1Die sprachliche Verfassbarkeit von Gesellschaft und Recht
Die Beschäftigung mit der Medialität, respektive der Sprachlichkeit des Rechts sui generis ist keine Erfindung der modernen Rechtslinguistik. Reflexionen darüber, auf welche Weise und warum Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sprachlich zu verfassen und zu verarbeiten sind, finden sich seit der Antike (vgl. unten). Gleichwohl ist dieser Frage in der bisherigen sprach- wie rechtshistorischen Forschung bislang nicht systematisch nachgegangen worden, mutmaßlich aus dreierlei Gründen: Erstens liegt der Großteil der rechtslinguistischen wie rechtshistorischen Forschungsbemühungen nach wie vor auf der Erschließung und Beschreibung der Rechts(sprach)geschichte selbst, einem Unterfangen, das – wie das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW) zeigt – noch zahlreiche Desiderata bereithält. Zweitens finden sich zu dieser metadiskursiven Frage kaum einschlägige Belege: entweder es liegen – wie im Falle mündlicher Rechtskulturen – keine schriftlichen Zeugnisse vor oder aber es lässt sich nicht eindeutig klären, inwiefern sich metasprachliche Äußerungen tatsächlich auf die Sprach- und nicht etwa auf die Sachebene beziehen. So bleiben in der Regel allein indirekte Quellen (also Äußerungen, die sich als Folge von metasprachlichen Reflexionen symptomatisch interpretieren lassen) als Grundlage für Schlussfolgerungen. Die folgenden historischen Ausführungen können daher nicht mehr sein als Schlaglichter und Orientierungspunkte zukünftiger Untersuchungen.
Eines der frühesten expliziten Zeugnisse für Reflexionen darüber, in welcher medialen Form über Gesellschaftsordnung und damit normative Zusammenhänge zu beraten sei, findet sich in Platons philosophischem Dialog Phaidros (274b-278e; 2011). Gegenstand des fiktiven, etwa im 4. Jh. v. Chr. entstandenen Dialogs zwischen Sokrates und dem Athener Phaidros ist die Frage, ob man über das Gute und Gerechte und damit letztlich auch etwa über die griechische Polis (Politeia) auch in Schriftform verhandeln, ob also die Schrift ein Medium der Erkenntnis sein könne (Schriftkritik). Sokrates (und mit ihm Platon) verneint dies: Die Schrift sei – gleich einem Adonisgärtchen – nur als Medium des schönen Spiels (Literatur) geschaffen, für Urteilsprozesse jedoch ungeeignet, da stumm und hilflos gegenüber argumentativen Angriffen oder Missverständnissen. Nur die lebendige Rede könne dialektische Erkenntnis vorantreiben (vgl. Szlezák 1985: 7–19, 386–405).
Das metadiskursive Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit spielt auch im Frühmittelalter bis in die Reformation hinein eine wichtige Rolle, insofern es für das rivalisierende kulturell-hegemoniale Verhältnis von (alter) römischer und (erstarkender) germanischer Gesellschaftsordnung und Rechtskultur bzw. allgemeiner zwischen lateinsprachiger Herrschafts- und ,volks‘-sprachiger Subalternenklasse steht.
Von einer solchen Auseinandersetzung zwischen lateinischer Schrift- und Rechtskultur und germanischer, v. a. auf Oralität basierender Rechtskultur zeugen indirekt schon die im 6. Jh. unter dem fränkischen König Chlodwig I. verfassten Malbergischen Glossen. Letztere sind keine Glossen im üblichen Sinne, sondern volkssprachige Zusätze (Bußweistümer) zur ersten, lateinischen Fassung der Pactus Legis Salicae und zählen zur ältesten Schicht der germanischen Rechtssprache (Roll 1972; Schmidt-Wiegand et al 1991; Schmidt-Wiegand 1998a: 76 f.)
Im Anschluss bemühte sich Karl der Große zwei Jahrhunderte später um eine Verschriftlichung mündlichen Rechts in Form der karolingischen Kapitularien und ordnete 802/3 an, die Richter mögen nunmehr nur noch nach geschriebenem Recht urteilen (ebd. 77).
Aus der gleichen Zeit (8./9. Jh.) sind auch zahlreiche Belege des Ausdrucks theodiscus dokumentiert (Jakobs 2011: 37 f.). Das Wort (lat. für ‚Volkssprache‘), das später auch einmal die Bedeutung ‚Deutsch‘ erhält, findet seinen Ursprung genetisch wie historisch in seiner „Affinität zum Recht“ (ebd.). Als „theodisca lingua“ dient es zur „Apostrophierung von Gerichts- und Rechtswörtern“ und dabei zur „Hervorhebung solcher verfahrensrechtlich wie für den Urteilsspruch belangvoller Wörter in den Volksrechten“. Alle Rechtswörter der lingua theodisca sind fränkische Wörter, akzentuieren im Wort den fränkischen Herrschaftsanspruch (sicut Franci dicunt) und verweisen auf eine auf Oralität gegründete Rechtserheblichkeit. (ebd.)
