Das Paradies der Damen
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Das Paradies der Damen

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Das Paradies der Damen

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Über dieses Buch

Anhand der Geschichte der Protagonistin Denise, einer Verkäuferin, die aus der Provinz nach Paris kommt und im Paradies der Damen eine Anstellung findet, wird das Wachstum und die Struktur dieses Kaufhauses und gleichzeitig der Niedergang des kleingewerblichen Einzelhandels eines kompletten Pariser Stadtviertels beschrieben. Die im Roman auftauchenden Figuren sind aktiv oder passiv mit dem expandierendem Kaufhaus verbunden.
Als Mitarbeiter, Käufer oder anliegender Einzelhändler. Besonderes Augenmerk findet neben der Verkäuferin Denise der Inhaber des Kaufhauses, Octave Mouret, und dessen Leben in der feinen Pariser Gesellschaft sowie seine Geschäftspraktiken. Vorbild für diese Romanfigur waren der Unternehmer Auguste Hériot, der das Pariser Kaufhaus Grands Magasins du Louvre begründete sowie Aristide Boucicaut, der Gründer des Le Bon Marché. Um den Kampf des kleinen Einzelhändlers gegen das aufkommende Großwarenhaus darzustellen, betrieb Zola gewohntermaßen umfangreiche betriebswirtschaftliche und soziologische Studien, er interviewte Geschäftsführer, Abteilungsleiter und Verkäuferinnen der genannten Warenhäuser. Sein fiktives Riesenwarenhaus sollte ein ideales Beispiel darstellen, deshalb nahm er sich bei dessen Beschreibung die Verwaltung des Unternehmens Le Bon Marché zum Vorbild, während ihm das Kaufhaus Grands Magasins du Louvre zwar schlechter organisiert, in der Warenpräsentation aber überlegen erschien.

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Information

ISBN
9789635266456

Kapitel 1

Denise kam mit ihren beiden Brüdern zu Fuß vom Bahnhof Saint-Lazare. Sie waren eben erst von Cherbourg angekommen und hatten die ganze Nacht auf der harten Bank eines Eisenbahnwagens dritter Klasse zugebracht. Sie führte den kleinen Pépé an der Hand, während Jean ihr folgte; alle drei waren müde von der Reise und fühlten sich wie verloren in dieser ungeheuren Stadt Paris. Ihre erstaunten Blicke irrten über die hohen Häuser hinweg; bei jeder Straßenkreuzung erkundigten sie sich nach der Rue de la Michodière, wo ihr Onkel wohnte. Als sie endlich auf der Place Gaillon ankamen, blieb das Mädchen überrascht stehen.
»Schau einmal, Jean!« rief sie.
Wie angewurzelt standen sie da und schmiegten sich fest aneinander in ihren abgetragenen schwarzen Kleidern; sie waren in Trauer um den Tod ihres Vaters. Denise, ein für seine zwanzig Jahre recht schmächtiges Mädchen, trug in der einen Hand ein bescheidenes Bündel, während auf der anderen Seite ihr kleiner Bruder, der fünfjährige Pépé, an ihrem Arm hing. Hinter ihr stand Jean, ein sechzehnjähriger Bursche, der strotzte vor Kraft und Gesundheit.
»Ist das ein Geschäft!« fügte sie nach einer Weile bewundernd hinzu.
Es war ein Modewarenhaus an der Ecke der Rue de la Michodière und der Rue Neuve-Saint-Augustin, dessen Auslagen im milden Licht dieses Oktobermorgens in hellen Farben erstrahlten. Vom Kirchturm von Saint-Roch schlug es eben acht; auf dem Bürgersteig sah man nur Leute, die ihrer Arbeit nachgingen: Beamte, die in ihre Büros hasteten, Hausmädchen, die in den Läden Einkäufe zu besorgen hatten. Vor dem Eingang des Warenhauses standen zwei Gehilfen auf einer Doppelleiter und waren dabei, verschiedene Wollwaren auszuhängen. In einer Auslage nach der Rue Neuve-Saint-Augustin kniete ein anderer Gehilfe mit dem Rücken zum Fenster und legte blauen Seidenstoff sorgfältig in Falten. Im Innern des Geschäfts, in dem noch keine Kunden zu sehen waren und wo auch das Personal erst nach und nach eintraf, summte es aber schon wie in einem erwachenden Bienenkorb.
