Der Magnetismus des Guten
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Der Magnetismus des Guten

Historische und systematische Perspektiven des metanormativen Platonismus

  1. 313 Seiten
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Der Magnetismus des Guten

Historische und systematische Perspektiven des metanormativen Platonismus

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Über dieses Buch

Für den metaethischen Realismus sind Werteigenschaften wie die Vortrefflichkeit (engl. excellence) ein irreduzibler Teil der subjektunabhängigen Welt. Obwohl sich diese Position in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit erfreut, bleibt die Frage nach der Ontologie dieser Eigenschaften meist ausgeklammert. Der Magnetismus des Guten diskutiert eine philosophiegeschichtlich höchst einflussreiche, in der zeitgenössischen Metaethik jedoch weitgehend vernachlässigte Antwort auf diese Frage: den metanormativen Platonismus. Ihm zufolge ist das Gutsein im Sinne der Vortrefflichkeit nichts anderes als ein bestimmtes In-Beziehung-Stehen zu einem Ideal. Verschiedene Formen dieser Theorie lassen sich anhand zweier Fragen unterscheiden. Erstens, ist das Ideal selbst normativ irreduzibel? Zweitens, muss es personal oder nicht-personal verstanden werden? Anhand von Studien zu Platon, Plotin, Iris Murdoch und Robert Adams untersucht Der Magnetismus des Guten den Platonismus in seinen verschiedenen Varianten auf seine Erklärungskraft. Das Buch stellt damit zugleich die erste historisch informierte systematische Rekonstruktion der Normativitätstheorie des Platonismus dar.­­

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783110621181

1Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung

Ein meisterlich interpretiertes Orchesterwerk und ein vollendetes Gedicht, eine tiefe wissenschaftliche Theorie und der elegante Flug eines Greifvogels, eine große Persönlichkeit und eine heroische Tat, sie alle können in uns eine eigentümliche Erfahrung gefesselter und gleichzeitig freier Faszination hervorrufen. Kants Wort von der „Bewunderung und Ehrfurcht“, mit der der Anblick des Sternenhimmels „das Gemüt erfüllt“,1 illustriert diese Erfahrung ebenso wie Goethe, der über seine erste Begegnung mit dem Straßburger Münster sagt: „Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. […] Schwer ist’s dem Menschengeist, wenn seines Bruders Werk so hoch erhaben ist, dass er nur beugen, und anbeten muss.“2 Gemeinsam ist den Menschen, Werken und Ereignissen, die diese Erfahrung auslösen, dass sie in ihrer jeweils eigenen Weise weit über das gewöhnliche Maß des Menschen hinausweisen.
Wie jede Erfahrung stellt sich auch diese dar als Erfahrung von etwas: In ihr scheint uns etwas „von außen“ gegenüberzutreten, was in seiner Existenz von unserem Dasein und Meinen unabhängig ist, etwas Großes, Herausragendes, Vollkommenes. Die Größe, die uns in Gegenständen der genannten Art begegnet, ist dabei nicht allein, nicht einmal in erster Linie, ein Übersteigen unseres Vorstellungsvermögens oder unserer Fähigkeiten. Vielmehr ragen solche Dinge dadurch heraus, dass sie nach Art und Grad in einer besonderen Weise gut sind, nicht etwa nur durch ihren Nutz- oder Symbolwert. Diesen Zug einer je eigenen, aber stets auch werthaft zu verstehenden Großartigkeit oder Vollkommenheit, englisch excellence, werde ich im Folgenden auch als Vortrefflichkeit bezeichnen.
Mit der Betonung des Widerfahrnischarakters der Erfahrung soll kein Realismus präjudiziert werden; der Anschein der Unabhängigkeit ließe sich auch anders erklären. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist jedoch eine Position, die die Erfahrung beim Wort nimmt: der Platonismus in der Theorie der praktischen Normativität, kurz metanormativer Platonismus. Er deutet die Vortrefflichkeit, sowohl die ethische von Personen als auch die ästhetische in Kunst und Natur, in realistischer Weise als ein Merkmal der Welt selbst und einzelner Elemente in ihr. Im Unterschied zu anderen realistischen Positionen in der Theorie der Normativität, die Werteigenschaften in der Regel als einfache Qualitäten verstehen, ist die Vortrefflichkeit für den metanormativen Platonismus eine (zweistellige) Relation, eine Beziehung. Denn das Vortreffliche verweist in all seiner Großartigkeit auf ein transzendentes Ideal, dem es in ungewöhnlicher Weise nahekommt, ohne es doch je ganz ausschöpfen zu können. Diese Intuition übersetzt der metanormative Platonismus in eine Metaphysik, indem er die Vortrefflichkeit eines Objekts versteht als den Grad, in dem es einem bestimmten idealen abstrakten Objekt entspricht. Das ist die Kernthese des metanormativen Platonismus, wie er hier verstanden werden soll; verschiedene Varianten ergeben sich dann dadurch, wie diese idealen abstrakten Objekte verstanden werden und welche Beziehung unter der Entsprechung zu verstehen ist.
Einer genaueren Darstellung, theoretischen Einordnung und anschließenden Prüfung des metanormativen Platonismus hat jedoch eine Verständigung über seinen Gegenstand vorauszugehen. Deshalb sollen in diesem einleitenden Kapitel zunächst in Form einer phänomenologischen Vergewisserung wesentliche Züge der angedeuteten Erfahrung der Vortrefflichkeit herausgearbeitet werden (Abschnitt 1.1). Diese Erfahrung aber lässt sich nicht hinreichend beschreiben, ohne dasjenige in den Blick zu nehmen, was das inhärente Objekt dieser Erfahrung bildet. Daher schließt sich eine einordnende Analyse der Vortrefflichkeit anhand zentraler werttheoretischer Kategorien an, die gegenüber der Frage nach ihrem ontologischen Status und ihrer Konstitution noch vollkommen neutral bleibt (Abschnitt 1.2). Mit diesen Vorklärungen dürfte die Vortrefflichkeit als Gegenstand des metanormativen Platonismus klar genug umrissen sein, um die Einleitung mit einem Überblick über den weiteren Gang der Untersuchung abzuschließen (Abschnitt 1.3).