Im 13. Jh. schließt der bekannte, unter der Hand Eike von Repgows entstandene und vielfach kopierte Sachsenspiegel an die Motivation Karl des Großen an, indem er bislang rein mündlich tradierte, nicht-lateinische Rechtskultur des Landes Sachsen schriftlich für die Nachwelt fixiert und teilweise umfangreich bildhaft illustriert. Der Sachsenspiegel bildet erstmals einen spezifischen Fachwortschatz und eine Art Fachsyntax aus und begründet die neue Rechtsquellen-Gattung der Rechtsbücher (1200–1500; vgl. Schmidt-Wiegand 1998a: 80 ff.). Letztere sollten das Recht nicht nur erhalten. Vielmehr sind die Rechtsbücher Teil der Bestrebungen, Rechtstexte aus dem Lateinischen volksnäher und für einen größeren Adressatenkreis allgemeinverständlich zu machen. (Deutsch 2013: 35 ff.) Sie zeugen indirekt von einer sehr frühen Reflexion über Sprache als Vermittlungsinstanz zwischen Rechtssystem (das ansonsten nur Gelehrten zur Verfügung stand) und Rechtspraxis (der alle Subalternen angehörten).
Versteht man Religion und Kirche als zentrale Institution der Gesellschaftsordnung und als einflussreiche Instanz der gesamten Rechtskultur, so ist auch die Reformation ein wichtiges diskursives Schlachtfeld um die sprachliche Verfassung von Normen und ihren Geltungsraum im 16./17. Jh. Martin Luther wollte das Testament durch Übersetzung aus dem Lateinischen nicht nur allgemeinverständlich machen. Durch das Sola-scriptura-Prinzip wertete er das Evangelium in der reformatorischen Theologie auf und löste ihre Schrift von der Deutungshoheit von Papst und Konzilien (Blickle 2000: 52 ff.). Nunmehr konnte und sollte sich jeder selbst ein Bild von der gottgewollten Ordnung des Lebens machen können, wenn auch immer am Maßstab des Bibeltextes. Diese Autorität der Schrift (das verbum externum) lehnte Thomas Müntzer in seiner „Antithetik von Schrift und Geist“ (ebd. 76) wiederum ab und setzte an ihrer statt die individuelle Gotteserfahrung (verbum internum) dominant. Für Müntzer war Schrift ohne Geist tot, der Geist ohne Schrift aber durchaus lebensfähig.
Im 17. und 18. Jh. entwickeln sich sprachpatriotische sowie aufklärerische Motive, die – nunmehr vor allem schriftliche – Verfasstheit des Rechts zu diskutieren.
Zwar findet sich eine Schelte der Juristensprache schon im ackermann aus Böhmen des Prager Notars Johannes von Tepl (um 1400) oder bei Luther, eine systematische, kulturpatriotisch gerahmte Sprachpflege und mit ihr Bemühungen um eine deutsche Hochsprache entstehen aber erst im 17. Jh. (Schmidt-Wiegand 1998b: 90; von Polenz 2013: 117 ff.). Maßgeblich treibende Kraft bildeten hierbei verschiedene Sprachgesellschaften wie die Fruchtbringende Gesellschaft (sog. „Palmenorden“, 1617–1680). Zahlreiche ihrer Mitglieder waren Juristen („Dichterjuristen“), die sich um eine kulturpolitisch idealisierte reine deutsche Sprache bemühten. Ziel war die Befreiung des Deutschen von fremd(sprachlich)en Einflüssen und die Eindeutschung lateinischer oder französischer Wörter. Teilweise nachhaltigen Einfluss auf die Rechtssprache hatten hierbei etwa Justus Georg Schottelius (1612–1676) sowie der Gründer der Teutsch-gesinnten Genossenschaft, Philipp von Zesen (1619–1689). (Schmidt-Wiegand 1998b: 91)
