1Gegenstand und Fragestellung
Das Franco-Regime bewies bereits früh ein außerordentliches Interesse an der Institutionalisierung und Inszenierung einer eigenen, vom Erbe der Junta differierenden, „glorreichen Wissenschaftstradition“.19 Wenige Monate nach der Siegeserklärung wurde per Dekret eine neue Einrichtung ins Leben gerufen, die die Junta ablöste und bis in die 1960er Jahre das leitende wissenschaftspolitische Organ werden sollte. Der „Oberste Forschungsrat“ (Consejo Superior de Investigaciones Científicas, im Folgenden Consejo bzw. CSIC) erhielt dabei einen doppelten Auftrag: Einerseits sollte er die Funktion einer wissenschaftspolitischen Schaltstelle einnehmen, die über die Förderung von Forschungsvorhaben und ihre Koordination entschied. Andererseits beherbergte diese Einrichtung bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung zahlreiche Institute, die sämtliche Wissenszweige abdeckten und über landesweit verteilte Sektionen verfügten. Die Gründung eines solchen Forschungsrats folgte durchaus einem internationalen Trend. Etwa zeitgleich mit dem französischen Centre national de la recherche scientifique (1940) gegründet, stellte der Consejo einen Versuch dar, an den wissenschaftspolitischen Entwicklungen auf internationaler Ebene teilzuhaben, ohne die nationalen Spezifika aufzugeben. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (1911) und die NDW (1920) bzw. DFG (1929), der Consiglio Nazionale delle Ricerche (1923) sowie die in den 1920er Jahren gegründeten britischen Research Councils gaben den Impuls für eine Entwicklung, die staatliche Wissenschaftsförderung und nationale Interessensverfolgung engmiteinander verband.20 In diesem Sinne stellte die spanische Initiative keine Besonderheit dar.
Der CSIC besaß dennoch Eigenschaften, die ihn im internationalen Vergleich – mit Ausnahme der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften – einzigartig machten.21 Erstens erhielt er eine symbolische Aufladung, die sich sowohl in der Organisation als auch in den institutseigenen Symbolen und Ritualen ausdrückte. In jährlich stattfindenden Plenarversammlungen traten Wissenschaftshonoratioren sowie Vertreter aus Politik, Kirche und Militär zusammen, um die Zäsur zur Vorkriegszeit zu inszenieren und den Aufbruch in eine neue Ära der ‚spanischen Wissenschaft‘ sprichwörtlich auf die Bühne zu bringen. Jenseits seines Lenkungs-, Koordinations- und Forschungsauftrags erfüllte der Consejo zuallererst eine Funktion als Symbolinstitution, und zwar in zweifacher Hinsicht: Er war einerseits als Institution entlang eines bestimmten symbolischen Haushalts aufgebaut, der auf einen spanischen Weg abseits der technisch-industriellen Moderne verwies, und dennoch versuchte, den „Erfordernissen der Moderne“22 gerecht zu werden. Andererseits wurde er zum pars pro toto der Wissenschaft in dem Sinne, als er zum bevorzugten Gegenstand für Diagnosen zum Stand der ciencia española im Allgemeinen herangezogen wurde. Gerade vor dem Hintergrund eines längst etablierten Forschungsfeldes, das nach dem Verhältnis von Wissenschaftsdiskursen und der Konstruktion von Nationalidentitäten fragt, ist der CSIC bereits aufgrund seiner nationalen Gewichtung und symbolischen Aufladung ein bemerkenswerter Fall.23
In dieser Symbolfunktion lag auch der Grund für seine Entstehung: Es ist bezeichnend, dass er, zweitens, von einer Elite katholischer Intellektueller, Wissenschaftler und Politiker entworfen, institutionalisiert und geleitet wurde. Der CSIC sollte den Bruch mit dem liberal-laizistischen Erbe inszenieren und die spanische Wissenschaft zurück auf den Pfad der „christlichen Einheit“ bringen, die, so das Gründungsgesetz, „im 18. Jahrhundert zerstört“ worden war.24 Der Consejo symbolisierte in seiner Gründungsphase die Rückeroberung der Wissenschaft im Geiste eines Katholizismus, der für sich in Anspruch nahm, seit jeher die Geschichte und das Wesen der Nation bestimmt zu haben.25 Diese Konstruktion einer ‚Wissenschaftstradition‘ lässt sich zwar auch in anderen Kontexten beobachten;26 singulär ist in diesem Fall allerdings, dass eine neu gegründete Wissenschaftsinstitution in der Mitte des 20. Jahrhunderts symbolisch Bezug auf ein voraufklärerisches und vorindustrielles Zeitalter nahm.