1.1Eine phänomenologische Vorbetrachtung

Vom Vortrefflichen geht eine charakteristische Wirkung aus, die sich – in Anlehnung an eine Formulierung von Iris Murdoch – treffend durch die Metapher vom „Magnetismus des Guten“ veranschaulichen lässt. Diese eigentümliche Anziehung nimmt in den verschiedenen Dimensionen der menschlichen Psyche unterschiedliche Formen an. Affektiv-leiblich kann uns das Vortreffliche spontan mit erhebender, weitender Bewunderung erfüllen; bereits Pseudo-Longinus, ein alexandrinischer Autor des 1. Jahrhunderts, spricht davon, dass „unsere Seele vom wirklich Erhabenen emporgetragen [wird], sie empfängt einen freudigen Auftrieb und wird erfüllt von Lust und Stolz, als habe sie, was sie hörte, selber erzeugt“.3 Kognitiv zieht das Vortreffliche die Aufmerksamkeit auf sich und setzt damit unter bestimmten Umständen einen Prozess des vertieften Verstehens in Gang. Volitional weckt es das Verlangen, mit ihm in eine nähere Beziehung zu treten – entweder in Form des Besitzenwollens4 oder in dem Versuch, ihm, soweit es in unseren Kräften steht, gleich zu werden. Dabei versteht es sich, dass eine scharfe Trennlinie zwischen diesen verschiedenen Dimensionen nicht zu ziehen ist; so enthält die Bewunderung ein Moment kognitiver Wertschätzung, und das Verlangen geht stets mit einem Bewusstsein der Distanz einher. Dennoch verweist ihre wechselseitige Bezogenheit darauf, dass es sich in der Wurzel um Aspekte ein und derselben Reaktion handelt. Diese vielgestaltige, aber einheitliche Reaktion einer liebenden Bewunderung nenne ich mit Robert M. Adams Eros. Eros ist die subjektive Antwort auf den Magnetismus des Guten.5
Selbst angesichts desselben Gegenstands können sich Menschen darin unterscheiden, welches dieser Momente in den Vordergrund rückt, und ob diese Reaktion überhaupt auftritt, hängt zum Teil auch vom Vorliegen gewisser subjektiver Bedingungen ab. Aber dort, wo sie auftritt, sind nicht wir es, die in dieser Beziehung souverän sind; auch das drückt die Metapher des Magnetismus aus. Stets tritt uns in ihr etwas von außen entgegen, was größer ist als wir selbst. Wir messen es nicht an unseren Maßstäben, sondern werden gewissermaßen selbst von ihm gemessen. Dennoch hat das Überwältigende daran, anders als in der Erfahrung der Pflicht, keinen zwingenden oder nötigenden Charakter. Um wirksam zu werden, bedarf das Vollkommene einer gewissen Aufnahme- und Antwortbereitschaft aufseiten des Subjekts. Wenn diese vorhanden ist, wird die Begegnung mit der magnetischen Kraft nicht als Einschränkung, sondern als Erweiterung der eigenen Freiheit erfahren.
Die beschriebene Erfahrung gleicht in vielen Zügen einer Erfahrung des Schönen oder des Erhabenen. Doch vermag das bloß ästhetisch Ansprechende, das Hübsche sie nicht auszulösen. Teil der Erfahrung des Vortrefflichen ist auch das Empfinden seiner Fremdartigkeit, Geheimnishaftigkeit und Unausschöpflichkeit. Goethe drückt dieses Merkmal mit Blick auf den Laokoon folgendermaßen aus: „Ein echtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unsern Verstand immer unendlich; es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, vielweniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden.“6 Bei aller von ihm ausgehenden Inspiration hat das Vortreffliche gleichzeitig etwas Unfassliches, Unbegreifliches, das der vollständigen Aneignung widersteht und bisweilen sogar verwirrend oder beunruhigend wirken kann. Es ist nicht vollständig in der Welt zuhause; es entzieht sich menschlichen Bedürfnissen und Begriffen. Diese Unauslotbarkeit, die eine wesentliche Bedingung seiner Faszinationskraft ist, kann als sein transzendenter Charakter bezeichnet werden.
