Medizinische Gutachten des 17. und 18. Jahrhunderts
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Medizinische Gutachten des 17. und 18. Jahrhunderts

Sprachhistorische Untersuchungen zu einer Textsortenklasse

  1. 286 Seiten
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Medizinische Gutachten des 17. und 18. Jahrhunderts

Sprachhistorische Untersuchungen zu einer Textsortenklasse

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Die historische Textsortenforschung ist für das Deutsche ein noch relativ unerschlossenes Feld und so sind bisher nur einige wenige historische Textsorten erfasst und beschrieben. Mit den medizinischen Gutachten nimmt diese Studie eine historische Textsortenklasse in den Blick, die schon im 17. und 18. Jahrhundert von zentraler Bedeutung für die ärztliche Kommunikation war. Ausgangspunkt der Untersuchung sind gängige, gegenwartsbezogene textlinguistische Beschreibungsansätze, die für sprachhistorische Kontexte modifiziert und um wichtige pragmatische Kategorien erweitert werden. Als besonders fruchtbar erweist sich die stärkere Berücksichtigung metakommunikativer Wissensbestände wie sie sich in Rhetoriklehrbüchern, Textsortenanleitungen und Textsortenbenennungen manifestieren. Auf der Basis dieses breit angelegten Analysemodells werden die entsprechenden Textsorten – Consilia, Gerichtsgutachten und Sektionsberichte – kultur- und wissenschaftshistorisch sowie hinsichtlich der für sie typischen sprachlichen Merkmale untersucht und beschrieben. Die Studie bietet damit nicht nur für Sprach- und Medizinhistoriker, sondern auch für Kulturwissenschaftler einen interessanten Einblick in die medizinische Fachkommunikation dieser Zeit.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783110557039