»Donnerwetter!« rief Jean. »Da kann Valognes sich ja verstecken … Dein Geschäft war lange nicht so schön.«
Denise nickte zustimmend. Sie hatte bei Cornaille, dem ersten Modewarenhändler von Valognes, zwei Jahre gearbeitet. Als sie jetzt plötzlich vor diesem Haus, vor diesem großartigen Geschäft stand, vergaß sie in ihrem Staunen alles übrige. An der stumpfen Ecke, die auf die Place Gaillon ging, befand sich eine hohe Glastür, die bis zum Zwischenstock reichte, umrahmt von kunstvoll zusammengesetztem, reich vergoldetem Zierat. Zwei sinnbildliche Figuren, lachende Frauengestalten, entrollten ein Band, auf dem zu lesen war: » Zum Paradies der Damen«. Dann folgte die Reihe der Auslagen längs der Rue de la Michodière und der Rue Neuve-Saint-Augustin, wo sie außer dem Eckgebäude noch je zwei Häuser einnahmen, die zu Erweiterungszwecken angekauft und vor kurzem erst eingerichtet worden waren. Das Geschäft erschien fast endlos mit seinen Schaufenstern im Erdgeschoß und seinen Spiegelscheiben im Zwischenstock, hinter denen man geschäftiges Treiben beobachten konnte.
»Zum Paradies der Damen«, las Jean und lachte vor sich hin. Er war ein hübscher Junge, der in Valognes schon seine kleinen Weibergeschichten gehabt hatte. »Das zieht die Leute an!«
Doch Denise stand immer noch versunken vor der Auslage zu seiten des Haupteingangs. Hier lag, sozusagen auf dem Gehsteig, ein ganzer Haufen von billigen Waren, Gelegenheitsartikel, welche die Kunden im Vorbeigehen anziehen sollten. Lange Bahnen der verschiedensten Stoffe ergossen sich aus dem Zwischenstock herab und flatterten wie Fahnen in allen Farben, schiefergrau, meerblau, olivgrün. Daneben hingen gleichsam als Umrahmung des Eingangs schmale Pelzstreifen als Kleiderbesatz herab. Unten schließlich waren in Fächern und auf Tischen mitten unter Stößen von Stoffresten Berge von Waren aufgestapelt, die für eine Kleinigkeit zu haben waren: gewirkte Handschuhe und Schals, Kopftücher, Leibchen, eine förmliche Ausstellung von Wintersachen in bunten, scheckigen, gestreiften Mustern. Es war ein riesiger Jahrmarkt; das Geschäft schien vor Überfülle bersten und seinen Überfluß auf die Straße ausschütten zu wollen.
Onkel Baudu war vergessen. Selbst der kleine Pépé, der keinen Augenblick die Hand seiner Schwester losließ, riß erstaunt die Augen auf. Ein rollender Wagen zwang sie alle drei, die Mitte des Platzes, wo sie bisher gestanden hatten, zu verlassen; unwillkürlich wandten sie sich der Rue Neuve-Saint-Augustin zu, folgten den Schaufenstern und blieben vor jeder Auslage stehen. Die letzte aber übertraf alles, was sie bisher gesehen hatten. Hier war eine Ausstellung von Seiden-, Atlas- und Samtstoffen in den prächtigsten Farben gezeigt: ganz oben die Samte, vom tiefsten Schwarz bis zum zarten Milchweiß; weiter unten die Atlasstoffe in Rosa, in Blau, in weichen Farbtönen; noch tiefer schließlich die Seidenstoffe, eine ganze Skala des Regenbogens, da ein Stück zu einer Schleife aufgebauscht, dort ein anderes in Falten gelegt, wie zum Leben erwacht unter den geschickten Händen der Dekorateure. Zu beiden Seiten aber waren in ungeheuren Stößen jene beiden Seidenarten aufgehäuft, die eine ausschließliche Spezialität des Hauses bildeten: »Pariser Glück« und »Goldhaut«, zwei Artikel, die eine Umwälzung im Modehandel hervorrufen sollten.
