1Ein Tempelstreit
Quelle: ZS1, S. 1–17, dort mit Verweis auf die Quelle: Die Welt, Nr. 2, 1897 (= Die Welt, 11.6.1897, H. 2, S. 1–4).
Tempelstreit: Tempel, Bez. für die Reformsynagogen im 19. Jh. Der Israelitische Tempel in Hamburg ist die Synagoge des 1817 gegründeten liberalen Neuen Israelitischen Tempel-Vereins, die Weihe des Tempels erfolgt am 18.10.1818. Auf das Ziel des Wiederaufbaus des namensgebenden, zerstörten Zweiten Tempels in Jerusalem wird zugunsten eines Tempels vor Ort verzichtet. Der erste Hamburger Tempelstreit entfacht sich 1819 an der Veröffentlichung eines neuen Gebetbuchs, das die Änderungen in Liturgie u. Ritus der Reformjuden festhält; diese werden vom orthodoxen Judentum abgelehnt.
Dr. M. Güdemann: Moritz Güdemann (1835–1918), dt. Kunsthistoriker u. Rabbiner. Ab 1862 Tätigkeit als Rabbiner in Magdeburg, ab 1866 in Wien, ab 1896 dort in der Funktion des Oberrabbiners. Hauptanliegen G.s ist die Vermittlung einer Gotteserkenntnislehre, die für ihn die Basis des Judentums darstellt. In seinem Werk Nationaljudenthum (1897) spricht er sich gegen solche zionistischen Tendenzen aus, die im Judentum dem Religiösen weniger Aufmerksamkeit schenken als dem Nationalpolitischen. Werke u. a. Das jüdische Unterrichtswesen während der spanisch-arabischen Periode (1873), Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit (3 Bde., 1880–1888), Das Judenthum in seinen Grundzügen und nach seinen geschichtlichen Grundlagen dargestellt (1902) u. Jüdische Apologetik (1906).
„Nationaljudentum“: Moritz Güdemann (1835–1918) veröffentlicht die antizionistische Schrift Nationaljudenthum (Leipzig/Wien) 1897. Da durch die Zerstörung des Zweiten Tempels das Judentum als Nation nicht mehr existiere, stehe der Zionismus im Widerspruch zum Judentum als Religion. Dem Judentum als dem Volk Gottes fällt G. zufolge als Weltreligion die Aufgabe zu, eine histor. Mission zu erfüllen: Die jüdische ‚Volksseele‘ stehe in unlösbarer Verbindung mit dem Gottesbegriff u. definiere so ihre Stellung zu den übrigen Völkern.
Jerichorose: Auch Rose von Jericho o. Auferstehungspflanze. In der Kulturgeschichte zunächst als Wunder angesehen, zeichnet sich die J. durch ihre hygroskopisch basierte Formveränderung aus, nach der sich ihre Blätter bei Trockenheit ein- u. bei Feuchtigkeit wieder entrollen.
Einfluss jäh schwankender entgegengesetzter Stimmungen: N. fingiert in einer rhetor. Frage mit polem. Tendenz bei Moritz Güdemann (1835–1918) eine Stimmungs- o. Affektlabilität, die sich negativ auf dessen Urteilsvermögen auswirken könnte.
Nationalen: Die Begriffe ‚Nation‘ u. ‚Nationalstaat‘ stammen aus der Neuzeit. Seit dem ausgehenden 18. Jh. sind sie bedeutende Kategorien der europä. geprägten Politik. Am 4.7.1776 erfolgt mit der Declaration of Independence die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten v. Amerika v. Großbritannien. Mit der Frz. Revolution 1789 hebt Frankreich als Nation die ständische Ordnung u. die Monarchie auf. Im Zuge des Risorgimento wird am 6.10.1870 die Einigung Italiens vollzogen. Das Deutsche Reich wird am 18.1.1871 durch die Kaiserproklamation in Versailles gegründet.