1Einleitung

Forschungen auf dem Feld der Textsortenlinguistik können mittlerweile als fester Bestandteil der Textlinguistik gelten. Kaum eine textlinguistische Einführung versäumt es denn auch, die Beschreibung und Klassifikation von Textsorten mehr oder minder ausführlich zu behandeln. Ein breites Spektrum an Textsorten der Gegenwart, sowohl im Bereich alltagssprachlicher als auch fachsprachlicher Kommunikation, ist inzwischen erschlossen, wie eine eindrucksvolle Reihe thematisch einschlägiger Monographien und Sammelwerke beweist. Ganz anders hingegen stellt sich die Lage in der historischen Sprachwissenschaft dar. Hier sind erst einige wenige Textsorten beschrieben, und von der Einlösung des oft angemahnten Desiderats einer Sprachgeschichte als Textsortengeschichte ist man noch sehr weit entfernt.
Es ist das Anliegen dieser Arbeit, einen Beitrag zur Verringerung dieser Forschungslücke zu leisten, indem mit den medizinischen Gutachten des 17. und 18. Jahrhunderts eine für ihre Zeit zentrale historische Textsortenklasse in den Blick genommen wird. Nun sind medizinische Gutachten an sich keine neuzeitliche Erfindung, sie aber zu veröffentlichen und dabei ihren Charakter als Originaldokumente zu wahren, wird erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts üblich, als die Empirie in den Wissenschaften eine generelle Aufwertung erfährt. Von ihren Herausgebern einem casus zugeordnet und teilweise mit Kommentaren versehen, wurden die Gutachten in Sammelbänden publiziert und verbreitet. Diese kasuistischen Werke fungierten als Lehrbücher und avancierten im 18. Jahrhundert zu einem der erfolgreichsten Formate der medizinischen Fachliteratur. Aber nicht nur von Seiten der Medizin wurde den Sammlungen eine immense Bedeutung für die Weiterentwicklung des Wissens beigemessen, sondern auch von den Wegbereitern der deutschen Aufklärung wie Gottfried Wilhelm Leibniz oder Christian Thomasius. Leibniz ging 1671 sogar davon aus, dass, wenn alle Ärzte ihre observationes aufzeichneten, man gewiß in 100 jahren mehr lernen [würde], als von Hippocrates an bis auf den anfang dieses seculi geschehen (zitiert nach Hartmann 1976: 63).
Die hohe Wertschätzung lässt sich auch an der großen Zahl der überlieferten Fallsammlungen ablesen, mit Konvoluten von zehn, hundert oder manchmal sogar 600 Gutachten. Aber nicht allein die Fülle des Materials prädestiniert die so veröffentlichten Gutachten dazu, Gegenstand einer textsortengeschichtlichen Untersuchung zu sein, sondern auch die Tatsache, dass sie durch die Fallsammlung als Textkorpus sui generis bereits vordefiniert sind. Anders als bei vergleichbaren Untersuchungen sind es also keine rein gegenwartsbezogenen Zuschreibungen, die über die Zugehörigkeit eines Textes zu der beabsichtigten Auswahl entscheiden, sondern allein die Kriterien der Zeitgenossen. Wegen des Lehrbuchcharakters der Sammlungen darf außerdem angenommen werden, dass die Herausgeber Gutachten wählten, die sie als vorbildlich und nachahmenswert erachteten. Ein weiterer Vorteil der so überlieferten Texte besteht darin, dass man auf Vorworte und Kommentare zugreifen kann, die viele metasprachliche Äußerungen enthalten. Handschriftliche Gutachten wurden nicht berücksichtigt, da sie bislang kaum erschlossen sind und die eben beschriebenen Vorteile nicht aufweisen.
