Krisenszenarien
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Krisenszenarien

Metaphern in wirtschafts- und sozialpolitischen Diskursen

  1. 394 Seiten
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Krisenszenarien

Metaphern in wirtschafts- und sozialpolitischen Diskursen

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Über dieses Buch

Krisen sind seit den 1970er Jahren im öffentlichen Diskurs immer wiederkehrende Phänomene und prägen dort ein Krisenbewusstsein, das in erster Linie durch Massenmedien – und damit vorwiegend sprachlich – konstituiert ist. Diesem Umstand wird in der geschichts- und sozialwissenschaftlichen Literatur noch immer selten Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Arbeit möchte daher einen Beitrag zur Diskursgeschichte der Bundesrepublik leisten, wie sie seit nunmehr 30 Jahren in der Düsseldorfer Sprachgeschichtsschreibung betrieben wird, und untersucht drei wirtschafts- und sozialpolitische Krisendiskurse auf ihre metaphorisch geprägten Wissensbestände. Zu diesem Zweck wird das metaphorische Szenario als Analyseeinheit definiert und begründet und anschließend auf drei Krisendiskurse angewendet: Die "Ölkrise", die Debatten um den "Wirtschaftsstandort Deutschland" und um die "Agenda 2010".
Die empirische Untersuchung zeigt, wie konzeptuelle Metaphern zusammenwirken und Szenarien entfalten, in denen auch ohne spezifische Kenntnisse über wirtschaftliche und ordnungspolitische Zusammenhänge Krisen und ihre Bewältigung plausibel werden. Darüber werden Veränderungen in den Welt- und Gesellschaftsbildern der Zeitgenossen sichtbar, die sich in den metaphorischen Szenarien kristallisieren und zur Legitimation politischen Handelns verwendet werden.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783110569438

1Einleitung

Von 2010 bis 2012 förderte die DFG ein sprachwissenschaftliches Projekt an der Universität Trier mit dem Thema Sprachliche Konstruktionen wirtschafts- und sozialpolitischer ‚Krisen‘ in der Bundesrepublik von 1973 bis heute. Das Projekt wurde geleitet von Martin Wengeler und Alexander Ziem und war Ideengeber für die vorliegende Arbeit. Ziel des Projektes war es, das Sprechen über das immer wiederkehrende Phänomen Krise in der öffentlichen Diskussion in einer Längsschnittstudie historisch-vergleichend zu untersuchen und insbesondere Kontinuitäten und Wandel darin auszumachen. Doch warum interessieren sich Sprachwissenschaftler ausgerechnet für Krisen, die eigentlich dem Feld der Sozial- und Geschichtswissenschaften zugerechnet werden? Dazu sind zunächst drei Annahmen zu erläutern, die die Grundlage dieser Untersuchung bilden:
Erstens: Wir können Sprachgeschichte als Zeitgeschichte betreiben, indem wir das Wissen, das in einer Diskursgemeinschaft zu einer bestimmten Zeit als gültig akzeptiert wurde, über den Sprachgebrauch rekonstruieren. In jedem Sprachgebrauch kristallisiert sich ein Verständnis der Lebenswelt. Jedes Sprechen aktualisiert dieses Verständnis. Unsere Lebenswelt wandelt sich jedoch stetig und somit auch das Sprechen darüber. So gibt eine historische Betrachtung des Sprachgebrauchs auch Aufschluss über die sich verändernden Wirklichkeiten einer Sprach- und Diskursgemeinschaft. Darunter zählt beispielsweise das Zusammenwirken von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Was wir darüber wissen, ist zu einem beträchtlichen Teil sprachlich vermittelt. Politische und wirtschaftliche Wirkungsweisen und Zusammenhänge werden so im öffentlichen Diskurs auch für diejenigen plausibel, die kein Wissen über volkswirtschaftliche Prozesse mitbringen.