Die vorliegende Arbeit wird am Beispiel des Consejo Superior de Investigaciones Científicas die Geschichte der Wissenschaftspolitik unter dem Franco-Regime untersuchen und nach ihrem Verhältnis zu nationalhistorisch artikulierten Wissenschafts- und Modernediskursen fragen. Dabei möchte sie der doppelten Dimension des CSIC gerecht werden: Als Symbolinstitution der spanischen Wissenschaft einerseits, die in den ersten Jahren der Diktatur auf das Postulat der „christlichen Einheit“ aufbaute, sich aber dann im Laufe der 1950er und 1960er Jahren einem Begriff der Wissenschaft als Naturwissenschaft und Technik zuwandte. Auf der anderen Seite wird der Consejo aber auch als Institution verstanden, in der wissenschaftspolitische Entscheidungen zugunsten oder eben zuungunsten bestimmter Forschungszweige getroffen wurden. Gerade der Blick auf eine Ökonomie wissenschaftspolitischer Aufmerksamkeit, die explizit zwischen ‚Geist‘ und ‚Technik‘, ‚nationaler Tradition‘ und ‚fremder Moderne‘ unterschied, erweist sich als besonders fruchtbar. Während die Wissenschaftspolitik des Franco-Regimes anfangs die Geisteswissenschaften als wahrlich ‚spanische‘ Wissenszweige förderte, privilegierte sie später zunehmend die naturwissenschaftlichen und vor allem die technischen Forschungszweige und eignete sich so eine noch in den 1940er Jahren als ‚fremd‘ begriffene Moderne an – eine Aneignung, die vor dem Hintergrund der politischen Isolation, in die die franquistische Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg geriet, nicht zuletzt auch einen politischen Zweck erfüllte.
Auf einer zweiten Ebene werden die Auswirkungen dieser wissenschaftspolitischen Aufmerksamkeitsverschiebung auf die Wissensproduktion und die Verteilung der Ressourcen Gegenstand der Analyse sein. In einer Fallstudie wird die Geschichtswissenschaft untersucht, deren Status sich zwischen 1939 und Mitte der 1960er Jahre entscheidend änderte. Wie kaum eine andere Disziplin erfüllte sie in den ersten Jahren der Diktatur die Funktion einer Legitimationswissenschaft.27 In einem Kontext, in dem die „symbolische Konstruktion“28 des gesamten Nuevo Estado auf ein Zeitalter der Katholizität und imperialen Größe verwies, (re)produzierte die Geschichtswissenschaft ein national-katholisches Narrativ, das auf das 15. und 16. Jahrhundert, auf die Katholische Monarchie und auf das überseeische Imperium blickte und sich abseits der technisch-industriellen Moderne abspielte. Allerdings konnte die Geschichtswissenschaft diese Vorrangstellung nicht allzu lange behaupten. So vollzog sich der wissenschaftspolitische Wandel auf Kosten der ‚spanischen Wissenschaftstradition‘ und der aus ihr hervorgehenden Hierarchie der Forschungszweige. Die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die Geschichtswissenschaft im Speziellen büßten ihren ehemals privilegierten Status ein, was sich auf allen Ebenen der Förderung niederschlug und zu gescheiterten Projekten, frustrierten Karrieren und enttäuschten Erwartungen führte. Im Laufe der 1950er Jahre eröffnete sich dadurch ein Deutungsvakuum, das insbesondere die Neuverortung der Geschichte Spaniens in der technisch-industriellen Moderne betraf.
Diese Problemlage wird am Beispiel des historischen Instituts des Consejo und seines intellektuellen Umfelds untersucht. Im Mittelpunkt der Analyse steht dabei die akademische und intellektuelle Biografie des katalanischen Wirtschafts- und Sozialhistorikers Jaume Vicens (1910 –1960) und der von ihm gegründeten Escola de Barcelona.29 Dass die Wahl gerade auf diesen Historiker und seinen Schülerkreis fällt, liegt vor allem darin begründet, dass er bis heute eine Identifikationsfigur darstellt und als ‚Modernisierer‘, ‚Europäisierer‘ und ‚Erneuerer‘ der spanischen Geschichtswissenschaft gilt. Vicens verkörpert in den meisten Rückblicken auf die Geschichte des eigenen Fachs den Beginn einer ‚Erneuerung‘ der spanischen Historiografie, die sich in dem Maße von der Wissenschaftspolitik und dem Franco-Regime selbst abwandte, wie sie sich seit Beginn der 1950er Jahre ‚verwissenschaftlichte‘ und das national-katholische Narrativ hinter sich ließ. Dabei tritt Jaume Vicens in den gängigen Deutungen aufgrund dreier Verdienste hervor. Erstens gilt der katalanische Historiker als Begründer einer spanischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die mit den kultur- und ideenhistorischen Perspektiven brach, die im historiografischen Feld der 1940er