1Einleitung
Die Forschungsliteratur zu Komposita, insbesondere zu Fugenelementen ist so umfangreich, dass die Befürchtung naheliegt, das Thema sei schon lange „leergeforscht“. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird sich zeigen, dass dem mitnichten so ist: Auf diachroner Ebene hat man sich lange Zeit mit Einzelbelegen oder kleineren Untersuchungen begnügt, die es unmöglich machten, Entwicklungslinien zu erkennen. Das Deutsche gilt als „kompositionsfreudig“ (Schlücker 2012) und die Komposition als „springlebendig“ (Meineke 1991: 27). Dass das zu einem großen Teil dem Kompositionsmuster mit Fugenelementen zu verdanken ist, das sich im Frühneuhochdeutschen herausbildete, kann im Folgenden erstmals systematisch gezeigt werden.
Hauptziel der korpuslinguistischen Untersuchung ist es, die Entstehung des verfugenden Kompositionsmusters aus pränominalen Genitivkonstruktionen im Fmhd. zu beschreiben: Ausgangs- und Zielkonstruktionen sind zwar bekannt, welche Einflussfaktoren die Entwicklung prägen und welche relative Chronologie sie aufweist, ist bisher allerdings weitgehend ungeklärt. Beschreibungen wie die folgende von Wegera & Prell (2000: 1597) werden sich als teilweise unzutreffend erweisen:
Der Prozeß der ‚Univerbierung‘ verläuft häufig von der bloßen Kontaktstellung usueller, aber nicht fester Verbindungen (vgl. Okrajek 1966, passim) über lose (durch Doppelbindestrich) verbundene Zusammenschreibungen zu echten Komposita. Solange umfassende Untersuchungen hierzu ausstehen, kann keine Aussage zum jeweiligen Verständnis der zugrundeliegenden Einheit (Zusammenschreibung, Kompositum) gemacht werden (ansatzweise Pavlov 1983; Nitta 1987).
Ansätze zu einer konsequenten Anwendung morphologischer Produktivitätsmaße und -kriterien gab es im Bereich der Komposition bisher nicht.
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf dem späten Fnhd. und dem frühen Nhd. (1500–1710), wobei häufige Bezüge auf die gegenwartssprachliche Situation und damit verbundene kleinere Erhebungen unabdinglich sind. In Kap. 2 wird der Gegenstandbereich zunächst grob abgesteckt, die verwendete Terminologie und das damit verbundene Wortbildungsverständnis skizziert, bevor in Kap. 3 die verwendeten Korpora und Belegsammlungen vorstellt werden.
Es folgen zwei Kapitel zum Nhd., wobei stets diachrone Bezüge geschaffen werden: Kap. 4 gibt eine steckbriefartige Übersicht über die nhd. Fugenelemente, ihre Frequenz und ihre Distributionseigenschaften. Hier wird bereits deutlich, wie stark sie von historischen Flexionsklassenzugehörigkeiten geprägt sind. Im Anschluss daran (Kap. 5) wird das Konzept der Paradigmatizität diskutiert: Ein verfugendes Muster ist dann paradigmisch, wenn das Fugenelement formgleich mit einer Genitivform oder dem Nominativ Singular des Erstglieds ist. Paradigmatizität ist zum Verständnis des verfugenden Kompositionsmusters unentbehrlich: Zum einen zeigt sie die historischen Verhältnisse auf, denen es entstammt, zum anderen dient sie als Maß für die Eigenständigkeit und Produktivität der Fugenelemente. Es wird sich zudem zeigen, dass nicht nur die Unterscheidung nach paradigmisch/unparadigmisch relevant ist, sondern auch die nach semantisch gefüllt/semantisch leer: Zur Verankerung der Fugenelemente in der Wortbildung wird häufig herangezogen, dass sie, selbst wenn sie formal dem Flexionsparadigma entsprechen, semantisch keine Flexion anzeigen (z.B. Brille-n-etui *‚Etui für Brillen‘). Dabei muss jedoch nach Form differenziert werden: Obwohl Fugenelemente in den meisten Komposita tatsächlich keine semantische Funktion haben, lassen sich systematische Ausnahmen finden, abgrenzen und erklären.
