Seitdem sich die Textlinguistik Ende der 1960er Jahre als eigener Forschungszweig etablieren konnte, erhoben Sprachwissenschaftler Texte zum Gegenstand ihrer Untersuchungen und Analysen. Neben der Frage, was einen Text überhaupt erst zum Text macht, galt dabei das Interesse von Anfang an auch der Beschreibung und Erfassung verschiedener Klassen von Textexemplaren. Aber waren diese Texte und das sie strukturierende Gefüge nicht zugleich historischem Wandel unterworfen, und galt es demnach nicht auch, neben der synchronen Perspektive eine diachrone zu entwerfen? Die Evidenz dieser Einsicht zog bald die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der Textsorten in der Sprachgeschichte nach sich (vgl. Schenker 1977). Von einer nur annähernd exhaustiven Bearbeitung des neu erschlossenen Forschungsfeldes kann freilich auch heute, rund 40 Jahre später, noch immer keine Rede sein. Zwar sind inzwischen einige Untersuchungen zu diversen historischen Textsorten erschienen (vgl. u. a. Fleskes 1996; Fritz & Straßner 1996; Bendel 1998; Barz 2000; Ziegler 2003; Braun 2004; Pfefferkorn 2005; Fritz 2016a)1, der größere Teil textlinguistischer Arbeiten bezieht sich aber auf die Gegenwart. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zu den gewichtigsten zählen vermutlich die methodischen Schwierigkeiten, die sich bei der Analyse von historischen Texten unweigerlich einstellen. Denn das generelle Problem, das Phänomen Text zu erfassen, potenziert sich noch unter geschichtlichen Vorzeichen, insofern man sich bei der Analyse kaum mehr auf die eigene Sprachkompetenz und das schon erworbene Textsortenwissen verlassen kann und zu einer mühsamen Erschließung des kultur- und sprachgeschichtlichen Horizontes gezwungen ist. Des Weiteren wird die Ausgangslage noch dadurch erschwert, dass aufbereitete historische Korpora nur in begrenzter Zahl zur Verfügung stehen. Wer demnach eine neue Fragestellung in der historischen Textlinguistik bearbeiten möchte, muss zunächst sehr viel Zeit und Mühe für die Erstellung eines adäquaten Korpus aufwenden.
Weshalb es dennoch unbedingt lohnend sein kann, sich mit historischen Textsorten zu beschäftigen, hat Steger überzeugend begründet. Er hält die Untersuchung des
Steger benennt damit indirekt auch die Ziele historischer Textanalyse: Es gilt nicht nur, die in verschiedenen Zeitstufen gebräuchlichen Textsorten umfassend zu beschreiben, sondern auch deren Entwicklungsprozesse, unter Berücksichtigung von Kontinuitäten und Brüchen.
Im Folgenden sind zunächst einige Modelle zu diskutieren, die die Forschung zur Beschreibung von Textsorten generell entwickelt hat. Des Weiteren wird es um die Frage gehen, ob und wenn ja, unter welchen Prämissen sich diese Modelle in historischen Kontexten anwenden lassen.
2.1Textsorten – ein umstrittenes Konzept
Wie bereits angedeutet herrscht in der Textlinguistik keineswegs Einigkeit darüber, was unter dem Begriff Textsorte eigentlich zu verstehen ist.2 Zwar wird die Bezeichnung in der Alltagskommunikation häufig verwendet und ein Großteil der Sprecher nutzt sie, um bestimmte, für die aktuelle Kommunikation relevante Textmengen zu bezeichnen, die Linguistik aber tut sich schwer, den Begriff konzeptionell zu fassen. So halten etwa de Beaugrande & Dressler das Phänomen Textsorte für derart vielschichtig, dass man es, wenn überhaupt, nur in sehr begrenztem Maße beschreiben könne (vgl. de Beaugrande & Dressler 1981: 193 f.). Und auch Heinemann & Heinemann beginnen das betreffende Kapitel in ihren Grundlagen der Textlinguistik mit der Aussage, dass es in der praktischen Kommunikation im Grunde keine konkreten ‚Textsorten‘ gebe und man es gleichsam mit ‚Unkräutern‘ zu tun habe, einem amorphen Phänomen, das sich nur im Wissen der Sprachteilnehmer über mögliche Zuordnungen von Einzelexemplaren zu bestimmten Klassen manifestiere (vgl. Heinemann & Heinemann 2002: 140).
