Der Bauch von Paris
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Der Bauch von Paris

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Der Bauch von Paris

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Über dieses Buch

In seinem wohl berühmtesten Werk, dem 1873 erstmals erschienen Roman Der Bauch von Paris, gelingt es Émile Zola auf einzigartige Weise, seinen sozialkritischen Anspruch mit einer spannenden Romanhandlung zu verknüpfen. Erzählt wird die Geschichte des Pariser Fleischers Quenu, dessen Bruder Florent - ein obskurer Charakter - eines Tages der Polizei in die Hände fällt. Er wird nach Guayana deportiert, kann jedoch fliehen und kehrt nach Frankreich zurück. Dadurch geraten Quenu und seine Frau in eine prekäre Lage, denn Florent erwartet von seinem Bruder und dessen Frau, daß sie ihn verstecken und zu ihm halten. Doch Quenus Frau hat andere Pläne, denn schließlich ist da noch jenes Erbe, das Florent eigentlich zustünde...

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Information

ISBN
9789635262090

Kapitel 1

Inmitten der tiefen Stille zogen durch die menschenleere, ansteigende Allee die Karren der Gemüsegärtner nach Paris mit dem gleichmäßigen Kreischen ihrer Räder, dessen Widerhall an die Mauern der Häuser schlug, die zu beiden Seiten der Straße hinter den verschwommenen Linien der Ulmen in nächtlicher Ruhe dalagen. An der Brücke von Neuilly waren ein Karren Kohl und ein Karren Bohnen zu den acht Karren weißer und gelber Rüben gestoßen, die von Nanterre kamen; die Pferde gingen allein gesenkten Kopfes mit ihrem ausdauernden, trägen Schritt, den der ansteigende Weg noch verlangsamte. Auf ihrer Gemüseladung oben, zugedeckt mit ihren schwarz und grau gestreiften Mänteln, schlummerten die Kärrner mit den Zügeln in der Faust. Trat ein Wagen aus einem in Schatten liegenden Straßenabschnitt heraus, dann beleuchtete das Gaslicht die Nägel eines Schuhes, den blauen Ärmel einer Bluse, die Spitze einer Mütze mitten unter den riesigen Bündeln roter und weißer Rüben, dem überquellenden Grün der Bohnen und der Kohlköpfe. Und auf der Straße wie auf den benachbarten Wegen, vorwärts und rückwärts kündigte das ferne Knarren von Fuhrwerken gleiche Züge an, einen ganzen Markt, der durch die Dunkelheit und den Schlaf der zweiten Morgenstunde sich bewegte und die im Schatten liegende Stadt in dem Geräusch dieses Zuges von Nahrungsmitteln wiegte.
Balthasar, das Pferd der Frau François, ein allzu fettes Tier, schritt an der Spitze des Zuges einher. Halb im Schlummer und leise die Ohren bewegend, ging es fürbaß, als auf der Höhe der Longchamp-Straße ein plötzlicher Schreck es zwang, sich auf alle vier stemmend stillzustehen. Die anderen Tiere stießen mit dem Kopf an das Hinterteil der Karren, und der ganze Zug hielt still mit einem lauten Klirren der Eisenbeschläge und unter den Flüchen der plötzlich aufgewachten Kärrner. Frau François, die auf einem vor dem Gemüsehaufen quer angebrachten Brettchen saß, blickte umher, sah aber nichts bei dem spärlichen Lichte der an der linken Seite des Karrens angebrachten Laterne, die nur eine Flanke Balthasars beleuchtete.
He, Mutter François, vorwärts! rief einer der Männer, auf seinem Rübenhaufen kniend. Es wird irgendein betrunkener S… ..l sein.
Sie hatte sich hinabgeneigt und sah rechts, fast unter den Füßen des Pferdes, eine schwarze Masse, die den Weg verlegte.
Man kann doch die Leute nicht überfahren, sagte sie und sprang vom Karren zur Erde.