Die nächsten Kapitel lassen sich drei Leitthemen unterordnen: Zunächst geht es darum, die für die Herausbildung des verfugenden Kompositionsmusters relevanten Phänomene und Konstruktionen zu beschreiben oder – im Falle der Komposita – überhaupt erst zu definieren und schließlich im Korpus zu analysieren. Dabei gilt es, die Eigenschaften und Veränderungen der fnhd. Nominalphrase herauszuarbeiten. Hier steht der Stellungswandel des attributiven Genitivs im Zentrum, dessen fnhd. Eigenschaften auch gegenüber dem Nhd. abgegrenzt werden müssen (Kap. 6). Kap. 7 widmet sich der Frage, was ein Kompositum ist. Was für das Nhd. nur an den Rändern strittig ist, erfordert im Fnhd. sorgfältiges Abwägen zahlreicher Faktoren, primär der Morphosyntax und Schreibung. Am Ende steht eine Arbeitsdefinition, mittels derer eindeutige Genitivkonstruktionen, eindeutige Komposita und uneindeutige Brückenkonstruktionen voneinander getrennt werden können. Kap. 8 schließt daran nahtlos an, hier wird danach gefragt, welche Typen von Genitiv- bzw. Brückenkonstruktionen sich funktional, d.h. semantisch, dazu eignen, als komplexe Wörter reanalysiert zu werden. Im Zentrum steht dabei die Referenz des ersten Substantivs. Die so ermittelten Konstruktionen werden schließlich mit den Daten des Mainzer Korpus in Bezug zueinander gesetzt. Dem folgt eine Abwägung weiterer möglicher Einflussfaktoren. Schließlich wird die Frage danach erörtert, warum der neue Kompositionstyp überhaupt entsteht: Dabei werden drei gängige Theorien (Auflösung von Ambiguitäten, Enstehung einer funktionalen Kategorie D, Ausbau der Nominalklammer) vergleichend bewertet.
Der zweite große Teil widmet sich der Verbreitung, der Produktivwerdung und dem Status des neuen Kompositionsmusters im Wortbildungssystem: In Kap. 9 werden zunächst die Fugenelemente des Fnhd. mit ihren Distributionseigenschaften beschrieben, wobei ein direkter Bezug zum nhd. System in Kap. 4 möglich ist. Darauf folgt eine ausführliche Einordnung der Produktivität (Kap. 10): Zunächst werden die Hauptmuster verfugender und nichtverfugender Komposita im Fnhd. quantitativ ausgewertet (realisierte und potenzielle Produktivität), dann folgt eine datengestützte qualitative Analyse, die Produktivitätszuwachs als Verlust morphologischer Restriktionen fasst. Dem schließt sich ein kurzer Ausblick auf das Nhd. an. In einem Exkurs (Kap. 11) wird die morphologische Struktur von NA-Komposita und Derivaten beleuchtet, in denen sich teilweise ebenfalls Fugenelemente finden, die sich aber gut gegenüber ihrer Hauptdomäne, den NN-Komposita, abgrenzen lassen. Auch sie verschaffen neue Erkenntnisse über die Produktivität. Schließlich wird in Kap. 12 die unparadigmische s-Fuge herausgegriffen, die als Produktivitätsindikator dient und im Nhd. sehr verbreitet ist. Details zu ihrer Entstehung und Ausbreitung sind dagegen bisher nicht bekannt. Insbesondere die Gründe für die Übertragung der s-Fuge auf Erstglieder, deren Paradigma sie nicht entspricht, sind bisher nicht zufriedenstellend geklärt. Hauptanliegen dieses Kapitels ist es, plausiblere von weniger plausiblen Ansätzen zu trennen und schließlich einen eigenen Vorschlag zu machen. Der Status fnhd. Komposita lässt sich nicht nur mit Produktivität und Paradigmatizität erfassen, sondern spiegelt sich auch im Schriftsystem: In Kap. 13 zeigt sich, dass mit Getrennt-, Zusammen- und Bindestrichschreibungen im Fnhd. und frühen Nhd. drei Verfahren der Kompositaschreibung genutzt werden, die zu unterschiedlichen Zeiten für verschiedene Muster unterschiedlich stark präferiert werden, und dass sie Zeugnis von der jeweiligen morphologischen Markiertheit der entsprechenden Muster ablegen.
Im letzten Teil (Kap. 14) wird mit der möglichen Funktionalisierung von Fugenelementen, insbesondere der s-Fuge, ein Aspekt thematisiert, der vor allem für das Nhd. auf reges Forschungsinteresse stößt, der jedoch von den nun endlich vorhandenen historischen Daten stark profitiert. Entsprechend werden auf Basis der zuvor gewonnenen Erkenntnisse zwei größere Vorschläge diskutiert: Die Funktionalisierung als Marker schlechter phonologischer Wörter und die Markierung zunächst generell atypischer, dann morphologisch komplexer Erstglieder. Nachdem eine potenzielle Funktion der Fugenelemente identifiziert wird, wird überprüft, ob der Prozess sich in gängige Modelle morphologischen Wandels wie Grammatikalisierung, Degrammatikalisierung oder Exaptation fassen lässt.
Literatur wird i.d.R. an Ort und Stelle referiert, um die einzelnen Kapitel auch eigenständig lesbar zu machen. Wo erforderlich, wurden getrennte Literaturteilkapitel vorgeschaltet, mitunter bot sich auch direkte Einbeziehung in die Analysen an.