Welcher Art sind nun aber die Gutachten, denen man in den Fallsammlungen begegnet? Es lassen sich drei Gruppen identifizieren, die die Herausgeber, wenn auch in unterschiedlicher Quantität, immer berücksichtigen. Erstens: Berichte, das sind Texte deskriptiver Prägung, die die im Auftrag der Obrigkeit vorgenommene Untersuchung eines Leichnams (selten eines Kranken) dokumentieren; zweitens: Gerichtsgutachten, die am stärksten vertretene Gruppe. Hier geben Mediziner Auskunft über konkrete Fragen, um Richtern und administrativen Instanzen eine Entscheidungshilfe zukommen zu lassen; drittens: Consilia, also an Patienten adressierte Ratschläge, die Strategien zur Heilung eines Leidens oder zur Ansteckungsvermeidung vermitteln wollen.
Die Annahme, dass diese drei Gruppen jeweils eine eigene Textsorte repräsentieren und alle gemeinsam eine Textsortenklasse, bestimmt die Strategie der vorliegenden Arbeit. Im Folgenden wird es demnach darum gehen, jede Gruppe hinsichtlich ihrer Kommunikationsbedingungen, Funktionen, Textstrukturen und Formulierungsmuster umfassend zu beschreiben, um dabei signifikante Unterschiede ebenso wie Gemeinsamkeiten sichtbar werden zu lassen. Zur Absicherung der Ergebnisse empfiehlt sich eine Herangehensweise, die nicht nur die Texte selbst in den Blick nimmt, sondern auch die kommunikativen Bedingungen, in die sie eingebunden sind und denen sie ihre Entstehung zu verdanken haben. In diesem Zusammenhang erweist es sich als Vorteil, dass nicht nur die Fallsammlungen selbst, sondern auch die im Untersuchungszeitraum liegenden Phänomene ärztlich-administrativer Praxis von medizinhistorischer Seite bereits eine intensive Aufarbeitung erfahren haben. Mögen die Ergebnisse dieser Forschung auch einem gänzlich anders gelagerten Erkenntnisinteresse geschuldet sein, so lassen sie sich gleichwohl mit Gewinn in die sprachhistorische Analyse einbeziehen.
Aus dem hier skizzierten Ansatz resultieren die folgenden Themenschwerpunkte und die aus ihnen wiederum zu deduzierenden Leitfragen der Untersuchung:
  1. Kommunikative Rahmenbedingungen: Wer kommt überhaupt als Verfasser in Frage und an welchen Adressatenkreis richten sich die Texte? Welche kommunikativen Absichten verfolgen die Textproduzenten?
  2. Metakommunikative Wissensbestände: Wie lässt sich die Rolle beschreiben, die den rhetorischen Stilidealen zukommt? Welche qualitativen Ansprüche gelangen zur Geltung? Wie werden die Gutachten von den Zeitgenossen bezeichnet und was lässt sich daraus folgern?
  3. Sprachliche Gestaltung: Welche Auswirkungen haben Rahmenbedingungen und metakommunikative Wissensbestände auf die Textgestaltung? Lassen sich typische Strukturen und wiederkehrende Formulierungen identifizieren? Welcher sprachlichen Mittel bedienen sich die Textproduzenten, um ihre kommunikativen Ziele zu erreichen?
  4. Didaktische Aufbereitung in den Sammlungen: Wie werden die Gutachten in den Sammlungen präsentiert? Welche Zugriffsstrukturen werden geboten, um die Rezeption zu steuern und zu erleichtern? Und schließlich: Welche Mittel der Veranschaulichung werden genutzt?
Gelingt es, die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse in einer konsistenten Beschreibung zusammenzuführen, so hat das hier gewählte Vorgehen auch eine über den Untersuchungsgegenstand hinausweisende Bedeutung und kann womöglich zur Analyse weiterer historischer Textsorten herangezogen werden.