Zweitens: Wirtschafts- und sozialpolitische Krisen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren. Sie stellen Phasen sozialen und politischen Wandels dar, in denen das als gültig akzeptierte (und zu einem großen Teil sprachliche) Wissen über die Zusammenhänge und Gegebenheiten der Welt zur Disposition gestellt wird. Gerade in diesen Phasen wandeln sich die sprachlich konstituierten Wirklichkeiten in Bezug auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft besonders stark.
Drittens: Was wir über Krisen wissen, wissen wir durch Medien. Öffentliche Diskurse finden zu einem großen Teil unter den Bedingungen massenmedialer Kommunikation statt. Da das massenmedial vermittelte Wissen zu einem großen Teil sprachlich vermitteltes Wissen ist, sind Massenmedien der Ort, an dem der Wandel sprachlicher Wirklichkeitskonstitution am deutlichsten zu beobachten ist. Daher können wir Wandelprozesse über den Sprachgebrauch in den Massenmedien rekonstruieren.
Ziel der Arbeit ist es, das in der Sprach- und Diskursgemeinschaft geteilte Wissen über die politische und wirtschaftliche Ordnung diachron vergleichend zu rekonstruieren und damit den sprachlichen Wissenswandel über unsere Lebenswelt zu beschreiben. Die Arbeit umfasst daher eine linguistische Diskursanalyse der für die Geschichte der Bundesrepublik wichtigsten Krisendiskurse.
Zu diesem Zweck nimmt die Analyse ein zentrales Instrument der sprachlichen Wirklichkeitsbildung in den Blick: die konzeptuelle Metapher. Konzeptuelle Metaphern sind als sprachliches und kognitives Vor-Augen-Führen, als Denkmodelle mit hoher Erklärungskraft, ein zentraler Mechanismus der Realitätsbildung und werden als linguistischer Zugang zu kollektiv geteilten Wissensbeständen einer Diskursgemeinschaft verstanden und untersucht. Über nicht direkt erfahrbare Entitäten, Zusammenhänge und Wirkungsmechanismen wird zu einem beträchtlichen Teil in Begriffen kommuniziert, die einer direkter erfahrbaren Welt angehören. Auf diese Weise werden abstrakte Weltausschnitte nicht nur begreifbar, sondern für die Betrachter gerade erst existent. Wirtschafts- und sozialpolitische Krisen gehören zu eben jenen abstrakten Weltausschnitten. Die Metaphernanalyse zeigt daher, wie der metaphorische Sprachgebrauch über wirtschaftliche Zusammenhänge und Gegebenheiten konzeptuelle Raster bildet, die gemeinsame Vorstellungen über die geteilte Lebenswelt der Zeitgenossen erzeugen. Entsprechend geht diese Arbeit der Frage nach, welche sprachlich geprägten Wissensbestände die immer wiederkehrenden Krisendiskurse seit den 1970er Jahren mitgestalten und welche Rolle sie in den politischen Legitimationsprozessen spielen.1