2Gegenstandsbereich
Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Entstehung, Struktur und Produktivität von Typen der NN-Komposition, d.h. der Komposition zweier frei auftretender Substantive. Die NN-Komposition ist der weitaus häufigste Kompositionstyp im Nhd. (77,9% der Typen im Korpus von Ortner et al. 1991: 6) und, auch vor der Derivation, das am häufigsten angewandte produktive Wortbildungsmuster (vgl. Kap. 10). NN-Komposita stehen damit im Zentrum der Komposition, an der auch andere Wortarten Anteile haben – allerdings in wesentlich geringerem Umfang. Neben NN-Komposita werden nur AN-, NA- und AA-Komposita (Altbestand, handzahm, hellblau) in nennenswerter Menge gebildet und gebraucht, alle anderen Fälle sind vernachlässigbar – bei ihnen ist oft zweifelhaft, ob tatsächlich von einem Wortbildungsmuster gesprochen werden kann, oder ob nicht nur vereinzelte Univerbierungen vorliegen (z.B. A+P: vollauf, vgl. auch Becker 1992). Da im Folgenden primär das Verfugungsverhalten von Kompositumserstgliedern analysiert wird, sind NA-Komposita prinzipiell ebenfalls relevant (nennen-s-wert, bär-en-stark, art-∅-spezifisch) – für sie muss aber teilweise eine andere Genese angenommen werden, was zu Verfugungsbesonderheiten führt. Entsprechend ist eine gemeinsame Behandlung mit den NN-Komposita nicht angebracht, NA-Komposita werden in einem gesonderten Exkurs behandelt (Kap. 11.1), der außerdem auch Fälle von Verfugung vor Derivationssuffix (versuch-s-weise, frühling-s-haft) berücksichtigt. Neben Substantiven können auch Verbstämme verfugen (Les-e-studie), wobei sich nur marginale Berührungspunkte mit substantivischen Erstgliedern ergeben. VN-Komposita sind aber untersuchungsrelevant, weil ihre Abgrenzung gegenüber NN-Komposita nicht immer zweifelsfrei möglich ist (Beichtvater, Erntezeit, Kap. 4.10 zur Verfugung, Kap. 7.2.6 zur Abgrenzung im Fnhd.).
In diesem Kapitel sollen zunächst die NN-Komposita nach Semantik und Form eingegrenzt werden (Kap. 2.1). So lässt sich später bestimmen, welche Komposita Untersuchungsgegenstand sein können und für welche Gruppen getrennte Analysen durchgeführt werden müssen. Im Anschluss wird das Wortbildungsverständnis der vorliegenden Untersuchung und ihr Bezug zur Syntax geklärt (Kap. 2.2), in diesem Zusammenhang erfolgt auch eine kurze Auflistung und Begründung der gewählten Terminologie (Kap. 2.3). Schließlich wird die formale Geschichte der NN-Komposition, d.h. der Aufbau „eigentlicher“ und die Entstehung „uneigentlicher“ Komposita, die später im Detail untersucht wird, kurz skizziert (Kap. 2.4).
2.1Typen der NN-Komposition
Unter NN-Komposita werden für meine Zwecke nur komplexe Wörter gefasst, die aus zwei frei auftretenden Substantiven bestehen (NN-Kompositum). Der Sondertyp der Konfixkomposita und das vokalische Verfugungsverhalten der (primär) griechischstämmigen Konfixe (Disk-o-thek, Wahl-o-mat) bleibt damit von vorne herein ausgeschlossen. Ebenso werden Phrasenkomposita (Schönes-Wochenende-Ticket) und Komposita mit unverbundenen Reihungen (Mutter-Kind-Kur, Ost-West-Konflikt) nicht berücksichtigt.
2.1.1Semantik
Der semantische Kern eines NN-Kompositums kann entweder endozentrisch sein, dann liegt er im Dt. entweder auf seinem Zweitglied (Determinativkompositum) oder gleichmaßen auf Erst- wie Zweitglied (Kopulativkompositum), oder er kann exozentrisch sein, dann ist die Grundsemantik in keinem der beiden Glieder enthalten. Den verschiedenen Typen liegen unterschiedliche Bildungsmuster zugrunde.
2.1.1.1Endozentrische Komposita
Der Großteil der NN-Komposita (ca. 88% im Korpus von Ortner et al. 1991: 112) besteht aus Determinativkomposita, bei denen das Erstglied (Determinans, Bestimmungswort) das Zweitglied (Determinatum, Grundwort) näher bestimmt.1 Das semantische Verhältnis ist dabei meist sehr vage, kann jedoch zumeist mit „[Kompositum] ist eine Art von [Grundwort]“ umschreiben werden (Kürschner 1974: 33). Bei unbekannten Komposita wird die Lesart p...