1Einleitung
Ehlich und Rehbein (1986: 170) bezeichnen die Institution Schule als eine „weitgehend versprachlichte Institution“, in der Wissen in einer „versprachlichten Form“ erscheine. Und auch nach Schmölzer-Eibinger et al. (2013: 11) ist „Sprache […] in der Schule ein zentrales Medium des Lehrens und Lernens“. Sprache kann jedoch nicht allein als Medium des Lernens, sondern auch als Lern- resp. Erwerbsgegenstand im Unterricht konzeptualisiert werden (vgl. Felder 2006; Ossner 2008: 89). Roeder und Schümer (1976) sprechen diesbezüglich vom Unterricht als Sprachlernsituation. Schmölzer-Eibinger et al. (2013: 11) schreiben, dass im „Unterricht […] gelernt werden [soll], wie Sprache in Bildungskontexten verwendet und im Fachdiskurs eingesetzt werden kann“. In diesem Zusammenhang kommen zentral zwei Fragestellungen in den Blick: Zum einen „wie die Sprache der Schule beschaffen ist“ (Schmölzer-Eibinger 2013: 27), wie also der Lern- und Erwerbsgegenstand genau zu beschreiben ist, und zum anderen, welche „Wirk- und Einflussfaktor[en]“ (Pohl 2007b: 90) den Spracherwerb im Unterricht möglicherweise beeinflussen können – an dieser Stelle gelangen die Lehrerinnen und Lehrer in den Fokus des Interesses.
Mit Blick auf die erste Fragestellung wurden verschiedene Konzeptualisierungen der im Unterricht geforderten (und geförderten) Sprache entwickelt, wie „,cognitive/academic language proficiency (CALP)‘“ (Cummins 1979: 198), „language of schooling“ (Schleppegrell 2001, 2004), „Bildungssprache“ (z. B. Gogolin 2006; Ahrenholz 2010; Feilke 2012a; Morek & Heller 2012; Riebling 2013), „Schulsprache“ (Feilke 2012a, 2012b; Vollmer & Thürmann 2010), „Fachsprache“ (z. B. Chlosta & Schäfer 2008; Grießhaber 2010a, 2013; Ohm et al. 2007; Kniffka & Roelke 2016), „Alltägliche Wissenschaftssprache“ (Ehlich 1995, 1999; Uesseler et al. 2013) oder das Konzept der „Epistemisierung“ nach Pohl (2016). In vorliegender Arbeit müssen diese Konstrukte auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht werden. Eine Gemeinsamkeit, die bei der Analyse dieser Konstrukte immer wieder in den Blick kommt, ist ihr expliziter Bezug oder ihre implizite Beziehbarkeit auf das Konstrukt der konzeptionellen Schriftlichkeit nach Koch und Oesterreicher (1986), wie in folgendem Zitat von Gogolin (2006):
Im Konstrukt ‚Bildungssprache der Schule‘ sind Gesetzmäßigkeiten der formalen, geschriebenen Sprache wirksam: ‚Schriftförmigkeit‘ ist ein wesentliches Merkmal leistungsrelevanter schulischer Kommunikation, und zwar auch dann, wenn sie sich mündlich vollzieht. (Gogolin 2006: 82)
Vogt spricht so auch von einem „Primat der schriftsprachlichen Kompetenzförderung“ (2004b: 206) in der Schule, Günther (1993) von einer „Erziehung zur Schriftlichkeit“ durch die Schule (vgl. ähnlich auch Bräuer 2011: 16–17). Die Überlegung ist also, dass auch in medial mündlicher schulischer Kommunikation Merkmale der (konzeptionellen) Schriftlichkeit relevant werden – auch unter Berücksichtigung der institutionellen Rahmenbedingungen der Schule. Wenn man solchermaßen die Überlegung anstellt, konzeptionelle Schriftlichkeit als gemeinsame konzeptuelle Klammer der vorliegenden Modellierungen der Unterrichtssprache anzusehen, liegt der Schluss nahe, die im Unterricht verwendete und zu erwerbende Sprache mit Hilfe von Kategorien konzeptioneller Schriftlichkeit und nicht mit Hilfe eines untergeordneten Konstrukts zu analysieren. Betrachtet man jedoch das von Koch und Oesterreicher in unterschiedlichen Publikationen diskutierte Konzept (vgl. 1986, 1990, 1994, 2007, 2008), so muss mit Ágel und Hennig (2007) auffallen, dass es nicht in operationalisierter Form vorliegt. Sie arbeiten heraus, dass
eine verlässliche Einordnung einzelner Diskursarten in das Nähe-Distanz-Kontinuum anhand der Identifizierung der einzelnen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien kaum möglich ist. (Ágel & Hennig 2007: 183)
Das Konzept von Koch und Oesterrreicher kann also nicht ad hoc zur Analyse der Unterrichtssprache eingesetzt werden. In vorliegender Arbeit muss folglich eine Operationalisierung konzeptioneller Schriftlichkeit erfolgen, bevor die im Unterricht verwendete Sprache analysiert werden kann.