2Sprachgeschichte als Textsortengeschichte

Seitdem sich die Textlinguistik Ende der 1960er Jahre als eigener Forschungszweig etablieren konnte, erhoben Sprachwissenschaftler Texte zum Gegenstand ihrer Untersuchungen und Analysen. Neben der Frage, was einen Text überhaupt erst zum Text macht, galt dabei das Interesse von Anfang an auch der Beschreibung und Erfassung verschiedener Klassen von Textexemplaren. Aber waren diese Texte und das sie strukturierende Gefüge nicht zugleich historischem Wandel unterworfen, und galt es demnach nicht auch, neben der synchronen Perspektive eine diachrone zu entwerfen? Die Evidenz dieser Einsicht zog bald die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der Textsorten in der Sprachgeschichte nach sich (vgl. Schenker 1977). Von einer nur annähernd exhaustiven Bearbeitung des neu erschlossenen Forschungsfeldes kann freilich auch heute, rund 40 Jahre später, noch immer keine Rede sein. Zwar sind inzwischen einige Untersuchungen zu diversen historischen Textsorten erschienen (vgl. u. a. Fleskes 1996; Fritz & Straßner 1996; Bendel 1998; Barz 2000; Ziegler 2003; Braun 2004; Pfefferkorn 2005; Fritz 2016a)1, der größere Teil textlinguistischer Arbeiten bezieht sich aber auf die Gegenwart. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zu den gewichtigsten zählen vermutlich die methodischen Schwierigkeiten, die sich bei der Analyse von historischen Texten unweigerlich einstellen. Denn das generelle Problem, das Phänomen Text zu erfassen, potenziert sich noch unter geschichtlichen Vorzeichen, insofern man sich bei der Analyse kaum mehr auf die eigene Sprachkompetenz und das schon erworbene Textsortenwissen verlassen kann und zu einer mühsamen Erschließung des kultur- und sprachgeschichtlichen Horizontes gezwungen ist. Des Weiteren wird die Ausgangslage noch dadurch erschwert, dass aufbereitete historische Korpora nur in begrenzter Zahl zur Verfügung stehen. Wer demnach eine neue Fragestellung in der historischen Textlinguistik bearbeiten möchte, muss zunächst sehr viel Zeit und Mühe für die Erstellung eines adäquaten Korpus aufwenden.
Weshalb es dennoch unbedingt lohnend sein kann, sich mit historischen Textsorten zu beschäftigen, hat Steger überzeugend begründet. Er hält die Untersuchung des
Texttypus deswegen [für] zentral, weil sich in ihm die evolutionär bedingte universelle menschliche Sprechfähigkeit und Typisierungskraft unter engeren pragmatischen Bedingungen am ehesten natürlich konkretisieren und immer auch zum Ansatzpunkt von kulturellen Weiterentwicklungen, Überformungen und Differenzierungen wurden. So sind anthropologisch relativ stabile Gegebenheiten wie geschichtlich-kulturelle Beeinflussung und Entfaltungen im Längsschnitt und Querschnitt beobachtbar.
(Steger 1998: 289)
Steger benennt damit indirekt auch die Ziele historischer Textanalyse: Es gilt nicht nur, die in verschiedenen Zeitstufen gebräuchlichen Textsorten umfassend zu beschreiben, sondern auch deren Entwicklungsprozesse, unter Berücksichtigung von Kontinuitäten und Brüchen.
Im Folgenden sind zunächst einige Modelle zu diskutieren, die die Forschung zur Beschreibung von Textsorten generell entwickelt hat. Des Weiteren wird es um die Frage gehen, ob und wenn ja, unter welchen Prämissen sich diese Modelle in historischen Kontexten anwenden lassen.