Es war ein Mann, der bäuchlings in seiner ganzen Länge mit ausgestreckten Armen im Straßenstaube lag. Er schien von ungewöhnlicher Länge zu sein und dürr wie ein Brett. Es war ein Wunder, daß Balthasar ihn nicht mit einem einzigen Hufschlag zu Tode getreten hatte. Frau François hielt ihn für tot; sie hockte vor ihm nieder, nahm eine seiner Hände und fühlte, daß sie warm war.
He, Mann! sagte sie mit sanfter Stimme.
Doch die anderen Kärrner wurden ungeduldig. Der auf seinen Rüben kniete, rief jetzt mit seiner heiseren Stimme:
Haut doch ein, Mutter François! Der Kerl ist voll; stoßt ihn in die Gosse!
Der Mann hatte indes die Augen geöffnet. Mit erschreckter Miene und ohne sich zu rühren, betrachtete er Frau François. Sie dachte, daß er in der Tat betrunken sein müsse.
Sie dürfen da nicht bleiben, sonst werden Sie überfahren, sagte sie … Wohin gehen Sie?
Ich weiß es nicht, erwiderte er mit sehr müder Stimme. Dann blickte er sich unruhig um. Ich ging nach Paris und bin gefallen … mehr weiß ich nicht.
Sie sah ihn jetzt genauer an; er hatte ein recht klägliches Aussehen mit seinem fadenscheinigen, zerfetzten, schwarzen Rocke und ebensolchem Beinkleide, die an seinem hageren, knochigen Leibe schlotterten. Seine Mütze von grobem, schwarzem Tuche, scheu bis zu den Augenbrauen herabgezogen, beschattete zwei große, braune Augen von eigentümlicher Sanftmut in einem Gesichte, in das die Leiden ihre harten Furchen gezogen hatten. Frau François dachte, daß er wirklich zu mager sei, um getrunken zu haben.
Wohin gingen Sie in Paris? fragte sie weiter.
Er antwortete nicht sogleich; dieses Verhör schien ihm unbequem zu sein. Er schien mit sich zu Rate zu gehen; dann sagte er zögernd:
Dorthin, nach den Hallen.
Mit unsäglicher Mühe hatte er sich aufgerichtet und schickte sich an, seinen Weg fortzusetzen. Die Krautgärtnerin sah, wie er sich wankend auf die Gabeldeichsel des Karrens stützte.
Sind Sie müde? fragte sie.
Ja, sehr müde, flüsterte er.
Da drängte sie ihn vorwärts und rief:
Rasch, rasch, auf meinen Wagen! Wir verlieren Ihrethalben zu viel Zeit! … Ich fahre nach den Hallen; dort will ich Sie mit meinen Gemüsen abladen.
Da er sich weigerte, hob sie ihn mit ihren kräftigen Armen auf den Karren, warf ihn fast auf den Rübenhaufen hin und rief zornig:
Lassen Sie uns jetzt in Frieden! Sie ärgern mich, mein Bester! Ich sage Ihnen ja, daß ich nach den Hallen fahre! … Schlafen Sie, ich werde Sie schon wecken …
Sie stieg wieder auf den Karren, setzte sich auf das quer liegende Brett und ergriff die Zügel Balthasars, der sich wieder in Gang setzte, schläfrig, leise die Ohren bewegend. Die übrigen Karren folgten, die ganze Reihe nahm in dem nächtlichen Dunkel ihren Weg wieder auf und sandte den Widerhall des Räderknarrens gegen die schlummernden Häuser. Auch die Kärrner schliefen unter ihren Mänteln wieder ein. Der die Mutter François angerufen hatte, streckte sich wieder aus und brummte:
Das wäre schlimm, wenn man die Trunkenbolde von der Straße auflesen müßte. Ihr seid gar zu besorgt, Mutter!
Die Karren rollten dahin, die Pferde zogen ihres Weges mit gesenkten Köpfen, ohne erst angetrieben zu werden. Der Mann, den die alte Küchengärtnerin auf ihren Karren genommen, lag auf dem Bauche und steckte die Beine in den Rübenhaufen, der den hinteren Teil des Wagens füllte; sein Antlitz lag in den gelben Möhren gebettet, deren Bündel sich unter ihm ausbreiteten; erschöpft, mit ausgebreiteten Armen die riesige Gemüseladung umfangend, weil er fürchtete, daß ein Ruck ihn vom Wagen schleudern könne, betrachtete er vor sich die zwei endlos sich hinziehenden Reihen von Gaslaternen, die näher kamen und sich oben in einer Menge anderer Lichter verloren. Am Gesichtskreise schwebte weithin ein weißer Rauch und tauchte das schlafende Paris in den leuchtenden Dunstkreis all dieser Flammen.
