Imaginationen der Angst
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Imaginationen der Angst

Das christliche Wunderbare und das Phantastische

  1. 254 Seiten
  2. German
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Imaginationen der Angst

Das christliche Wunderbare und das Phantastische

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Die Phantastik etablierte die Angst vor dem Übernatürlichen in der Literatur. In vormodernen literarischen Texten sucht man hingegen vergeblich nach dem gezielt evozierten Horror. Er findet sich stattdessen in christlichen Exempla: Sie evozieren den Schrecken aus didaktischen Gründen. Von diesem Befund ausgehend, wird die in der Forschung konsequent negierte Bedeutung des christlichen Wunderbaren für die Phantastik bis ins 20. Jh. erörtert.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783110604559

1 Das phantastische Potential christlicher Wundererzählungen

1.1 Die christliche Lehre und die Literatur

Das christliche Denken des Mittelalters stand bekanntlich allen Formen von Kunst, die nicht der Verherrlichung Gottes gewidmet waren, kategorisch ablehnend gegenüber. Das gilt insbesondere für das Staunen Erregende: Die Kirche bekämpfte jede Form des Wunderbaren1, die nicht mit dem Konzept des miraculum vereinbar war. Staunen, das nicht auf Gott bezogen ist, gilt spätestens seit Augustinus als tadelnswert, führt es doch zur Gottvergessenheit. Berühmt ist die Verurteilung des philosophischen Staunens in den Confessiones: Das thaumazein, von dem Platon und Aristoteles schreiben, es markiere den Beginn aller Philosophie, mündet dem Kirchenvater zufolge nur in curiositas und morbus cupiditatis.2 Der Vorwurf richtet sich aber nicht allein an die philosophische und wissenschaftliche Neugier, sondern betrifft, wie die concupiscentia oculorum, auch die Lust am literarischen und unterhaltenden Staunen. Wessen Aufmerksamkeit von Dingen in Anspruch genommen wird, die auf vordergründige Weise allein seine Sensationslust ansprechen, der gibt sich den äußerlichen, oberflächlichen, rein sinnlichen Verlockungen der Welt hin und gefährdet auf diese Weise sein Seelenheil. Die christliche Auffassung des Wunderbaren verlangt, dass ein prodigium über den Reiz des Außergewöhnlichen hinaus stets zugleich ein auf die göttliche Offenbarung verweisendes signum et portentum ist. Einzig das Staunen über zeichenhafte, auf Gott weisende miracula ist den Christen erlaubt, alle anderen Formen der admiratio sind unzulässig. Das gilt für das Staunen über mirabilia, die dem Bereich des Natürlichen und eben nicht dem des Übernatürlichen zuzuschlagen sind,3 wie für das durch künstlerische Artefakte hervorgerufene Staunen. Ohnehin paganen Ursprungs, provoziert das Staunen über von Menschen geschaffene bildliche oder narrative, nicht der Erbauung dienende Trugbilder seit Augustinus die Gottvergessenheit, denn die allein Gott und dem Gottessohn zustehende admiratio darf keinem Odysseus und keinem Aeneas zukommen. Erzählungen, die nicht auf die Offenbarung verweisen, gehören zum Bereich der Fiktionen im schlechtesten Sinne, sie sind fabulae, Erfindungen, die von der Wahrheit ablenken. Das Erzählen darf nur dann auf die Evokation von Affekten zielen, wenn diese Affekte im Dienste der Erbauung und Belehrung stehen, wie dies etwa in Heiligenlegenden der Fall ist.
Die Entstehung moderner Literarizität wird vor diesem Hintergrund in der Regel als Prozess der Emanzipation des zweckfreien, nur der delectatio (im weitesten Sinne) verpflichteten Erzählens von früheren, pragmatischen Erzählformen meist christlichen Inhalts erklärt. Als ein Paradebeispiel für diese Sichtweise auf die Anfänge der Literatur gilt, neben dem höfischen Roman, die Novelle, insbesondere das Decamerone: Boccaccio greife in seinen Novellen auf ältere Erzählformen zurück, modifiziere sie dabei inhaltlich wie formal grundlegend und entfremde sie dadurch ihrem ursprünglichen Verwendungskontext. Auf diese Weise würden Merkmale christlicher Textsorten wie Heiligenlegende und Exemplum in zweckfreie Literatur überführt. Damit einher gehe in der Regel die Infragestellung und sogar Zerstörung der weltanschaulichen Ordnung, die den älteren, noch nicht im eigentlichen Sinne literarischen Gattungen zugrunde liege.4 Literarizität und Fiktionsbewusstsein, so die allgemeine Überzeugung, haben sich gerade in Opposition zum christlichen Umgang mit Literatur entwickelt.