Soweit es sich um eine Erfahrung von Schönheit oder Erhabenheit handelt, ist sie zudem auch nicht auf das Feld des eigentlich Ästhetischen, auf das sinnlich Wahrnehmbare beschränkt. Ebenso wenig erschöpft sie sich in der Vollkommenheit einer Proportion, sei es in der von Teilen zueinander, sei es in der von eingesetzten Mitteln zu angestrebtem Ziel. Vielmehr – das ist zumindest eine der Voraussetzungen dieser Untersuchung – können auch Vorgänge aus dem Kernbereich dessen, was wir als das Ethische bezeichnen, eine im Wesentlichen qualitativ und strukturell gleiche Reaktion hervorrufen; und zwar insbesondere solche Handlungen, die über das allgemein Erwartbare weit hinausgehen und als heldenhaft oder heiligmäßig erscheinen.7 Diese Art von moralischer Größe findet sich am klarsten in den Extremsituationen, denen sich menschliches Dasein ausgesetzt sehen kann; der folgende Bericht aus dem Konzentrationslager Auschwitz mag geeignet sein, das Gemeinte zu veranschaulichen:
Das Unerwartete ereignete sich mitten im Sommer. Bei einem Appell stellte sich heraus, dass ein Sträfling aus dem Block vierzehn fehlte. Er war nicht zu finden, offenbar war ihm die Flucht gelungen. Darauf verfügte der Lagerführer Karl Fritsch, ein unmittelbar dem Kommandanten Höß unterstelltes langjähriges Mitglied der SS, das Antreten aller Insassen des Blocks, ließ sie in der hochsommerlichen Hitze stundenlang ohne Nahrung in Achtungstellung stehen und teilte ihnen am Abend eine Kollektivstrafe mit, indem er zehn Mann zum Hungerbunker elf verurteilte. An der „Mauer des Todes“ erschossen zu werden, dazu waren die Insassen bereit, aber die Vorstellung von einem langsamen Hungertod presste ihnen die Tränen in die Augen. Unter den völlig willkürlich ausgewählten Männern befand sich auch ein Familienvater, der bei dem Gedanken an seine Frau und an seine zwei Knaben laut aufschrie. Er hieß Franz Gajowniczek, war Sergeant eines Infanterieregimentes und war wegen Flucht aus einem Gefangenenlager nach Auschwitz gekommen. Pater Kolbe kannte ihn nicht näher, und somit handelte es sich bei seiner folgenden Tat auch nicht um einen Freundschaftsdienst.
Obschon es nicht gestattet war, sich auch nur ein wenig zu bewegen, verließ in diesem Moment Pater Kolbe seine Reihe, nahm seine Mütze ab und näherte sich demütig dem Lagerführer, der sofort erschrocken nach dem Revolver griff und ihn anschrie: „Steh! Was ist los?“ Pater Maximilian blieb vor Fritsch stehen und sagte mit leiser Stimme: „Ich möchte statt jenes Verurteilten in den Tod gehen.“ – „Warum?“ fragte der irritierte Lagerführer. Kolbe antwortete: „Ich bin allein, aber jener da hat Frau und Kinder.“ Fritsch vermochte offenkundig Pater Kolbes Blick nicht zu ertragen und fragte verwirrt: „Dein Beruf?“ – „Katholischer Priester“, antwortete Kolbe. Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens, der alle Anwesenden in atemlose Erwartung versetzte, stieß der Lagerführer mit rauher Stimme die Worte hervor: „Geh!“8