Ich bin aus Nanterre und heiße Frau François, sprach die Krautgärtnerin nach einer Weile. Seitdem ich meinen armen Mann verloren habe, gehe ich jeden Morgen nach den Hallen. Das ist hart, glauben Sie mir's! … Und Sie?
Ich heiße Florent und komme von weit her … erwiderte der Unbekannte verlegen. Entschuldigen Sie: ich bin dermaßen ermüdet, daß es mir schwer fällt zu sprechen.
Er hatte keine Lust zu plaudern. Da schwieg sie denn still und ließ die Zügel lockerer auf den Rücken Balthasars fallen, der sicher seines Weges zog wie ein Tier, das jeden Pflasterstein kennt. Die Blicke auf das Lichtmeer von Paris gerichtet dachte Florent über die Geschichte nach, die er verheimlichte. Nachdem er aus Cayenne geflohen war, wohin die Dezembertage ihn verschlagen hatten, und nachdem er zwei Jahre im holländischen Guyana herumgestreift war mit dem wahnsinnigen Verlangen heimzukehren und zurückgehalten durch die Furcht vor der kaiserlichen Polizei, hatte er endlich diese teure, große, heiß ersehnte Stadt vor sich. Da wollte er sich verbergen, sein friedliches Leben von einst wieder aufnehmen. Die Polizei sollte nichts davon erfahren; übrigens mußte er ja längst für tot gelten. Dann erinnerte er sich seiner Landung in Havre, wo er nicht mehr als fünfzehn Franken in einem Zipfel seines Schnupftuches fand. Bis Rouen konnte er noch mit dem Postwagen fahren. Von Rouen brach er zu Fuße auf, denn er besaß nur mehr dreißig Sous. In Vernon hatte er für seine letzten zwei Sous Brot gekauft. Was weiter geschah, dessen erinnerte er sich nur undeutlich. Er glaubte, mehrere Stunden in einem Graben geschlafen zu haben. Einem Gendarm, der des Weges kam, hatte er die Papiere zeigen müssen, mit denen er sich versehen.
All dies wirbelte ihm durch den Kopf. Er war von Vernon gekommen, ohne zu essen, Wut und Verzweiflung im Herzen, die Blätter der Hecken kauend, an denen er vorbeikam; und er ging immer weiter, von Krämpfen und Schreckensanfällen ergriffen, mit leerem Magen, trüben Augen, schmerzenden Beinen, ohne sich all dessen bewußt zu sein, immer nach dem fernen, sehr fernen Paris dort hinter dem Gesichtskreise, das ihn rief, das ihn erwartete. Als er in Courbevoie ankam, war es stockfinstere Nacht. Paris, das einem auf die schwarze Erde niedergefallenen Stück gestirnten Himmels glich, erschien ihm streng und gleichsam verdrossen über seine Rückkehr. Da überkam ihn eine Schwäche und er stieg mit schlotterigen Beinen den Abhang hinab. Über die Brücke von Neuilly kommend lehnte er sich an die Brustwehr und neigte sich zur Seine hinab, die zwischen den dichten Massen der Ufer ihre dunklen Fluten wälzte; eine rote Schiffslaterne folgte ihm unten gleich einem blutigen Auge. Es galt jetzt hinanzusteigen, Paris dort oben zu erreichen. Die Allee schien ihm unendlich lang. Die Hunderte von Meilen, die er zurückgelegt hatte, waren nichts; dieses Stück Weges hingegen brachte ihn in Verzweiflung; er glaubte, jene von Lichtern gekrönte Höhe niemals zu erreichen. Die flache Allee dehnte sich dahin mit ihren zwei Reihen großer Bäume und niedriger Häuser, ihren breiten, grauen Fußwegen, auf welche die Schatten der Zweige fielen, und mit den dunkeln Höhlen der Querstraßen in ihrer ganzen Stille und Finsternis; die in regelmäßigen Zwischenräumen stehenden Gaslaternen allein brachten das Leben ihrer kurzen, gelben Flammen in diese gleichsam ausgestorbenen Straßen. Florent glaubte, daß man nicht von der Stelle komme; die Allee dehnte sich noch immer in unendlicher Länge dahin, ließ Paris in den Hintergrund der Nacht zurückweichen. Ihm war, als würden die Gaslaternen mit ihrem einzigen Auge rechts und links dahinlaufen und die Straße mitnehmen; in diesem Wirbel strauchelte er und fiel wie eine tote Masse auf das Pflaster hin.