2.1Textsorten – ein umstrittenes Konzept

Wie bereits angedeutet herrscht in der Textlinguistik keineswegs Einigkeit darüber, was unter dem Begriff Textsorte eigentlich zu verstehen ist.2 Zwar wird die Bezeichnung in der Alltagskommunikation häufig verwendet und ein Großteil der Sprecher nutzt sie, um bestimmte, für die aktuelle Kommunikation relevante Textmengen zu bezeichnen, die Linguistik aber tut sich schwer, den Begriff konzeptionell zu fassen. So halten etwa de Beaugrande & Dressler das Phänomen Textsorte für derart vielschichtig, dass man es, wenn überhaupt, nur in sehr begrenztem Maße beschreiben könne (vgl. de Beaugrande & Dressler 1981: 193 f.). Und auch Heinemann & Heinemann beginnen das betreffende Kapitel in ihren Grundlagen der Textlinguistik mit der Aussage, dass es in der praktischen Kommunikation im Grunde keine konkreten ‚Textsorten‘ gebe und man es gleichsam mit ‚Unkräutern‘ zu tun habe, einem amorphen Phänomen, das sich nur im Wissen der Sprachteilnehmer über mögliche Zuordnungen von Einzelexemplaren zu bestimmten Klassen manifestiere (vgl. Heinemann & Heinemann 2002: 140).
Der Komplexität des Gegenstandes entspricht die Vielzahl der bislang diskutierten Definitionen. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann der schon in den 60er Jahren des 20. Jahrhundert formulierte Vorschlag Peter Hartmanns gelten, wonach Textsorten „Mengen von Texten mit bestimmten Eigenschaften“ sind (Hartmann 1964: 23). Diese Definition ist allerdings, wie Wolfgang Heinemann zu Recht mehrfach (vgl. z. B. Heinemann 2007: 11) zu bedenken gegeben hat, so allgemein, dass sie zwar auf alle Formen der Textkonstitution anwendbar sei, aber auch sehr heterogene Textmengen zusammenfassen oder unsinnige Textsorten erzeugen könnte, wie etwa die Summe aller Textexemplare mit einem Umfang von drei Seiten. Bei der Frage aber, welche „bestimmten Eigenschaften“ denn nun als konstitutiv angesehen werden können, gehen die Meinungen weit auseinander (vgl. Fleskes 1996: 9–10; Heinemann 2000b: 509–513; Heinemann & Heinemann 2002: 64–94; Brinker, Cölfen & Pappert 2014: 139).
In den Forschungsarbeiten der frühen textlinguistischen Phase rückten textuelle Strukturen in den Mittelpunkt, also textinterne Kriterien. Dazu zählen etwa bei Heinemann (2000b: 509 f.) jene Ansätze, die als grammatische und semantisch-inhaltliche Zugriffe zusammengefasst werden können. Ein weiterer, ganz im Zeichen der pragmatischen Wende stehender Vorstoß ging von der Annahme aus, dass vor allem Kontext, Situation und Funktion bei Texten eine bedeutende Rolle spielen. Mittlerweile ist man sich jedoch einig, dass jeder Ansatz, der nur einige wenige Kriterien berücksichtigt, nicht beschreibungsadäquat sein kann. Jüngere Modelle integrieren daher mehrere Faktoren, gemäß der Überzeugung, dass „[f]ür die Konstituierung von Textsorten […] das Zusammenspiel von Parametern unterschiedlicher Ebenen (wenn auch von Textsorte zu Textsorte in unterschiedlichem Grade und mit unterschiedlicher Fokussierung) relevant“ ist (Heinemann 2000b: 513).
Das ‚integrative‘ Modell prägt auch die aktuelleren Definitionen von Textsorten, wie etwa die von Klaus Brinker, die zu den gängigsten des Faches zählt:
Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt und gehören zum Alltagswissen der Sprachteilhaber; sie besitzen zwar eine normierende Wirkung, erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben.
(Brinker, Cölfen & Pappert 2014: 139)
Auch diese Definition ist aber nicht unumstritten. So hat Heinemann (2000b: 515–518) zu Recht auf die etwas problematische Verwendung des Musterbegriffes bei Brinker verwiesen: Während Textsorten im Alltag an konkrete Textexemplare gebunden seien und im Allgemeinen auch atypische Merkmale besäßen (Stichwort: Textsorten als Prototypen), ziele die Rede von Textmustern auf ein ebenso idealtypisches wie abstraktes Modell.
Heinemann (2000b: 513) selbst entwickelt denn auch eine eigene Bestimmung von Textsorte, die ohne den Musterbegriff auskommt. Danach erweisen sich Textsorten als eine begrenzte Menge von Textexemplaren mit spezifischen Gemeinsamkeiten. Diese Gemeinsamkeiten wiederum betreffen mehrere Ebenen: die äußere Textgestalt, charakteristische Struktur- und Formulierungsbesonderheiten sowie inhaltlich-thematische Aspekte, situative Bedingungen und deren kommunikative Funktionen. Ein Nachteil der Heinemannschen Definition besteht freilich darin, dass sie, anders als die Brinkers, von der historischen Dimension vollständig absieht.
Die Frage, in welchem hierarchischen Verhältnis Texte zueinanderstehen und wie diese Abstufungen zu benennen seien, wird ebenfalls kontrovers diskutiert. Heinemann (2000b: 514) schlägt eine Ebene unterhalb der Textsorte vor, die er Textsortenvarianten nennt, und eine übergeordnete Instanz mit abstrakteren Merkmalen und größerem Geltungsbereich, die von ihm als Textsortenklasse bezeichnet wird.
Wie Adamzik gezeigt hat, hängt die Klassifikation der Textsorten auch entscheidend von dem jeweils zu Grunde gelegten Textsortenbegriff ab, und das sowohl in der historischen als auch der gegenwartssprachlich orientierten Textsortenlinguistik. Folgt man der Verfasserin weiter, so lassen sich die diversen Arbeiten aber durchaus systematisieren und entweder unter den Begriff der Texttypologie oder den der Textsortenforschung bringen (Adamzik 1995: 18). Ziel der in der Tradition Isenbergs (1978) stehenden texttypologischen Studien ist es, eine Klassifikation zu erstellen, die vom Wissen der Sprachteilnehmer in der Alltagskommunikation absieht und zu eigenen Kategorien findet. Der hier zu Grunde gelegte Textsortenbegriff ist also ein abstrakt-definitorischer, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Danksagung
  6. Inhaltsverzeichnis
  7. 1 Einleitung
  8. 2 Sprachgeschichte als Textsortengeschichte
  9. 3 Methode und Zielsetzung
  10. 4 Fallsammlungen und Gutachten in (medizin)historischer, literatur- und sprachwissenschaftlicher Sicht
  11. 5 Kulturgeschichtlicher Kontext
  12. 6 Zwischen Dokumentation und Didaxe – medizinische Fallsammlungen in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang
  13. 7 Die Kommunikationssituation – medizinische Gutachten im Spannungsfeld von Verwaltung und Wissenschaft
  14. 8 Reſponſum, Viſum repertum, Conſilium – zur Bezeichnungsvielfalt einer Textsortenklasse
  15. 9 Textstrukturen medizinischer Gutachten
  16. 10 Feinanalysen
  17. 11 Medizinische Gutachten des 17. und 18. Jahrhunderts – Resümee und Ausblick
  18. 12 Übersicht Korpustexte
  19. 13 Quellen- und Literaturverzeichnis
  20. Register