Der Art, wie Maximilian Kolbe demütig und doch entschieden den grauenhaften Tod im Hungerbunker wählt, dürfte die moralische Anerkennung kaum zu versagen sein; und gewiss nötigt sie vielen Menschen weit mehr ab als nur Respekt, nämlich Bewunderung. Das liegt nicht allein daran, dass Kolbe supererogatorisch gehandelt hätte, also etwas Gutes getan hat, was nicht von ihm verlangt werden konnte, denn es gibt viele lobenswerte, aber nicht streng verpflichtende Handlungen, die uns kein derartiges Staunen abnötigen. Kolbe dagegen kann man in einer Weise bewundern, die die Anerkennung des Vorbildlichen, des Exemplarischen seines Handelns mit dem Eingeständnis der Entfernung verbindet, die uns von ihm trennt. Gerade die Frage, wie wir selbst uns in der entsprechenden Situation verhalten hätten, lässt aber jene weitere natürlich erscheinen, was einen Menschen überhaupt zu derartigem Handeln befähigt. Und obwohl wir nicht das Gefühl haben, hier sei lediglich der Pflicht Genüge getan worden, ist das Beispiel Maximilian Kolbes dazu angetan, den Wunsch zu erwecken, in seiner Nachfolge ähnlich fähig zu bedingungsloser Selbsthingabe zu werden. In all diesen Zügen – affektiv, kognitiv, volitional – unterscheidet sich die Reaktion des Eros, die durch Kolbes Tat ausgelöst werden kann, nicht prinzipiell von der Erfahrung des Vollkommenen in Kunst und Natur.
Dies rechtfertigt es, von einer grundlegenden Verwandtschaft der Formen von Vortrefflichkeit auszugehen, wie sie uns an Kunstwerken, in Naturereignissen und in menschlich bewundernswerten Handlungen begegnet. Damit soll nicht geleugnet werden, dass es bedeutende Unterschiede zwischen einer großen Tat, einer inspirierten Jazzimprovisation und einem Sonnenaufgang über Seenebel gibt. Ein solcher Unterschied scheint darin zu liegen, dass wir uns dem Magnetismus des ethisch vortrefflichen Handelns schlechter entziehen können und auch weniger entziehen dürfen als dem ästhetischen. Zudem stellt die „moralische Schönheit“, die Vortrefflichkeit im Handeln, Forderungen der Nachahmung an den Betrachter selbst, die von Kunst- oder Naturwerken nicht ausgehen. Doch sind auch diese allem Anschein nach nicht frei von Ansprüchen an ihre Betrachter. Das reicht von ganz natürlich mit ihnen einhergehenden Anforderungen des Schützens und Bewahrens über die Aufforderung, sich in sie zu versenken, bis hin zu einer allgemeinen Mahnung zur Selbstvervollkommnung, wie sie beispielsweise die letzte Zeile von Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ enthält.9
Ein wesentlicher Zug der Erfahrung der Vortrefflichkeit ist also das Bewusstsein, dass der vortreffliche Gegenstand eine Reaktion der liebenden Bewunderung nicht nur kausal hervorruft, sondern sie auch verdient, dass er sie angemessen macht, vielleicht sogar verlangt. Der Magnetismus des Guten hat somit außer einem motivationalen auch einen normativen Aspekt. Das bedeutet nicht automatisch, dass die Vortrefflichkeit in nichts anderem besteht als der Angemessenheit bestimmter Reaktionen, wie es sog. Fitting-attitude-Analysen des Guten vorsehen,10 oder dass die Bezeichnung als vortrefflich nur das Vorliegen anderer, natürlicher Eigenschaften anzeigt, die dann den eigentlichen Grund für die Angemessenheit der Bewunderung darstellen (sog. Buck-passing-Analysen).11 Vielmehr scheint es intuitiv plausibel zu sagen, dass etwas bewundernswert sei, weil es vortrefflich ist, und nicht umgekehrt;12 die Bewunderung präsentiert sich als eine durch ihren Gegenstand gerechtfertigte Reaktion, und zwar als eine Reaktion auf die von natürlichen Eigenschaften organisierte Vortrefflichkeit selbst, nicht als Reaktion auf diese natürlichen Eigenschaften (die an anderen Gegenständen vorliegen mögen, ohne Bewunderung zu verdienen).13 Phänomenologisch erscheint die Vortrefflichkeit damit als jene Eigenschaft, die die Reaktion des Eros in ihren verschiedenen Facetten sowohl auszulösen vermag als auch verdient.