»Ach, diese Seide zu fünf Franken sechzig!« rief Denise, ganz hingerissen von dem »Pariser Glück«, aus.
Jean begann sich zu langweilen.
»Wo ist die Rue de la Michodière?« fragte er einen Vorübergehenden.
Man bezeichnete ihm die erste Straße rechts. Alle drei gingen denselben Weg zurück und um das Geschäft herum. Als sie in die Straße einbogen, wurde Denise durch ein anderes Schaufenster angelockt, in dem Damenkonfektionsartikel ausgestellt waren. So etwas hatte sie noch nie gesehen, sie blieb starr vor Bewunderung stehen. Da gab es Mäntel für jede Gelegenheit, vom einfachen Ballumhang zu neunundzwanzig Franken bis zum schweren Samtmantel, der mit achtzehnhundert Franken ausgezeichnet war. Auf den rundlichen Busen der Schaufensterpuppen bauschte der Stoff sich auf, die betonten Hüften ließen die zierliche Taille noch mehr hervortreten; der fehlende Kopf war durch eine große weiße Preistafel ersetzt, während die Spiegel zu beiden Seiten der Auslage in genau berechnetem Spiel die Figuren endlos vervielfältigten und so die Straße mit diesen schönen, verkäuflichen Frauen bevölkerten, die an Stelle des Kopfes eine große Tafel trugen, auf der in weithin sichtbaren Ziffern ihr Preis zu lesen war.
»Famos!« rief Jean, der keinen anderen Ausdruck für seine Bewunderung fand.
Auch er stand unbeweglich mit offenem Munde da. Beim Anblick all dieses weiblichen Luxus war er errötet vor Vergnügen. Er war hübsch wie ein Mädchen, von einer Schönheit, die er seiner Schwester geraubt zu haben schien, mit rosig schimmernder Haut, blondem, gelocktem Haar, verführerisch frischen Lippen und hellen Augen. Neben ihm erschien Denise noch unbedeutender mit ihrem schmalen Gesicht, der matten Farbe und dem fahlen Haar. Pépé mit dem hellblonden Kinderschopf drückte sich enger an sie, wie von einem unbestimmten Verlangen nach Liebkosungen getrieben. Sie bildeten eine so seltsame, reizende Gruppe, diese drei Blondköpfe in ihren abgenützten Trauerkleidern, das ernste Mädchen zwischen dem hübschen Kind und dem prächtigen Jüngling, daß die Vorübergehenden sich lächelnd nach ihnen umwandten.
Auf der Schwelle eines Ladens auf der anderen Seite der Straße stand seit einigen Augenblicken ein dicker, weißhaariger Mann mit breitem, gelblichem Gesicht und beobachtete die Gruppe. Mit zornfunkelnden Augen und zusammengekniffenen Lippen hatte er nach den Auslagen des »Paradieses der Damen« hinübergesehen, und der Anblick des Mädchens mit seinen beiden Brüdern erbitterte ihn noch mehr. Was hatten die Taugenichtse vor dieser marktschreierischen Auslage zu gaffen?
»Und der Onkel?« fragte Denise plötzlich, wie aus einem Traum auffahrend.