Die vorliegende Arbeit will diesen Befund weder in Frage stellen noch widerlegen, wohl aber differenzieren, indem sie eine andere Perspektive einnimmt. So zutreffend die These vom Konnex zwischen der Entstehung der modernen Literatur und dem Konzept der Zweckfreiheit ist, so sehr geraten in dieser Sichtweise die narrativen Verfahren der christlichen Texte aus dem Blick. Es trifft ja in der Tat zu, dass das Wunderbare in Heiligenlegenden, Mirakeln und Exempla in aller Regel vollständig theologisch legitimiert ist: Autoritäre Lehrmeinungen über Heilige und die Wunder Gottes, über Diesseits und Jenseits, über echte und scheinbare Wiedergänger bestimmen den Aufbau dieser Geschichten. Die strukturierende Funktion, die in dichterischen Texten der Poetik zukommt, so eine in der Forschung weit verbreitete Position, werde in den christlichen Gebrauchstexten durch die Lehre vom rechten Glauben besetzt, wobei die Theologie die starke Tendenz habe, alle Aspekte der Darstellung und Erzählung auf die Frage nach der Dignität des Gegenstands zu reduzieren.5 Und da die Theologie gebietet, dass alles Staunenswerte und Wunderbare allein auf Gott zurückführbar sein darf, betreibe das christliche Denken folglich eine ‚Austreibung des Wunderbaren‘6, wie Jacques Le Goff es genannt hat: Die Einordnung eines Ereignisses als miraculum tilge das Staunen restlos durch die Zurückführung des nicht Verstehbaren auf den Willen und die Handlungen Gottes, der als einziges Wesen contra oder praeter naturam handeln kann, da er ja die Natur selbst erschaffen hat. Die narrative Gestaltung der christlichen Wundergeschichten scheint also zunächst die Diagnose zu bestätigen, vor allem aufgrund der maximalen Transparenz der Erzählung im Hinblick auf eine erbauliche Sentenz oder ein Glaubensprinzip.
Allein dieser an das Christentum gerichtete Vorwurf, das Wunderbare zu domestizieren, greift zu kurz. Zum einen ist die Dominanz exemplarischer und allegorischer Konstruktionslogiken ein generelles Merkmal mittelalterlichen Erzählens, sie finden sich nicht allein in christlichen Texten. Ohne Zweifel treten sie besonders deutlich in christlichen Texten zutage, doch eben nicht ausschließlich dort und dort nicht ausschließlich. Abgesehen davon, dass die Transparenz auf die Sentenz hin einerseits und die Verkettung der Ereignisse nach anderen Kompositionsprinzipien wie Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit andererseits keinen strukturellen Widerspruch darstellen müssen, versperrt das Urteil den Blick auf die Vielfalt des Erzählens vom christlichen Wunderbaren. Heiligenlegenden, Exempla und Mirakel sind pragmatische Texte; sie sind fast ausnahmslos Bestandteil einer sehr konkreten Rezeptionssituation und ziehen ihre Legitimation in der Tat nicht daraus, Staunen oder gar Angst als ‚ästhetischen‘ Kitzel zu bieten. Das hindert die Verfasser dieser Geschichten aber nicht daran, Effekte des Staunens und des Schreckens erzielen zu wollen, und zwar auf mitunter offensichtlich kunstvolle Weise und mit einem Hang zu Originalität und Überbietung. Die Tatsache, dass sich diese zunehmende Rhetorisierung der Offenbarungsbotschaft in der Abgesichertheit des theologischen Diskurses vollzieht und der sensus moralis in aller Regel dadurch unbeeinträchtigt bleibt,7 wird üblicherweise und nicht zu Unrecht als Beleg für die umfassende Dominanz der Theologie über das christliche Erzählen betrachtet. Andererseits aber lässt sich nicht leugnen, dass sich bei all diesen Geschichten, die sich völlig innerhalb des Horizonts des christlich Legitimen bewegen, eine ‚Literarisierung‘ und ‚Ästhetisierung‘ des christlichen Wunderbaren vollzieht.8 Den Kern dieser ‚Ästhetik‘ bildet die erklärte Absicht, im Leser admiratio bis hin zu horror, tremor und stupor zu erzeugen. Die Sorgfalt in der Ausgestaltung unheimlicher Szenerien geht in manchem Text so weit, dass mitunter der sensus moralis hinter die Exposition des Unheimlichen gleichsam auf den zweiten Rang verwiesen zu werden scheint. So entwickeln sich in vielen christlichen Gebrauchstexten Erzählverfahren, die sich als frühe Schreibweisen des Wunderbaren und des Phantastischen, wie es sich in späteren Jahrhunderten in der fiktionalen Literatur entwickeln wird, bezeichnen lassen – einer ‚Literatur der Angst‘9 eben. Dies geschieht nicht trotz Theologie und kirchlicher Literaturfeindlichkeit, sondern gerade im Rahmen einer theologischen Indienstnahme des Unheimlichen und sogar des Phantastischen: Die Phänomene werden in das Dogma integriert.