Auf dieser Ladung Grünzeug gelagert, die ihm weich wie ein Federbett dünkte, fuhr er jetzt ganz sachte dahin. Er hatte ein wenig das Kinn gehoben, um die leuchtende Dunstwolke zu sehen, die über den am Horizont nur undeutlich sichtbaren schwarzen Dächern immer größer wurde. Er kam endlich an; er wurde getragen und brauchte sich nur den jetzt verlangsamten Stößen des Karrens zu überlassen. Bei dieser mühelosen Annäherung vergaß er alles Leid, nur den Hunger nicht. Der Hunger war erwacht, unerträglich und grausam. Seine Glieder waren erschlafft, er fühlte nichts als seinen Magen, der sich zusammenkrampfte und gleichsam von einer rotglühenden Zange festgehalten wurde. Der frische Geruch der Gemüse, in denen er lag, dieser durchdringende Möhrengeruch betäubte ihn dermaßen, daß er schier das Bewußtsein verlor. Er drückte mit allen seinen Kräften seine Brust an dieses tiefe Lager voll Nahrung, um seinen Magen zusammenzupressen, am Knurren zu verhindern. Und die anderen neun Karren hinter ihm mit ihren Bergen von Kohl, Bohnen, Artischocken, Salaten, Sellerien, Lauchpflanzen schienen langsam über ihn hinwegzufahren und ihn, der Hungers starb, unter einem Berge von Lebensmitteln zu begraben. Jetzt hielt man still und laute Stimmen wurden vernehmbar. Man war an den Zollschranken angekommen und die Zolleinnehmer untersuchten die Karren. Dann zog Florent in Paris ein, ohnmächtig, die Zähne aufeinander gepreßt, auf einem Möhrenhaufen gelagert.
He, Mann da oben! rief Frau François plötzlich.
Und da der Mann sich nicht rührte, stieg sie hinauf und rüttelte ihn. Da setzte Florent sich auf. Er hatte geschlafen und verspürte den Hunger nicht mehr. Er war ganz verwirrt. Die Küchengärtnerin hieß ihn absteigen und sprach:
Sie helfen mir abladen, wie?
Er half ihr abladen. Ein dicker Mann mit einem Filzhut auf dem Kopfe, einem Stock in der Hand und einem Plättchen auf dem linken Umschlag seines Überrockes stand dabei; er gebärdete sich sehr ungeduldig und schlug mit dem Ende seines Stockes auf den Bürgersteig.
Vorwärts, macht rasch! rief er. Laßt den Karren weiter vor! Wie viel Meter haben Sie? Vier, nicht wahr?
Und er reichte der Frau François einen Schein, wofür die Küchengärtnerin einige Kupfermünzen bezahlte, die sie aus einem leinenen Sack hervorgeholt hatte. Dann ging der dicke Mann einige Schritte weiter, um dort ungeduldig zu schreien und mit seinem Stocke auf das Straßenpflaster zu stoßen. Die Krautgärtnerin hatte Balthasar am Zügel genommen und den Karren mit dem Hinterteil gegen den Fußweg aufgestellt. Nachdem das rückwärtige Brett weggenommen war und sie ihren Platz von vier Metern mittelst Strohwische ausgesteckt hatte, bat sie Florent, ihr Bund für Bund die Gemüse herabzureichen. Sie reihete sie auf dem viereckigen Raume in regelrechter Weise auf, wußte ihre Waren in zierlicher Weise auszulegen, ordnete die Blätter so, daß der ganze Haufe gleichsam mit einem grünen Bande eingesäumt war und errichtete mit merkwürdiger Raschheit ein ganzes Musterlager, das im Dunkel einem Gewebe mit gleichmäßig angeordneten Farben glich. Als Florent ihr einen riesigen Bund Petersilie, der am Boden des Karrens gelegen, hinabgereicht hatte, verlangte sie noch einen Dienst von ihm.