»Wir sind in der Rue de la Michodière«, sagte Jean. »Hier muß er wohnen.«
Sie hoben die Köpfe und blickten sich um. Da sahen sie gerade vor sich oberhalb der Tür, in welcher der dicke Mann stand, ein grün gestrichenes Firmenschild, auf dem in gelber, verwaschener Schrift zu lesen war: »Vieil Elbeuf, Tuch- und Flanellhandlung Baudu, vormals Hauchecorne«. Es war ein schmales Haus mit schmutziggrauem Verputz, eingezwängt zwischen den hohen Nachbargebäuden. Denise, in Gedanken noch bei den Herrlichkeiten des gegenüberliegenden Warenhauses, betrachtete überrascht den niedrigen Laden im Erdgeschoß, über dem ein ebenfalls nicht sehr hoher Zwischenstock mit halbmondförmigen Fenstern lag, die ihm das Aussehen eines Gefängnisses gaben. Rechts und links sah man zwei finstere, verstaubte Auslagen, in denen man undeutlich einen Haufen Stoffe erkennen konnte. Die offene Ladentür schien in einen feuchten, dunklen Keller zu führen.
»Da ist's«, sagte Jean.
»Nun, dann wollen wir hineingehen. Komm, Pépé!«
Sie fühlten sich alle drei scheu und unsicher. Als ihr Vater gestorben war, hinweggerafft von dem gleichen Fieber, dem einen Monat zuvor ihre Mutter erlegen war, hatte zwar der Onkel Baudu in der ersten Gefühlsregung über diesen doppelten Todesfall seiner Nichte geschrieben, es werde sich in seinem Hause stets ein Plätzchen für sie finden, wenn sie nach Paris kommen wolle, um hier ihr Glück zu versuchen; allein seit jenem Brief war fast ein Jahr verflossen, und Denise bereute jetzt, daß sie Valognes so plötzlich verlassen hatte, ohne ihren Onkel vorher zu verständigen. Er kannte sie gewiß nicht mehr, denn er war nie wieder in seine Heimat gekommen, seitdem er fortgegangen war, um als kleiner Gehilfe bei dem Tuchhändler Hauchecorne einzutreten, dessen Schwiegersohn er schließlich geworden war.
»Herr Baudu?« entschloß sich Denise endlich den dicken Herrn zu fragen, der sie noch immer verwundert betrachtete.
»Der bin ich!« lautete die Antwort.
Denise errötete und fügte stotternd hinzu:
»Ah, um so besser!… Ich bin Denise, und das ist Jean und das Pépé… Wie Sie sehen, sind wir gekommen, lieber Onkel.«
Baudu schien höchlichst betroffen. Seine großen, geröteten Augen flackerten in seinem gelblichen Gesicht, seine zögernden Worte zeigten seine Verwirrung. Er war offenbar tausend Meilen weit von dieser Familie entfernt, die ihm so unvermutet in seinen Laden fiel.
»Was, ihr hier?« wiederholte er mehrmals. »Aber ihr wart doch in Valognes! Warum seid ihr denn nicht dortgeblieben?«
Mit ihrer weichen, etwas zitternden Stimme erklärte sie ihm alles. Nach dem Tod ihres Vaters, der in seiner Färberei alles verwirtschaftet hatte, war sie gleichsam als die Mutter der beiden Kinder zurückgeblieben. Was sie bei Cornaille verdiente, reichte nicht hin, um alle drei zu ernähren. Jean arbeitete zwar bei einem Kunsttischler, der sich mit dem Aufarbeiten antiker Möbel beschäftigte, aber er verdiente keinen Sou dabei. Dagegen gewann er Geschmack an alten Dingen und begann Figuren aus Holz zu schnitzen. Eines Tages fand er irgendwo ein Stück Elfenbein und machte einen Kopf daraus; diese Arbeit gefiel einem vorübergehenden Herrn dermaßen, daß er den Geschwistern wenig später zuredete, nach Paris zu gehen, wo er für Jean einen Platz bei einem Elfenbeinschnitzer gefunden hatte.
