitenwende über Estland nach Finnland eingewandert sei (sog. Migrationstheorie). Heute geht man davon aus, dass bereits in der Bronzezeit (1500–1000 v. Chr.) Urfinnisch gesprochen wurde. Mithilfe (vor)indoiranischer, baltischer, slawischer und germanischer Lehnwortschichten lässt sich die „Wanderung“ des Finnischen rekonstruieren: Die Übernahme von bis dato fehlenden Begriffen wie Lachs, Aal, Meer oder Schiff aus dem Baltischen lassen beispielsweise auf die Herkunft der uralischen Grundsprache im Binnenland schließen. Die finnische Sprache wäre somit von der Urbevölkerung Finnlands durch den Kontakt mit finno-ugrisch-sprechenden Stämmen übernommen worden. Die Herkunft der samischen Sprache, die ebenfalls zu den finno-ugrischen Sprachen gehört, und ihre Beziehung zu den Finnen sind ebenfalls nicht vollständig geklärt.
Die Wikinger in Südfinnland (Filmaufnahmen bei den Ålands)
Im Laufe der Jahrhunderte kristallisierten sich aus der Urbevölkerung mehrere unterscheidbare Clans und Stämme heraus. Tausend Jahre nach Tacitus kann man von drei Hauptstämmen sprechen:
•den „eigentlichen Finnen“ (Varsinaissuomalaiset) im Südwesten des Landes,
•den Tavasten (Hämäläiset) in Mittel- und Ostfinnland,
•den Kareliern (Karjalaiset) im Südosten (bis hin zum Ladogasee).
Zu dieser Zeit waren die Åland-Inseln und der südwestliche Küstenstreifen schon seit einigen Jahrhunderten (ab ca. 500 n. Chr.) von nordgermanischen Stämmen besiedelt, mit denen die Finnen einen regen Tauschhandel trieben. Die Einwanderung aus dem Westen nahm dann während der Wikingerzeit (800–1100 n. Chr.) deutlich zu.
Am Ende der Epoche tauchten Kaufleute aus Schweden, Dänemark und Norddeutschland im Bottnischen und Finnischen Meerbusen auf – als Erben des wikingischen Handelsnetzes und auf der Suche nach Pelzen, Fleisch und Rohstoffen. Über Flüsse drangen sie in das Seensystem und bis zu den finnischen Siedlungen vor, deren Einwohner zu diesem Zeitpunkt noch heidnisch waren. Jetzt interessierten sich auch die Ostsee-Mächte für das weite Land, das bislang nicht in das mittelalterliche System integriert war, allen voran die Schweden und das Fürstentum Novgorod. Sowohl von Osten als auch von Westen wurde nun versucht, in Finnland Fuß zu fassen, und das bedeutete außerdem einen Wettlauf zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche um die Seelen der ungläubigen Finnen.
Vom 12. Jh. bis 1809: die schwedische Zeit
Bezeichnenderweise war es ein Kreuzzug, der Finnland in die Hand der Schweden brachte. König Erik IX. rief im Jahr 1155 die schwedischen Ritter dazu auf, die Heiden im Osten mit Feuer und Schwert zu christianisieren, doch reizte die Krone wahrscheinlich noch mehr, das machtpolitische Vakuum in Finnland zu füllen und sich gegenüber Novgorod in eine bessere Position zu setzen. Der Kreuzzug verlief wie andere später erfolgreich, was dem König im Nachhinein den Beinamen Erik der Heilige einbrachte. Dass nicht alle Finnen mit dem neuen Glauben einverstanden waren, macht die Legende um Bauer Lalli unmissverständlich deutlich: Auf dem zugefrorenen Köyliö-See soll er den Bischof Henrik erschlagen haben, der auf dem ersten Kreuzzug Erik begleitete – damit hatte das christliche Finnland seinen ersten Märtyrer, der heute noch als Nationalheiliger verehrt wird.
Mittelalterliche Malereien in der Burg Turku
Doch diese Bluttat war eine Ausnahme – insgesamt fügten sich die Finnen in ihr Schicksal, sowohl dem der politischen Abhängigkeit als auch dem des religiösen Wandels. Bald schon war ganz Süd- und Westfinnland in schwedischer (und damit abendländisch-katholischer) Hand und wurde 1284 offiziell dem Reich angeschlossen; Åbo (= Turku) stieg zur bedeutendsten Stadt und zum Bischofssitz auf.
Während die Schweden am Norden des Landes zunächst kein Interesse zeigten, waren sie bestrebt, ihren Einflussbereich nach Osten auszudehnen. Dazu bedienten sie sich des bewährten Mittels der Kreuzzüge, obwohl es so viel gar nicht mehr zu christianisieren gab – stattdessen richteten sich ihre Angriffe gegen das immer stärker werdende Fürstentum Novgorod. Als Festung gegen diese Macht wurde in Karelien auf dem dritten Kreuzzug 1293 Vyborg (finn.: Viipuri) gegründet, doch musste man sich schließlich mit den Russen einigen und den Fluss Kymijoki als Grenze zwischen den beiden Staaten akzeptieren. Im Frieden von Nöteborg (1323) wurde schließlich Karelien geteilt, das ab nun und für lange Zeit in seinem westlichen Teil schwedisch-katholisch und in seinem östlichen Teil russisch-byzantinisch geprägt werden sollte.
Im 16. Jh. erreichte über Schweden die Reformation Finnland. Der Bischof von Turku, Mikael Agricola (1510–57), übertrug 1548 das Neue Testament ins Finnische und wurde somit zum Schöpfer der finnischen Schriftsprache (die ganze Bibel erschien erst 1642). Während die finnischsprachige Kultur einen enormen Aufschwung nahm, sah die politische Großwetterlage einen dänisch-schwedischen Kampf um die Vorherrschaft im Ostseeraum, in den auch Finnland hineingezogen wurde. Unter Gustav I. Vasa (1523–60), dem ersten großen schwedischen Nationalkönig, wurden mehrere dänische Angriffe zurückgeschlagen. Zunächst von geringer Bedeutung war eine Stadtgründung, die der König im Jahr 1550 veranlasste: Als Konkurrenz zum estnischen Tallinn sollte Helsinki/Helsingfors ausländische Händler anziehen. Nach Gustav Vasas Tod im Jahr 1560 wurde das Königreich unter seinen Söhnen Erik, Johann und Karl aufgeteilt, wobei ersterer als Erik XIV. auf den schwedischen Thron kam und Karl die schwedische Provinz Södermanland erhielt. Finnland blieb unter Johanns Regentschaft, der bereits seit 1556 den Titel Herzog von Finnland trug.
Sieger im Bruderkrieg: Johann, Herzog von Finnland, als schwedischer König
Zum ersten Mal war Finnland damit zwar ein eindeutig schwedisch geprägtes, aber doch im Wesentlichen unabhängiges Gemeinwesen und Turku avancierte zum Mittelpunkt einer glanzvollen Hofhaltung. Da Johann in erster Ehe Katharina Jagiellonica geheiratet hatte, die wiederum Erbin der polnischen Krone war, gab es damals sogar Pläne, Finnland mit Polen und den baltischen Ländern zu einem selbstständigen Königreich zusammenzuschließen. Ein solches Vorhaben konnte Erik XIV. natürlich nicht gutheißen, der nun seinen Halbbruder in der Burg von Turku belagern ließ und ihn samt Gemahlin festsetzte. Das war allerdings nur der erste Akt in diesem Familiendrama. Erik XIV., selbst mit der Finnin Karin Månsdotter verheiratet, war politisch erfolglos, insbesondere...