Seien Sie doch so gefällig, meine Ware zu hüten, bis ich den Karren untergestellt habe. Es ist nicht weit von hier, in der Montorgueil-Straße in der Herberge zum »goldenen Kompaß«.
Er versicherte ihr, sie könne ruhig sein. Die Bewegung hatte ihm nicht gut getan; er fühlte seinen Hunger wieder rege werden, seitdem er sich bewegte. Er setzte sich neben einen Haufen Kohl vor dem Standplatze der Frau François und hielt sich für wohl aufgehoben; er wollte sich nicht rühren und ruhig warten. Sein Schädel schien ihm ganz hohl, und er wußte sich nicht genau zu erklären, wo er sei. Zu Beginn des Monats September ist es am Morgen noch ganz dunkel. Rings um sich her sah er Reihen von Laternen, die sich im Schatten verloren. Er befand sich am Saume einer Straße, die er nicht erkannte. Sie dehnte sich weithin und verlor sich im nächtlichen Dunkel. Er sah nichts als die Waren, die er hütete. Jenseits waren längs der Straße die unbestimmten Umrisse anderer Gemüsehaufen wahrzunehmen. In der Mitte der Straße standen fremde Karren, und ein durch die Straße streichender Windhauch verriet die Anwesenheit einer ganzen Reihe von angeschirrten Pferden, die man nicht sehen konnte. Einzelne Rufe, das Geräusch eines Holzstückes oder einer Eisenkette, die auf das Straßenpflaster fiel, das dumpfe Gepolter einer Gemüseladung, die auf dem Platze ausgeschüttet wurde, der letzte Anprall eines Karrens an dem Randsteine des Fußweges: All dies vereinigte sich in der noch stillen Morgenluft zu dem gedämpften Geräusch eines weithin hallenden, furchtbaren Erwachens, das man aus all dem bebenden Dunkel näher kommen fühlte. Als Florent den Kopf wandte, bemerkte er jenseits seiner Kohlhaufen einen Mann, der wie ein Bündel in seinen Mantel gehüllt und den Kopf auf einen Korb voll Pflaumen gestützt, laut schnarchend schlief. Etwas näher, auf der linken Seite, sah er ein Kind von etwa zehn Jahren, das zwischen zwei Haufen Endivienkraut sitzend, mit einem engelsmilden Lächeln in seinem Antlitze schlummerte. Auf dem Fußweg war eigentlich noch nichts wach als die Laternen, deren Flammen am Ende unsichtbarer Arme flimmerten, und die gleichsam mit einem Sprunge über diese schlafende und des Tagesanbruches harrende Welt von Menschen und Gemüsen hinwegsetzten.
Überrascht blickte er auf die zu beiden Seiten der Straße sich erhebenden riesigen Pavillons, deren übereinander geschichtete Dächer zu wachsen, sich auszudehnen, in der Tiefe einer Wolke von zerstäubenden Lichtern sich zu verlieren schienen. In seinem verschwommenen Denken glaubte er eine Reihe von ungeheuren, regelmäßigen, kristalleichten Palästen vor sich zu haben, an deren Stirnseiten die Lichtstreifen der erleuchteten Fenster in endloser Reihe sich hinziehen. Diese schmalen, gelben Streifen zwischen den feinen Kanten der Pfeiler bildeten Lichtleitern, die zu den dunkelen Linien der ersten Dächer hinaufstiegen, dann die oberen Dächer erkletterten und so das Gerippe ungeheurer Säle beleuchteten, wo im gelben Gaslichte ein Durcheinander von grauen, verschwimmenden Formen schlummerte. Er wandte den Kopf verdrossen ab, weil er nicht wußte, wo er war, und beunruhigt durch den Anblick dieses ungeheuren, luftigen Baues. Als er die Augen erhob, sah er die beleuchtete Turmuhr der Sankt-Eustach-Kirche samt den grauen Umrissen des Gotteshauses. Er war also im Sankt-Eustach-Viertel.