»Jean fängt also morgen bei seinem neuen Lehrherrn an«, schloß Denise. »Ich brauche kein Lehrgeld zu bezahlen, Kost und Wohnung hat er frei. Ich dachte mir, daß ich und Pépé schon irgendwie unser Fortkommen finden werden. Schlimmer als in Valognes kann es uns doch hier nicht gehen.«
Eines allerdings verschwieg sie: eine Liebesgeschichte Jeans. Er hatte an ein junges Mädchen, die Tochter einer adeligen Familie der Stadt, Briefe geschrieben und über eine Mauer hinweg Küsse mit ihr ausgetauscht. Daraus war ein kleiner Skandal entstanden, der sie bestimmt hatte, Valognes zu verlassen. Sie begleitete ihren Bruder hauptsächlich nach Paris, um über ihn zu wachen; denn ihr Herz war von wahrhaft mütterlicher Besorgnis erfüllt, wenn sie diesen schönen und munteren Jungen sah, den alle Frauen anhimmelten.
Onkel Baudu konnte sich noch immer nicht fassen. Er begann wieder zu fragen.
»Hat denn dein Vater euch nichts hinterlassen? Ich dachte, er habe einen Sparpfennig. Ich habe ihm in meinen Briefen oft genug geraten, diese Färberei nicht zu übernehmen. Ein gutes Herz, aber nicht für zwei Sou Verstand! … Und du bist mit diesen Jungen zurückgeblieben und hast sie versorgen müssen?!«
Sein galliges Gesicht belebte sich; er sah nicht mehr so finster drein wie vorhin, als er das »Paradies der Damen« betrachtet hatte. Plötzlich bemerkte er, daß er den Eingang verstellte.
»So kommt herein«, rief er, »wenn ihr schon hier seid! Kommt herein, das ist gescheiter, als vor den Dummheiten dort drüben Maulaffen feilzubieten.«
Nach einem letzten Zornesblick auf das Geschäft gegenüber machte er den Kindern Platz, so daß sie eintreten konnten. Zugleich rief er Frau und Tochter.
»Elisabeth, Geneviève! Kommt, hier sind Gäste für euch!«
Aber Denise und die beiden Jungen zögerten angesichts des dunklen Ladens. Noch geblendet vom hellen Licht der Straße, blinzelten sie mit den Augen, tasteten sich mit den Füßen voran und rückten enger zusammen.
»Kommt, kommt!« wiederholte Baudu seine Einladung.
Er klärte Frau und Tochter in kurzen Worten auf. Frau Baudu war sehr blaß, offenbar bleichsüchtig, mit grauen Haaren, farblosen Augen und blutleeren Lippen; Genevieve, bei der sich die Krankheit ihrer Mutter noch deutlicher zeigte, war gebrechlich und farblos wie eine im Schatten aufgewachsene Pflanze. Nur eine Fülle von prächtigen schwarzen Haaren verlieh ihr einen etwas schwermütigen Reiz.
»Kommt herein!« sagten nun auch die beiden Frauen. »Seid willkommen!«
Sie ließen Denise hinter einem Ladentisch Platz nehmen. Pépé setzte sich sogleich auf ihre Knie, während Jean, an einen Schrank gelehnt, neben ihr stand. Sie wurden allmählich sicherer und blickten im Laden umher, an dessen Dunkelheit sich ihre Augen langsam gewöhnten. Düstere Warenballen türmten sich bis zur Decke empor. Der Geruch der Tücher und Stoffe wurde durch die Feuchtigkeit des Fußbodens noch verstärkt. Zwei Gehilfen und eine Verkäuferin waren im Hintergrund damit beschäftigt, weißen Flanell fortzuräumen.
»Der kleine Herr da möchte vielleicht etwas essen?« sagte Frau Baudu und wies lächelnd auf Pépé.
»Nein, danke«, erwiderte Denise; »wir haben in einem Cafehaus vor dem Bahnhof eine Tasse Milch getrunken.«
Als sie merkte, daß Genevieve aufmerksam das leichte Bündel betrachtete, das sie neben sich auf den Boden gelegt hatte, fügte sie hinzu:
»Ich habe den Koffer auf dem Bahnhof gelassen.«
Sie errötete, denn ihr wurde nun klar, daß man den Leuten nicht in dieser Weise mit der Tür ins Haus fallen durfte. Schon in der Eisenbahn hatte sie gleich nach der Abfahrt von Valognes Gewissensbisse empfunden; darum hatte sie auch ihren Koffer auf dem Bahnhof zurückgelassen und den Kindern vor der Stadt draußen ein Frühstück geben lassen.