1.1Problembereich und Fragestellung

Wirtschafts- und sozialpolitische Krisen sind seit ca. 40 Jahren ständig wiederkehrende, brisante Diskussionsfelder in der Öffentlichkeit. Massenmedien widmen sich in unterschiedlichsten Print-, TV- und (später auch) Web-Formaten diesem Thema und prägen so ein immer wiederkehrendes Krisenbewusstsein in der Öffentlichkeit. Dabei wird das, was als Krisen erlebt wurde, als Auslöser für zahlreiche Ereignisse und Entwicklungen im 20. Jahrhundert bewertet. Das geschieht sowohl in öffentlichen Diskursen wie auch in historiographischen und sozialwissenschaftlichen Studien. Dabei ist vor allem die Weltwirtschaftskrise zwischen 1929 und 1932 tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Historiker sehen in ihr eine Wegbereiterin des Nationalsozialismus, da sie ein gesellschaftliches Klima geschaffen habe, das zur Radikalisierung beitrug (vgl. z.B. Plumpe 2010: 82). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wirtschafts- und sozialpolitische Konzepte entwickelt, welche die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen auffangen und später auch der Entstehung weiterer Krisen vorbeugen sollten (vgl. Plumpe 2010: 94 f.). Diese Konzepte waren für die Entstehung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung, der Sozialen Marktwirtschaft, und der Sozialsysteme wichtig.
Zahlreiche wirtschaftsgeschichtliche Überblicksdarstellungen beschäftigen sich mit den ordnungspolitischen Entwicklungen in der Geschichte der Bundesrepublik (z.B. Abelshauser 2011; Herbert 2014). Der Stellenwert, der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Krisen dabei eingeräumt wird, ist enorm. So bemerkt Werner Plumpe zur Einleitung in seine Krisengeschichte:
Wirtschaftskrisen zählen zu den wiederkehrenden, prägenden Ereignissen der Geschichte; ihre Bedeutung war und ist häufig so groß, dass sie weit über das wirtschaftliche Geschehen hinaus ausstrahlen und ernsthafte politische und soziale Probleme auslösen.
(Plumpe 2010: 7)
Das historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache Geschichtliche Grundbegriffe widmet dem Ausdruck Krise einen ausführlichen Artikel (vgl. Brunner/Conze/Koselleck 1982), engt allerdings den Verwendungskontext nicht ein, so dass militärische, soziale, politische und wirtschaftliche Krisen zusammen und über einen langen Zeitraum hinweg behandelt werden. Die Erkenntnisse, die aus derartigen Bestimmungen gewonnen werden können, bleiben sehr allgemein. Die Krisen der bundesrepublikanischen Zeit nehmen dabei nur einen geringen Raum ein.
Sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Forschungen untersuchen das Phänomen Krise in ihrem Fachbereich aus unterschiedlichen Perspektiven (z.B. Feldbauer/Hardach 1999, Nützenadel 2007, Abelshauser 2011, Mergel 2012, Butterwegge 2014). Insbesondere in der ökonomischen Theorie ist Krise ein etablierter Terminus zur Beschreibung von wirtschaftlichen Abschwungphasen und Konjunkturzyklen (vgl. Schumpeter 1961 [1939], Bergmann 1895). Seit den 1970er Jahren wurde Krise „zu einem Schlüsselbegriff gesellschaftlicher Selbstbeschreibung“ (Nützenadel 2007: 34). Siegenthaler (1993) und Steiner (2006) untersuchen die Wechselwirkungen von Wirtschaftskrisen und Sozialstaatskrisen. Unter Krisen versteht Steiner in Anlehnung an Siegenthaler demzufolge
eine Situation […], in der zuvor stabile und funktionierende Zustände und Strukturen sich auflösen, erodieren und dysfunktional werden. Dabei verlieren die Akteure das Vertrauen in die bis dahin bestehenden Institutionen, kognitiven Regelsysteme sowie die externen und internalisierten Verhaltensnormen. Dieser Verlust an Regelvertrauen, der sich in einem Krisenbewusstsein ausdrückt, tritt infolge anhaltender Unsicherheit ein, die Ergebnis unbefriedigend erscheinender Resultate des Handelns in dem vertrauten Regelsystem ist.
(Steiner 2006: 2)
Solche Definitionen offenbaren ein objektivistisches Verständnis des untersuchten Gegenstandes. Der Vertrauensverlust folgt hier direkt aus dem dysfunktionalen Zustand des Systems. Das Ergebnis ist das Krisenbewusstsein. Mediale und kommunikative Prozesse werden vollständig ausgeblendet. Das zeigt sich auch in Feststellungen wie dieser:
Zeitgenössisch wiesen bereits Michael J. Piore und Charles F. Sabel darauf hin, dass der Kern der Krise der 1970er-Jahre nicht nur in den wirtschaftlichen Einbrüchen zu sehen sei, sondern auch darin, dass diesen mit den Theorien und Strategien der zurückliegenden Jahrzehnte nicht zu begegnen sei, was sich „im öffentlichen Bewußtsein zu einer umfassenden Krise des industriellen Systems“ verdichte.
(Steiner 2006: 6)
Wie diese Erkenntnis ihren Platz im öffentlichen Bewusstsein einnehmen konnte, ist für Steiner nicht von Bedeutung.
Viele sozialwissenschaftliche Studien nehmen jedoch durchaus wahr, dass Krisen erst durch Krisendiskurse als solche wahrgenommen werden können. So unterscheidet Plumpe Krisen an sich und Krisen für sich. Dabei versteht er unter Krisen an sich alle wirtschaftlichen Abschwungphasen. Ob sie dann auch Krisen für sich werden, hänge aber von der Reaktion der Zeitgenossen ab (vgl. Plumpe 2010: 11). Damit bringt er eine Dimension ins Spiel, die von vielen Historikern (auch von Plumpe selbst) oft stark unterschätzt wird: den Krisendiskurs. Von der öffentlichen Wahrnehmung hängt ab, ob eine Krise als solche überhaupt wahrgenommen wird und ob sie als Legitimationsgrundlage für politische Kurswechsel herangezogen wird. Kurz gesagt, was als Krise verstanden wird, findet sich letztlich in den diskursiven Prozessen, die einer Krise ihre ‚Gestalt‘ geben. Sie ist zu einem gewichtigen Teil eine soziale Tatsache bzw. ein diskursives Objekt. Als solche entfaltet sie Wirkung in der öffentlichen Diskussion. Daher ist es frappierend, dass die spezifischen sprachlichen und semiotischen Verfahren, durch die das Phänomen Krise für die Diskursteilnehmer in Erscheinung tritt, in Forschungsarbeiten über Krisen so häufig außen vor gelassen werden. Oft werden nur wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen verschiedener Zeiträume verglichen, nicht aber die dahinter stehenden öffentlichen Debatten.
Es gibt allerdings auch erste Studien, die die öffentliche Wahrnehmung mit berücksichtigen. Zum Beispiel schaut sich Butterwegge (2014) unter kritischen Gesichtspunkten verschiedene Haltungen und Positionierungen zum Sozialstaat an. Dabei nimmt er eine historische Perspektive ein. Auch Altvater und Mahnkopf (2007) nehmen in ihrem Werk Grenzen der Globalisierung Publikationen verschiedener Länder und Sprachen in den Blick und erarbeiten international vergleichend verschiedene Positionen zur Globalisierung. Ihr Blick in die öffentlichen Debatten folgt allerdings keiner Methodik zur Erforschung medialer und semiotischer Konstruktionsprozesse. Keine der Publikationen hatte dabei eine systematische Analyse öffentlicher Diskurse im Blick.
Erst in den letzten Jahren werden Krisen auch als mediale und sprachliche Phänomene untersucht (vgl. z.B. Nünning 2007, Ötsch/Hirte/Nordmann 2010, Goeze/Strobel 2011, Mergel 2012). Insbesondere die sogenannte Finanzkrise 2008/09 sticht dabei heraus. Hierzu gibt es bereits zahlreiche, auch linguistische Untersuchungen. Der Band Krise, Cash & Kommunikation beschäftigt sich aus soziologischer, medien-, literatur- und sprachwissenschaftlicher Perspektive mit der Finanzkrise (vgl. Lämmle/Peltzer/Wagenknecht 2012). Januschek (2010) suchte kollektive Wissensaspekte über die Finanzkrise 2008/09, Storjohann und Schröter (2011) unternahmen eine linguistische Frame-Analyse des Finanzkrisendiskurses und Koller und Farrelly (2010) analysierten die Konzeptualisierungen der Finanzkrise ab 2007. Ihr Beitrag entstand im Rahmen des ESRC-Projektes Great Transformations: A Cultural Political Economy of Crisis-Management an der Universität Lancaster, das mit soziologischem Fokus globale und europäische Krisen erforschte (auch anhand deutschsprachiger Pressetexte). All diese Studien setzen den Zeitraum ihrer Untersuchung erst mit dem Finanzkrisendiskurs an. Koller und Farrelly weiteten ihn dann auf die spätere Euro-Krise aus. Die genannten Arbeiten nehmen hauptsächlich eine synchrone Perspektive ein. Eine knappe, aber historisch vergleichende Studie der metaphorischen Konstruktionsweisen von Krisen stellt ein Beitrag von Drommler und Kuck (2013) dar. Darin wird ein Vergleich zwischen den häufig verwendeten Metaphernfeldern der Banken- und Finanzkrise und den Debatten um die Agenda 2010 vorgenommen. Einen größeren Zeitraum nimmt der Beitrag Krisenviren und der drohende Infarkt des Finanzsystems – Metaphorische Rechtfertigungen von Krisenpolitik (Kuck 2016) in den Blick, der speziell die Krankheitsmetaphorik der Krisendiskurse Ölkrise, Debatten um die Agenda 2010 und die Finanzkrise vergleicht.