Mittlerweile war Frau François zurückgekehrt. Sie stritt heftig mit einem Manne, der einen Sack auf der Schulter trug und ihr einen Sou für das Bund Möhren bot.
Ihr seid nicht recht gescheit, Lacaille … Ihr verkauft den Parisern das Bund für 4–5 Sous … leugnet nicht! Für zwei Sous lasse ich sie Euch.
Als der Mann weiterging, fügte sie hinzu:
Die Leute glauben, es wächst von selbst … Er soll sich Möhren suchen für einen Sou das Bund … der Trunkenbold Lacaille. Sie werden sehen, er kommt wieder.
Diese Worte hatte sie an Florent gerichtet. Dann setzte sie sich zu ihm und fuhr fort:
Wenn Sie schon lange Zeit von Paris fern sind, kennen Sie vielleicht die neuen Hallen nicht? Sie stehen höchstens erst fünf Jahre … Dieser Pavillon da neben uns ist für die Früchte und Blumen, weiterhin Seefische und geschlachtetes Geflügel, dahinter schwerere Gemüse, Butter, Käse … Es gibt sechs Pavillons auf dieser Seite; auf der anderen Seite gegenüber sind noch vier für Fleisch, Kaldaunen und lebendes Geflügel. Die Hallen sind sehr groß; aber im Winter ist's verteufelt kalt da drinnen. Man spricht davon, daß noch zwei Pavillons erbaut werden sollen; zu diesem Behufe sollen die Häuser, die die Getreidehalle umgeben, niedergerissen werden. Haben Sie all dies gekannt?
Nein, erwiderte Florent; ich war im Auslande … Wie heißt die große Straße da vor uns?
Das ist eine neue Straße, die Pont-Neuf-Straße; sie geht von der Seine aus und mündet hier in die Montmartre- und Montorgueil-Straße. Wenn Tag wäre, würden Sie sich sogleich auskennen.
Jetzt erhob sie sich, weil sie eine Frau bemerkte, die ihre Rüben besichtigte.
Ihr seid's, Mutter Chantemesse? sagte sie freundlich.
Florent ließ die Blicke über die Montorgueil-Straße hinschweifen. Hier war's, wo in der Nacht vom 4. Dezember eine Schar von Polizisten ihn ergriffen hatte. Er ging gegen zwei Uhr nachmittags die Montmartre-Promenade hinauf ganz ruhig inmitten einer großen Menge und lächelte über die vielen Soldaten, mit denen die Machthaber des Elysée das Straßenpflaster überschwemmten, um ernst genommen zu werden, als die Soldaten auf die Menge zu schießen begannen und binnen einer Viertelstunde die Straßen säuberten. Gestoßen und zu Boden geworfen, fiel er an der Ecke der Vivienne-Straße nieder; dann wußte er nichts mehr, die Menge stürmte über ihn hinweg in wahnsinniger Furcht vor den Schüssen. Als er nichts mehr hörte, wollte er sich erheben. Eine junge Frau lag auf ihm; sie hatte einen rosa Hut auf dem Kopfe und ihr herabgeglittener Schal enthüllte ein fein gefälteltes Busentuch; zwei Kugeln hatten das Busentuch durchlöchert und waren oberhalb der Brust in den Körper eingedrungen. Als er die junge Frau sachte zur Seite schob, um seine Beine freizubekommen, floß aus den Schußwunden das Blut in zwei dünnen Fäden auf seine Hände. Da erhob er sich mit einem Satz und eilte davon, wahnsinnig vor Schreck, ohne Hut, mit blutfeuch...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kapitel 1
  3. Kapitel 2
  4. Kapitel 3
  5. Kapitel 4
  6. Kapitel 5
  7. Kapitel 6