Der Komplexität des Gegenstandes entspricht die Vielzahl der bislang diskutierten Definitionen. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann der schon in den 60er Jahren des 20. Jahrhundert formulierte Vorschlag Peter Hartmanns gelten, wonach Textsorten „Mengen von Texten mit bestimmten Eigenschaften“ sind (Hartmann 1964: 23). Diese Definition ist allerdings, wie Wolfgang Heinemann zu Recht mehrfach (vgl. z. B. Heinemann 2007: 11) zu bedenken gegeben hat, so allgemein, dass sie zwar auf alle Formen der Textkonstitution anwendbar sei, aber auch sehr heterogene Textmengen zusammenfassen oder unsinnige Textsorten erzeugen könnte, wie etwa die Summe aller Textexemplare mit einem Umfang von drei Seiten. Bei der Frage aber, welche „bestimmten Eigenschaften“ denn nun als konstitutiv angesehen werden können, gehen die Meinungen weit auseinander (vgl. Fleskes 1996: 9–10; Heinemann 2000b: 509–513; Heinemann & Heinemann 2002: 64–94; Brinker, Cölfen & Pappert 2014: 139).
In den Forschungsarbeiten der frühen textlinguistischen Phase rückten textuelle Strukturen in den Mittelpunkt, also textinterne Kriterien. Dazu zählen etwa bei Heinemann (2000b: 509 f.) jene Ansätze, die als grammatische und semantisch-inhaltliche Zugriffe zusammengefasst werden können. Ein weiterer, ganz im Zeichen der pragmatischen Wende stehender Vorstoß ging von der Annahme aus, dass vor allem Kontext, Situation und Funktion bei Texten eine bedeutende Rolle spielen. Mittlerweile ist man sich jedoch einig, dass jeder Ansatz, der nur einige wenige Kriterien berücksichtigt, nicht beschreibungsadäquat sein kann. Jüngere Modelle integrieren daher mehrere Faktoren, gemäß der Überzeugung, dass „[f]ür die Konstituierung von Textsorten […] das Zusammenspiel von Parametern unterschiedlicher Ebenen (wenn auch von Textsorte zu Textsorte in unterschiedlichem Grade und mit unterschiedlicher Fokussierung) relevant“ ist (Heinemann 2000b: 513).
Das ‚integrative‘ Modell prägt auch die aktuelleren Definitionen von Textsorten, wie etwa die von Klaus Brinker, die zu den gängigsten des Faches zählt:
Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt und gehören zum Alltagswissen der Sprachteilhaber; sie besitzen zwar eine normierende Wirkung, erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben.
(Brinker, Cölfen & Pappert 2014: 139)
Auch diese Definition ist aber nicht unumstritten. So hat Heinemann (2000b: 515–518) zu Recht auf die etwas problematische Verwendung des Musterbegriffes bei Brinker verwiesen: Während Textsorten im Alltag an konkrete Textexemplare gebunden seien und im Allgemeinen auch atypische Merkmale besäßen (Stichwort: Textsorten als Prototypen), ziele die Rede von Textmustern auf ein ebenso idealtypisches wie abstraktes Modell.
Heinemann (2000b: 513) selbst entwickelt denn auch eine eigene Bestimmung von Textsorte, die ohne den Musterbegriff auskommt. Danach erweisen sich Textsorten als eine begrenzte Menge von Textexemplaren mit spezifischen Gemeinsamkeiten. Diese Gemeinsamkeiten wiederum betreffen mehrere Ebenen: die äußere Textgestalt, charakteristische Struktur- und Formulierungsbesonderheiten sowie inhaltlich-thematische Aspekte, situative Bedingungen und deren kommunikative Funktionen. Ein Nachteil der Heinemannschen Definition besteht freilich darin, dass sie, anders als die Brinkers, von der historischen Dimension vollständig absieht.
Die Frage, in welchem hierarchischen Verhältnis Texte zueinanderstehen und wie diese Abstufungen zu benennen seien, wird ebenfalls kontrovers diskutiert. Heinemann (2000b: 514) schlägt eine Ebene unterhalb der Textsorte vor, die er Textsortenvarianten nennt, und eine übergeordnete Instanz mit abstrakteren Merkmalen und größerem Geltungsbereich, die von ihm als Textsortenklasse bezeichnet wird.
Wie Adamzik gezeigt hat, hängt die Klassifikation der Textsorten auch entscheidend von dem jeweils zu Grunde gelegten Textsortenbegriff ab, und das sowohl in der historischen als auch der gegenwartssprachlich orientierten Textsortenlinguistik. Folgt man der Verfasserin weiter, so lassen sich die diversen Arbeiten aber durchaus systematisieren und entweder unter den Begriff der Texttypologie oder den der Textsortenforschung bringen (Adamzik 1995: 18). Ziel der in der Tradition Isenbergs (1978) stehenden texttypologischen Studien ist es, eine Klassifikation zu erstellen, die vom Wissen der Sprachteilnehmer in der Alltagskommunikation absieht und zu eigenen Kategorien findet. Der hier zu Grunde gelegte Textsortenbegriff ist also ein abstrakt-definitorischer, ...