In der Geschichte der Bundesrepublik wurden einige Phasen als Krisen und damit als wirtschaftlich ausgelöste, ernsthafte Gefährdung der gewohnten Lebenswelt wahrgenommen. Kollektive Krisenerfahrungen gab es in der Bundesrepublik laut historiographischer Literatur (Steiner 2006, Geyer 2007, Nützenadel 2007, Döring-Manteuffel 2008) seit den 1970er Jahren. Die großen zeitgeschichtlichen Überblickswerke (z.B. Wolfrum 2006, Abelshauser 2011, Herbert 2014) beziehen soziologische Studien, Statistiken, politisch-konzeptionelle Schriften, historische Abhandlungen, Bundestagsprotokolle und diverses Archivmaterial als Quellen in ihre Darstellungen ein. Der öffentliche Diskurs gerät dabei aber nur selten in den Fokus. Dabei ist gerade der öffentliche Diskurs der Ort, an dem in einer Gemeinschaft gültige und auch nicht-gültige Überzeugungen und Weltbilder sichtbar werden. Krisenpolitik und Reformen müssen in der Öffentlichkeit gerechtfertigt und plausibel begründet werden. Ausgerechnet die sprachlichen Konstruktionen wurden aber in die bisherigen wissenschaftlichen Betrachtungen von Krisen nur selten eingebunden. Die Grundannahme dieser Arbeit ist daher, dass die von den Zeitgenossen erlebte, gesellschaftliche Realität gerade erst durch solche Diskurse zur Realität wird. Es muss ein Krisendiskurs geführt werden, damit Krisenphänomene als solche überhaupt wahrgenommen werden können. Dabei gibt es nicht die eine von allen akzeptierte Wirklichkeit. In oft lang anhaltenden öffentlichen, politischen Diskursen werden divergierende Deutungsmuster, Denkmodelle und Weltsichten herangezogen, welche die ‚Welt, in der wir leben‘ erklären und politische Handlungen und Ziele in diese Weltbilder einbetten, plausibilisieren und damit aktualisieren. Dabei spielen politische und wirtschaftliche Interessen, Ideologien und Weltbilder als Erklärungsmodelle in der Öffentlichkeit eine große Rolle für die zu Wort kommenden Akteure. Sie beeinflussen das, was als Lebenswirklichkeit wahrgenommen wird. Solche Erklärungsmodelle sind aber nicht durch eine Ideengeschichte zu beschreiben, die öffentliche Diskurse nur am Rande wahrnimmt. Die Frage, welche Folgen die bundesdeutschen Krisendiskurse für das haben, was wir als Realität begreifen, gerät aus dem Blickfeld. Die vorliegende Untersuchung soll diese Lücke füllen.
Ziel der Arbeit soll es daher nicht sein, bereits bestehende Krisenbegriffe der Geschichts- und Sozialwissenschaften wiederzugeben und zu vergleichen, sondern die Konzeptualisierungen im öffentlichen Diskurs zu erfassen, in denen Krisen begreifbar und erfahrbar werden. Sie sind als abstrakte, diskursive Phänomene auf Komplexität reduzierende Medien und Präsentationsformate angewiesen sowie auf Wissen generierende sprachliche Muster mit hoher Erklärungskraft. Der Aufgabe, Krisen unter der Perspektive sprachlicher und diskursiver Konstruktionsprozesse in einer Längsschnittstudie zu betrachten, widmete sich das eingangs erwähnte Forschungsprojekt. Im Kontext dieses Projekts entstand auch die Idee zu der vorliegenden Studie. Im Frühjahr 2012 fand in Trier eine von der Projektgruppe ausgerichtete Tagung zu diesem Thema statt, die interdisziplinäre Zugänge fokussierte und medien- und sozialwissenschaftliche Zugänge integrierte. Die Beiträge, die aus dieser Tagung hervorgingen, diskutierten vielschichtig die semiotischen und medialen Prozesse (vgl. Wengeler/Ziem 2012). Ausführliche monographische Untersuchungen der bundesdeutschen wirtschafts- und sozialpolitischen Krisendiskurse mit diskursanalytischem Schwerpunkt liegen jedoch insbesondere mit Wirtschaftskrisen – Eine Diskursgeschichte von David Römer (2017) und dieser Studie vor.2
Die Analyse der Krisendiskurse konzentriert sich daher erstens auf den öffentlichen Sprachgebrauch und berücksichtigt wissenschaftliche bzw. politisch konzeptionelle Texte nur dort, wo sie den öffentlichen Diskurs direkt beeinflusst haben. Zweiten...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. 1 Einleitung
  7. Teil 1: Konzeption und Forschungsdesign
  8. Teil 2: Metaphorisch motiviertes Wissen in Krisendiskursen der Bundesrepublik
  9. Literatur