Im Kontext aufklärerischer Sprachreflexion hielt der Jurist und Philosoph Christian Thomasius (1655–1728) im Jahre 1687 in Leipzig seine erste Vorlesung in deutscher Sprache und ebnete den Weg zu einer deutschen Rechtssprache auch im Bereich der Wissenschaft (Thomasius 1699). Sein Schüler Christian Wolff (1679–1754) entwickelte zahlreiche juristische Definitionen und gebrauchsstabile termini technici im Bemühen um „Klarheit und Durchsichtigkeit der Juristensprache auf Grund logisch-definierter Begriffe in einer widerspruchsfreien Begriffspyramide“ (Schmidt-Wiegand 1998b: 92; König 2001). Montesquieu (1689–1755) forderte 1748 im Sinne der Vernunftlehre einen knappen Stil und Verständlichkeit als Grundlage für vernünftiges Denken (Schmidt-Wiegand 1998b: ebd.). Besonderen Einfluss hatte auch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) als Präsident der Sozietät der Wissenschaften in Preußen und seiner Initiative zur Reinhaltung der deutschen Sprache. Unter der Generalinspektion (11.07.1700) des Kurfürsten von Brandenburg, Friedrich III., bemühte er sich um eine Inventur der aktuellen und eine Sammlung historischer Rechtswörter und motivierte in seiner Folge die Entstehung zahlreicher Nachschlagewerke zur Rechtssprache. (Kronauer/Garber 2001: 1; Gardt 2001)
Ziel der Aufklärer waren vor allem allgemeinverständliche Gesetze (etwa in Form des Preußischen Allgemeinen Landrechts), damit auch juristische Laien Recht von Unrecht unterscheiden könnten (Deutsch 2013: 60). Die Bedeutung von Sprache und Sprachgeschichte auch für die juristische Methodik (zu ihrer Reflexion vgl. Bühler 2001) erkannte schließlich Friedrich Carl von Savigny (1779–1861). Der Begründer der historischen Rechtsschule konstatierte, „das Recht wie die Sprache [lebe] im Bewußtſeyn des Volkes“ (ähnlich schon Johann Gottfried Herder, vgl. Schmidt-Wiegand 1998a: 73) und fragte
jeden, der für würdigen, angemeſſenen Ausdruck Sinn hat, und der die Sprache nicht als eine gemeine Geräthſchaft, ſondern als Kunſtmittel betrachtet, ob wir eine Sprache haben, in welcher ein Geſetzbuch geſchrieben werden könnte. (von Savigny 1814: 52)
Eine Reformierung der Behörden- und Amtssprache wurde – vor allem durch den Wiener Juristen Joseph von Sonnenfels (1732–1817) sowie den Bibliothekar und Sprachforscher Johann Christoph Adelung (1732–1806) angetrieben – unter dem Leitbegriff Geschäftsstil verhandelt. (Asmuth 2013) Sonnenfels und Adelung entwickelten in Abgrenzung zum verpönten älteren ‚barbarischen‘ Kanzleistil des 15. Jh. (Adelung 1785: 82) Lehrbücher für die Abfassung von Behördentexten wie Bescheide, Protokolle, Bittschriften usw. Ein wohlgeformter Geschäftsstil folge nach Sonnenfels in Anlehnung an die virtutes elocutionis der antiken Rhetorik den Prinzipien der Deutlichkeit, Richtigkeit, Kürze, des Anstands sowie der Schmucklosigkeit (Asmuth 2013: 86). Die Stillehren der beiden wirkten stark in die juristische und Verwaltungsausbildung sowie – mit Sonnenfels als Redaktor – bis in die Gesetzesredaktion unter Joseph II. hinein (vgl. Kocher 2013: 211).
Anfang des 19. Jh. entwickeln sich erste lexikographische und grammatische Ansätze zur systematischen Beschreibung der Rechtssprache. Allen voran und durch Prägung seines Lehrers Savigny untersuchte Jacob Grimm (1785–1863) das historische Verhältnis von Recht und Sprache (Grimm 1815/1972) und entwickelte mit Blick auf Wörter, Formeln, Symbole u. a. eine erste Grammatik des Rechts (Grimm 1828/1899; vgl. Schmidt-Wiegand 1998a: 73 f.). Die ebenfalls von Jacob Grimm herausgegebenen Weisthümer (1840–1878/1957) bilden eine für empirische Zwecke systematische Sammlung jener historischen Rechtsquellen, die ansonsten nur durch rechtskundige Personen mündlich überlieferte Rechtstraditionen dokumentieren.
Die lexikographischen Arbeiten der Brüder Grimm legten die Grundlagen für die moderne, im Fächerkanon etablierte Rechtslexikographie (zur – weithin unerforschten – Fachgeschichte der Rechtslexikographie vgl. Speer 1989). Zu zentralen Nachfolgeprojekten zählen insb. das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW, 1896/97; ebd. sowie Deutsch 2010) sowie das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG, 1971–).