Mit Blick auf die zweite Fragestellung nach den Wirk- und Einflussfaktoren muss den Lehrerinnen und Lehrern als „Agenten der Institution Schule“ (Ehlich 2009: 332) „mit einer nicht zu unterschätzenden Vorbildfunktion, die sich auch in mündlicher Kommunikation widerspiegelt“ (Neuland et al. 2009: 398), eine besondere Rolle zukommen. Der Einfluss von Lehrpersonen auf die Entwicklung mündlicher Kompetenzen von Schüler/-innen ist jedoch laut Eriksson (2009: 147) bislang wenig erforscht. Wendet man sich der Unterrichtsinteraktionsforschung zu, um Antworten auf diese Frage zu erhalten, kann man herausarbeiten, dass durch sie oft eine dominierende und die Schüler/-innen in ihrer Kommunikationsfähigkeit einschränkende Rolle der Lehrpersonen beschrieben wurde, wie z. B. in der Studie von Bellack et al. (1974: 91), in der im Sinne der Sprachspieltheorie Wittgensteins herausgearbeitet wurde, dass auf drei sogenannte Spielzüge der Lehrpersonen nur zwei der Schüler/-innen kommen und dass „die Hauptaufgabe der Schüler in der Reaktion auf die Aufforderungen der Lehrer“ (Bellack et al. 1974: 91) besteht. Auch aktuellere Untersuchungen bestätigen die dominierende Rolle der Lehrpersonen im Unterricht, wie die Studie von Richert (2005: 122), die einen 56,76 %-igen lehrerseitigen Redeanteil berichtet. Demgegenüber soll im vorliegenden Promotionsprojekt dezidiert eine erwerbsorientierte Perspektive verfolgt werden. Um mögliche spracherwerbsförderliche Leistungen der Lehrersprache (mit Bezug auf die Förderung konzeptioneller Schriftlichkeit in der Schule) besser einschätzen zu können, ist es notwendig, auf Arbeiten aus der input- und interaktionsfokussierten Erst- sowie Zweit-/Fremdspracherwerbsforschung zurückzugreifen, die einen (positiven) Einfluss der Sprache von Bezugspersonen auf den Spracherwerb von Kindern untersuchen (vgl. z. B. Szagun 2011: 171–205). Es geht in dieser Forschungsrichtung um Fragestellungen der Adaption an die lernerseitigen Fähigkeiten bei gleichzeitiger Modellfunktion der Sprache der Bezugsperson (wie beim „[f]ine-tuning“, Snow et al. 1987: 66) (Perspektive der Inputadaption), um stützende Bezugnahme auf lernerseitige Äußerungen, z. B. in Reformulierungen (vgl. z. B. Farrar 1990) (Perspektive der mikrointeraktionalen Stützmechanismen) und um die Generierung von spracherwerbsförderlichen Interaktionsstrukturen, wie beim Scaffolding-Begriff nach Bruner (z. B. 2002 [1983]) (Perspektive der makrointeraktionalen Stützmechanismen).
So soll durch die Anwendung von Konzepten aus der Erst- sowie Zweit- und Fremdspracherwerbsforschung auf den Kontext schulischen Lernens die an die Schülerinnen und Schüler gerichtete Sprache (SgS) (vgl. Pohl 2006: 3) von Lehrerinnen und Lehrern aus einer erwerbsorientierten Perspektive betrachtet werden. In vorliegender Untersuchung soll somit zum einen der Frage nachgegangen werden, wie sich die von den einbezogenen Lehrpersonen an die Schüler/-innen gerichtete Sprache von der Grundschule über die Unterstufe und Mittelstufe bis zur Oberstufe des Gymnasiums in den Fächern Deutsch und Biologie/Sachunterricht verändert. Diese Veränderungen sollen mit zu generierenden Analysekategorien konzeptioneller Schriftlichkeit nach Koch und Oesterreicher (1986) untersucht werden. Es soll zum anderen beschrieben werden, welche sprachlich-interaktionalen Stützmechanismen die Lehrpersonen auf Mikro- und Makroniveau einsetzen, die zur Förderung konzeptioneller Schriftlichkeit beitragen können, – und ob sich der Einsatz dieser Stützmechanismen im Jahrgangsstufenverlauf ändert. Dazu muss eine explorativ-deskriptive, hypothesengenerierende Videostudie konzipiert werden, deren zentrales methodisches Element die Konstanthaltung des Faktors Lehrperson in unterschiedlichen gymnasialen Jahrgangsstufen ist. Diese Studie soll so auch ein Beitrag zur (deutschdidaktischen) Lehrerforschung sein, in der Studien zum konkreten sprachlichen Unterrichtshandeln von Lehrpersonen, zu ihrem „Wissen 3“ nach Neuweg (2011: 453), ein Desiderat darstellen (vgl. Abschn. 7.9; vgl. Bräuer & Winkler 2012: 76). Spracherwerbsförderliche Effekte der untersuchten Lehrersprache auf Schülerseite können in dieser explorativen Studie jedoch nicht nachgewiesen werden.