1.2Vortrefflichkeit als artrelatives finales Gutsein

Nach diesem ersten, phänomenologischen Zugriff soll die Vortrefflichkeit im nun folgenden Abschnitt anhand zweier zentraler werttheoretischer Kategorien näher bestimmt werden. Wenn die Vortrefflichkeit eine Form des Gutseins ist, dann stellen sich für sie dieselben Fragen, die auch mit Bezug auf andere Arten des Guten diskutiert werden: Sind vortreffliche Dinge (Werke, Personen…) schlechthin vortrefflich, oder enthält diese Bezeichnung stets eine implizite Relativierung auf ihre Gattung? Wenn Letzteres, bedeutet dies nicht, dass die Kriterien dafür, was ein vortreffliches Exemplar einer Art ist, im Begriff dieser Art selbst zu suchen sind? Und hängt der Wert dieses Exemplars dann nicht vom Wert der Art ab, so dass ihm ein intrinsischer Wert abzusprechen ist? Die Antworten auf diese Frage werden dabei metaphysisch noch vollständig neutral sein – sie beziehen sich lediglich auf die logische Grammatik de...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Danksagung
  6. Inhalt
  7. 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung
  8. 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung
  9. 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit
  10. 4 Platon und die Metaphysik der Ideen
  11. 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus
  12. 6 Plotin: Streben nach dem Einen
  13. 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit
  14. 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute
  15. 9 Schlussbetrachtung
  16. Literatur
  17. Personenregister
  18. Sachregister