Thora: Im Judentum polysemantischer Begriff. Zunächst bez. er ein allgemeines, durch Priester o. Eltern angewiesenes Gesetz. Weiterhin umfasst der Begriff die T. als Schriftrolle, die sog. Sefer Thora. Die in ihr enthaltenen Fünf Bücher Mose werden in der Synagoge im Thoraschrein aufbewahrt. Damit verbunden ist die dritte Verwendung des Begriffs T. als die direkt v. Moses empfangene Offenbarung. Dabei unterscheidet das rabbinische Judentum zw. einer sog. Schriftl. Thora (Pentateuch) u. einer sog. Mündl. Thora, die in Mischna u. Talmud konserviert, aber gleichfalls durch jüdische Geistliche kolportiert wird. Die T. ist auch als allgemeines Weltgesetz o. Schöpfungsplan zu verstehen.
Propheten: Das Judentum beruft sich auf mehrere Propheten, die den Gehorsam Israels gegenüber Gott predigen. Als deren Vorbilder werden Abraham u. Moses angesehen. Ein Grundpfeiler der jüdischen Prophetie ist die Herstellung sozialer Gerechtigkeit (Prophet Amos). Der Aufbau des Tanach lässt auf die prominente Stellung der Propheten im Judentum schließen; neben dem Gesetz (Thora) u. den Schriften (Ketuvim) ist ein Teil der jüdischen Bibel dem Wort u. den Lehren der Propheten (Nebiim) vorbehalten.
Juden in Babylon: Der Aufenthalt der Juden in Babylon wird gemeinhin als „Babylonisches Exil“ bzw. als „Babylonische Gefangenschaft“ bezeichnet. Nachdem Juda u. Jerusalem unter den Königen Jojachin (597 v. Chr.) u. Zidkija (587/586 v. Chr.) v. Nebukadnezar II. (um 640–562 v. Chr.) erobert worden sind, werden Juden/Judäer n. Babylonien deportiert. Ab 520 v. Chr. kommt es zur Rückkehr, was zum Wiederaufbau u. der Neuweihe des Tempels in Jerusalem (515 v. Chr.) führt. Dennnoch bleibt auf babylon. Gebiet eine Gemeinschaft jüdischer Exilanten bestehen, die für die Genese des Judentums wichtige theolog. Ideen liefert.
Diaspora: Griech. διασπορά, dt.: „Zerstreuung“. Hinsichtl. des Judentums bez. D. alle außerhalb Israels lebenden Juden. In amplifizierter Begriffsdefinition beschreibt D. eine konfessionelle, nationale o. religiöse verstreute Minderheit sowie das Gebiet, das diese Minderheit bewohnt.
Kampf ums Dasein: Die Wendung geht auf den Titel der epochemachenden wissenschaftl. Abhandlung On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859) des brit. Evolutionsbiologen Charles Robert Darwin (1809–1882) zurück. Darin beschreibt D. die Evolution als langen Prozess der Anpassung an den Lebensraum durch Variation u. natürl. Auslese. Der Ausdruck struggle for life u. seine dt. Übersetzung avancieren Ende des 19. Jh.s zum Schlagwort u. werden u. a. in zeitgenöss. Rassentheorien instrumentalisiert.
Ansiedlung im Lande ihrer Vorfahren: Mit dem Sieg über die Mameluken fällt 1516 Palästina an die Osmanen u. bleibt bis zum Ende des 1. Weltkriegs Teil des Osman. Reiches. Ab den 1880er Jahren wächst der jüdische Bevölkerungsanteil Palästinas im Zuge der Verbreitung zionistischer Ideen u. der Gründung jüdischer Siedlungen.
Dr. Theodor Herzl: Ung. Herzl Tivadar, hebr. Vornamen Binyamin Ze'ev (1860–1904), österr. Schriftsteller, Jurist u. Journalist. Ab 1878 Studium der Rechtswissenschaft in Wien, 1891–96 feuilletonist. Korrespondent für die Wiener Neue Freie Presse in Paris. Die sog. Dreyfus-Affäre in Frankreich um den jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) lässt in H. die Überzeugung v. der Notwendigkeit eines jüdischen Nationalstaates reifen. Diese formuliert er in seinem Werk Der Judenstaat (1896) u. fördert damit essenziell die Entstehung des polit. Zionismus. 1897 Publikation des Theaterstücks Das neue Ghetto. Mit N. zusammen organisiert H. im selben Jahr in Basel den ersten Zionistischen Weltkongress, dessen Vorsitz er übernimmt u. auf dem das Baseler Programm verabschiedet wird, das die Grundlage für Verhandlungen um eine gesicherte „Heimstätte des jüdischen Volkes“ bildet. Durch die Gründung des Jewish Colonial Trust (1899) u. (zus. mit Zalman David Levontin (1856–1940)) der Anglo Palestine Company wirbt H. um finanzielle Mittel, die zum Kauf v. Territorien in Palästina verwendet werden sollen. Zur Lebensgeschichte H.s siehe Nachwort.