In einem theoretischen Teil werden die Ausgangspunkte der Untersuchung in einer vierschrittigen Argumentationsfolge aufbereitet. Im ersten theoretischen Kapitel (vgl. Kap. 2) soll die Frage nach der im Unterricht geforderten Sprache im Fokus des Interesses stehen, indem die institutionellen Rahmenbedingungen der Unterrichtskommunikation beschrieben werden und zudem vorliegende Konzepte der Unterrichtssprache in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden betrachtet werden. Institutionelle Rahmenbedingungen und Konzepte der Unterrichtssprache sollen dabei jeweils auf ihrem Zusammenhang mit dem Konstrukt der konzeptionellen Schriftlichkeit nach Koch und Oesterreicher (1986) befragt werden.
Im nächsten theoretischen Kapitel 3 soll sodann die Modellierung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit nach Koch und Oesterreicher (1986) einer intensiven Re-Analyse unterzogen werden und zwar solchermaßen, dass daraus Dimensionen der Operationalisierung konzeptioneller Schriftlichkeit resultieren, innerhalb derer Analysekategorien zum Studium der konzeptionellen Schriftlichkeit in der Schule gewonnen werden können.
In Kapitel 4 sollen vorliegende Studien zur Lehrersprache im Unterricht in den Blick genommen werden. In diesem Kapitel werden Studien zu Redeanteilen von Lehrpersonen, Lehrerfragen sowie zur dreischrittigen interaktionalen Sequenz der Unterrichtskommunikation (bestehend aus lehrerseitiger Initiierung, schülerseitiger Reaktion und lehrerseitigem Feedback) referiert sowie dahingehend befragt, inwiefern durch sie eher die dominierende, die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler/-innen einschränkende Rolle der Lehrpersonen betont wird oder demgegenüber auch spracherwerbsförderliche Aspekte der Lehrersprache im Fokus des Interesses stehen.
Im letzten theoretischen Kapitel der Arbeit (Kap. 5) sollen sodann Anleihen aus der input- und interaktionsfokussierten Spracherwerbsforschung (sowohl Erst- als auch Zweit- und Fremdspracherwerbsforschung) gemacht werden, und zwar hinsichtlich der drei Zugriffsweisen auf die Sprache der Bezugspersonen (Inputadaption und mikro- sowie makrointeraktionale Stützmechanismen). In diesem Kapitel muss auch der Frage nachgegangen werden, ob schon Studien zur Sprache von Lehrpersonen vorliegen, die solchermaßen Anleihen aus der Spracherwerbsforschung machen. Aus diesen theoretischen Vorarbeiten kann in Kapitel 6 die Zielsetzung der Studie sowie ihr methodisches Design als explorativdeskriptive, hypothesengenerierende (Video-)Studie abgeleitet werden (Kap. 7).
In den Analysekapiteln werden die Ergebnisse der Studie unter den drei aus der Spracherwerbsforschung entlehnten Zugriffsweisen auf die Sprache der Lehrpersonen vorgestellt: unter Inputadaptionsperspektive (Kap. 8), unter Perspektive der mikrointeraktionalen Stützmechanismen (Kap. 9) und unter Perspektive der makrointeraktionalen Stützmechanismen (Kap. 10). In diesen Ergebniskapiteln werden immer auch die schülerseitigen Beiträge zum Unterrichtsdiskurs, als Orientierungsgröße der Adaption aufseiten der Lehrpersonen, mit in die Analyse einbezogen. Die Analysen in Kapitel 8 sind zudem grundlegend für die weiterführenden Analysen der mikro- und makrointeraktionalen Stützmechanismen. Denn die dort präsentierten Inputadaptionsdaten erlauben zu beschreiben, inwiefern die sprachlich-interaktionalen Stützmechanismen zur Förderung konzeptioneller Schriftlichkeit eingesetzt werden.