und 1950er Jahre dominierten. Dies habe er, zweitens, über eine Rezeption der französischen Annales-Strömung erreicht, die darüber hinaus die ‚Rückkehr‘ der spanischen Historiografie in die internationale Geschichtswissenschaft eingeläutet habe. Drittens wird Vicens als einer der ersten und wichtigsten Historiker aufgeführt, die die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Spaniens im 19. Jahrhundert zum Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung machte und dabei ihren ‚Rückstand‘ gegenüber ‚Europa‘ historisch problematisierte. Im Kontext dieser Deutung erscheint der katalanische Historiker als Teil einer „Modernisierung“ des Faches sowie einer „geistigen Liberalisierung“ und intellektuellen Befreiung von der Diktatur.30
Die akademische und intellektuelle Laufbahn des katalanischen Historikers wird allerdings nicht in der Absicht verfolgt, ihm die Qualität des ‚Erneuerers‘, ‚Europäisierers‘ oder ‚Modernisierers‘ zu- oder abzusprechen. Es wird darum gehen, die Genese dieser Zuschreibungen in den Kontext einer Biografie zu stellen, die sich nach 1939 gänzlich innerhalb der Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen des franquistischen Staates und zunehmend auch im Widerstreit mit diesen abspielte. Vicens’ Umgang mit einem sich verändernden intellektuellen und beruflichen Horizont, seine enttäuschten Erwartungen und gescheiterten Ambitionen, seine Konflikte mit dem CSIC und dessen akademischem Umfeld lassen sich nicht von seiner historiografischen Produktion trennen, in der er die Geschichte Spaniens in der technisch-industriellen Moderne als ‚Anomalie‘ innerhalb ‚Europas‘ zu beschreiben begann. Darüber hinaus arbeitete der katalanische Historiker für sich und seine Escola an einem Profil, das offensiv auf Begriffe wie Erneuerung, Wissenschaft und Europa aufbaute. Welche Diskurse sich hinter diesen Begriffen verbargen, wie sich ihre Semantik verschob und wie es dazu kam, dass Jaume Vicens und seine Escola noch unter dem Franco-Regime nicht nur als ‚Erneuerer‘, sondern auch als Gegner einer staatlich geförderten Historiografie Eingang in die facheigene Erinnerung erhielten, sind Fragen, die den zweiten Teil der Arbeit leiten werden.
2Konturierung, Perspektiven, Methoden
Die vorliegende Arbeit untersucht in einer Kombination aus makro- und mikrohistorischen Perspektiven das Verhältnis von franquistischer Wissenschaftspolitik, Geschichtswissenschaft und Narrativen der spanischen Geschichte. Dabei wird der Fokus auf zwei miteinander verflochtene Prozesse gelegt: Einerseits auf die Divergenz zwischen der (wissenschafts)politischen Sphäre und Teilen einer historischen Forschung, die alternative Deutungsangebote zu formulieren begann; andererseits auf den Übergang von einem Nationalnarrativ, das einen Weg abseits einer ‚fremden‘, technisch-industriellen Moderne postulierte, hin zu einem anderen, der diese Moderne als Pfad des ‚Fortschritts‘ verhandelte. Damit zielt die vorliegende Studie auf eine Kulturgeschichte der Wissenschaft in politikhistorischer Absicht. Die Analyse von Wissenschafts- und Technikdiskursen, symbolischen Ordnungen und historischen Narrativen, Strategien und Konflikten im Kampf um Ressourcen und Deutungshoheiten erlaubt es, Prozesse der inneren Auflösung, der Desintegration und des Deutungshoheitsverlusts des Franco-Regimes offenzulegen. Bevor jedoch das begriffliche Instrumentarium erläutert werden kann, das für die Analyse der Wirtschaftspolitik des Franco-Regimes, der geschichtswissenschaftlichen Produktion und des Verhältnisses zwischen beiden Ebenen herangezogen wird, müssen einige Präzisierungen hinsichtlich der verwendeten Begriffe sowie der Wahl der Untersuchungsgegenstände und des Zeitabschnitts vorgenommen werden.
Technisch-industrielle Moderne, Modernisierung, Europa, Wissenschaft: Die Tatsache, dass diese Begriffe bisher meist in Anführungsstrichen gesetzt wurden, liegt darin begründet, dass sie nicht Analyse-, sondern Quellenbegriffe darstellen. Es wird hier demnach nicht darum gehen, inwiefern der Consejo oder bestimmte Historiker zu einem Prozess der ‚Modernisierung‘ beitrugen, ‚Wissenschaft‘ oder ‚Pseudowissenschaft‘ produzierten oder Spanien auf einen Weg nach oder weg von ‚Europa‘ brachten. Diese Deutungskategorien besitzen vielmehr ihre eigene Geschichte und eine Semantik, die offen, umstritten und wandelbar war. Während die Quellen explizit von ‚Europa‘, ‚ciencia‘ und ‚modernidad‘ sprechen...