»Nun wollen wir einmal kurz und in aller Offenheit miteinander reden«, sagte Baudu mit einemmal. »Ich habe dir geschrieben, das ist wahr. Aber seither ist fast ein Jahr verflossen, und das Geschäft ging sehr schlecht, mein Kind… «
Er hielt inne, von einem Gefühl erfaßt, das er sich nicht anmerken lassen wollte. Frau Baudu und Geneviève schlugen die Augen nieder.
»Es ist eine schwere Zeit, die vorübergehen wird«, fuhr der Onkel fort. »Da habe ich keine Sorge… Aber ich mußte mein Personal einschränken; es sind nur noch drei Angestellte da, und dies ist keineswegs der geeignete Zeitpunkt, jemand vierten einzustellen. Kurz: ich kann dich nicht ins Haus nehmen, wie ich es dir versprochen habe, mein armes Kind.«
Ganz blaß und bestürzt hatte Denise zugehört.
»Schon recht, Onkel!« stotterte sie endlich mühsam. »Ich werde mich bemühen, anderswo unterzukommen.«
Die Baudus waren keine schlechten Menschen. Aber sie klagten ständig darüber, daß sie niemals Glück gehabt hätten. Als das Geschäft noch gut ging, hatten sie fünf Söhne zu erziehen gehabt, von denen drei in jungen Jahren gestorben waren; der vierte war ein Taugenichts geworden, der fünfte als Hauptmann nach Mexiko gegangen. So blieb ihnen nur Geneviève. Alle Kinder hatten viel Geld gekostet, und den letzten Rest seines Kapitals hatte Baudu an den Kauf eines alten Hauses in Rambouillet gewendet, von wo seine Frau herstammte. Jetzt ärgerte er sich, daß ihm diese drei Kinder so ins Haus hereingeschneit kamen.
»Man muß sich doch anmelden«, sagte er, verdrossen über seine eigene Härte. »Du hättest mir einen Brief schicken können, und ich hätte dir geantwortet, daß ihr besser bleibt, wo ihr seid. Als dein Vater starb, habe ich dir freilich geschrieben, was man bei solchen Gelegenheiten schreibt. Und nun fallt ihr mir so unvermutet ins Haus, ohne vorher ein Wort zu sagen … «
Jean war blaß geworden. Denise drückte Pépé an sich; zwei schwere Tränen fielen auf ihre Hände, und sie wiederholte:
»Lassen Sie nur, Onkel; wir gehen schon.«
Es entstand ein verlegenes Schweigen. Dann sagte er in mürrischem Ton:
»Ich will euch ja nicht vor die Tür setzen. Da ihr einmal hier seid, werdet ihr bei uns übernachten; dann werden wir weitersehen.«
Frau Baudu und Genevieve entnahmen jetzt aus einem Blick des Familienoberhauptes, daß sie sich um die Sache kümmern dürften. Alles wurde geregelt. Mit Jean brauche man sich nicht weiter zu beschäftigen, hieß es, da er ja schon am folgenden Tag in die Lehre gehen wolle. Pépé wäre bei Frau Gras sehr gut aufgehoben, einer alten Frau, die in der Rue des Orties eine geräumige Erdgeschoßwohnung besaß und Kinder unter zehn Jahren für vierzig Franken monatlich in volle Verpflegung nahm. Denise bemerkte, sie habe genügend Geld, um für den ersten Monat die Pension zu bezahlen. Es handel...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kapitel 1
  3. Kapitel 2
  4. Kapitel 3
  5. Kapitel 4
  6. Kapitel 5
  7. Kapitel 6
  8. Kapitel 7
  9. Kapitel 8
  10. Kapitel 9
  11. Kapitel 10
  12. Kapitel 11
  13. Kapitel 12
  14. Kapitel 13
  15. Kapitel 14