Dr. Bloch's „Oesterr. Wochenschrift“: Dr. Bloch's Oesterreichische Wochenschrift, v. dem Rabbiner, Publizisten u. Abgeordneten des österr. Parlaments Joseph Samuel Bloch (1850–1923) in Wien hrsg. Wochenschrift (1884–1920). Untertitel: Centralorgan für die gesammten Interessen des Judenthums. B. gilt als einer der bekanntesten Kämpfer gegen den wachsenden Antisemitismus in Österreich-Ungarn, der als Reichsratsabgeordneter gegen dessen Repräsentanten prozessiert. Aufgrund seiner publizist. Aktivitäten ist er in mehrere aufsehenerregende Beleidigungsprozesse verwickelt. Er befürwortet prinzipiell die zionistischen Kolonisationspläne in Palästina, übt allerdings häufig scharfe Kritik wg. fehlerhafter Umsetzung des zionistischen Programms. Die Oe. W. dient als Publikationsorgan, das sich v. a. gegen die das antisemitische Potential ausnutzende Christlichsoziale Partei des Wiener Bürgermeisters (ab 1897) Karl Lueger (1844–1910) wendet. Gleichzeitig zeichnet sich die Oe. W. durch ihre krit. Begleitung des aufkommenden polit. Zionismus aus.
Anführungen aus den kanonischen und auslegenden Schriften: Kanonisch, v. griech. κανονικός, dt.: „nach der Regel gemacht“, „regelmäßig“, zu griech. κανών, dt.: „Richtschnur“, „Messstab“. Der Kanon heiliger Schriften der hebr. Bibel umfasst die drei Hauptelemente Thora (dt.: „Gesetz“), Propheten (hebr. Newiim) u. Schriften (Hagiografen; hebr. Ketuvim) u. wird als Akronym nach den Anfangsbuchstaben TaNaKh (Tanach, auch: Tenach) genannt. Die auslegenden Schriften sind der Talmud (hebr., dt.: „Lernen“, „Lehre“, „Studium“) mit der Sammlung der Ausführungen, Diskussionen, Glossen u. Kommentare zu den kanon. Schriften.
Zerstörung des zweiten Tempels: Im 10. Jh. v. Chr. wird der Erste Tempel in Jerusalem durch König Salomon errichtet. In ihm ist mit Bundeslade u. Cherubim das Allerheiligste lokalisiert. Der Erste Tempel wird 587/586 v. Chr. zerstört. Der Zweite Tempel entsteht zw. 520 u. 516 v. Chr. u. wird regelmäßig umgebaut, zuletzt unter der Regentschaft Herodes' um 20 v. Chr. Zerstörung 70 n. Chr. Die Relevanz des Tempels manifestiert sich am jüdischen Fast- u. Trauertag am neunten Tag des Monats Aw (Juli/August), an dem der Zerstörung des Tempels gedacht u. für seinen Wiederaufbau gebetet wird. Die noch heute in Jerusalem stehende Westmauer des T. konstituiert die sog. „Klagemauer“.
Zion: Auch Sion, nach 2 Sam 5,6 ff. zunächst Begriff für die v. David eroberte Festung des vorisraelit. Jerusalems, dann in israelit. Zeit Bez. für den Tempelbezirk Jerusalems, ganz Jerusalem bzw. für das Volk Israel. In der Zeit nach der Zerstörung des Tempels wiederum Name des Südwestflügels Jerusalems als Stadt Davids. Die Zionspsalmen des Alten Testaments preisen Z. als Wohnsitz Gottes...