Die Annahme einer Affinität von christlichem Wunderbaren und literarischer Phantastik wird nicht nur Zustimmung finden. Denn während das Christentum das Unerklärliche und Wunderbare generell und überall durch Gott ersetzen will, steht das Phantastische gerade im Zeichen entgegengesetzter Eigenschaften. Es setzt ein durch Naturgesetze fundiertes Weltbild voraus, indem für göttliche Wunder kein Platz ist: „Le fantastique, j’y insiste, est partout postérieur à l’image d’un monde sans miracle, soumis à une causalité rigoureuse.“10 Phantastik erzählt vom Einbruch des Unerklärlichen ins Alltägliche, vom Zweifel, ob es ‚mit rechten Dingen zugeht‘, von Angst und Schrecken – gerade das bis zum Schluss Rätselhafte steht hoch im Kurs in der philologischen Beschäftigung mit phantastischen Texten. Doch eben dies, die plötzliche Konfrontation mit dem Verstörenden im Alltag, kennzeichnet auch die christlichen Wundergeschichten, die im Folgenden analysiert werden sollen. Die weitverbreitete, um nicht zu sagen allseits anerkannte These, dass die christliche Lehre das Wunderbare regelrecht austreibe, übersieht einen zentralen Aspekt des christlichen Denkens: die konstitutive Inkommensurabilität von göttlicher und menschlicher Rationalität. Auch jedes Wunder beinhaltet einen bis zum Schluss unkontrollierbaren Aspekt des als göttliche Handlung erklärten Eingriffs in den gewöhnlichen Lauf der Dinge. Die, denen das Übernatürliche begegnet, können das Wunder niemals erschöpfend verstehen, denn das hieße, die menschliche und die göttliche Rationalität gleichzusetzen. Und auch die Bemühungen derjenigen, die vom Wunder erzählen, möglichst viel zu erklären, können diese Unsicherheit nie ganz beseitigen. Diesen für die phantastische Dimension des miraculum ganz wesentlichen Aspekt vernachlässigt die Literaturwissenschaft beständig. Hinzu kommt, dass die Erklärung des Wunders als diesseitiges Eingreifen Gottes contra oder praeter naturam bei näherer Betrachtung zu kurz greift. Das Wunder bedeutet nicht nur den Einbruch des Transzendenten in die diesseitige Welt; es ist zudem die Manifestation einer normalerweise verborgenen und für den Menschen opaken höheren Ordnung, die derjenigen der Welt, die der Mensch zu kennen glaubt, ganz offensichtlich weit überlegen ist. In dieser durch das miraculum ausgelösten furchteinflößenden Erkenntnis liegt das wohl größte phantastische Potential des christlichen Wunderbaren.11
Es sei an dieser Stelle noch betont, dass von einer literarischen Ästhetik im engeren Sinne im Falle der hier verhandelten Texte selbstverständlich keine Rede sein. Gleichwohl handelt es sich bei ihnen um sprachlich-narrative Artefakte mit spezifischen causae scribendi; ihren Verfassern stehen bei ihrem Vorhaben, den Zuhörer und Leser durch das Ansprechen seiner Vernunft wie seiner Affekte zu belehren, zu überzeugen und emotional zu bewegen, nun einmal allein sprachliche Mittel zur Verfügung.12 Die Verurteilung der christlichen Gelehrtenkultur als Totengräberin des Wunderbaren betont zu einseitig die kognitive Seite der christlichen Texte und vernachlässigt darüber die rhetorischen und erzählerischen Mittel, mittels derer Staunen und Angst dargestellt und evoziert werden. Viele Exempla begnügen sich damit, die Affekte einfach nur benennen, in anderen aber erhält der Leser bzw. Zuhörer einen ‚Stellvertreter‘ in der Diegese zugewiesen, der genau die Angst empfindet, die in der Rezeption ausgelöst werden soll. Die textuellen Verfahren können sogar so weit gehen, die Begegnung mit dem Übernatürlichen in gewisser Weise sinnlich erfahrbar zu machen, nämlich dann, wenn die Wahrnehmung selbst zum Gegenstand der Darstellung wird. Leserlenkung, Spannungsaufbau und affektive Wirkung sind keine Privilegien fiktionaler oder dichterischer Texte, ja, der Verwendungszweck der im Folgenden interpretierten christlichen Texte, fast ausschließlich Exempla, verlangt gerade danach, dass die Angst im Angesicht des Übernatürlichen nicht nur dargestellt, sondern im Leser und Zuhörer selbst evoziert wird. Die Frage „Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur?“13 ist damit also gar nicht berührt, denn die lateinischen Texte, um die es hier gehen soll, sind in keiner Weise Teil einer literarischen Kommunikationssituation. Sie gehen stattdessen vollständig in ihrer utilitas auf. Sämtliche in ihnen auffindbare rhetorische und narrative Verfahren dienen allein der Aufmerksamkeitslenkung der Ungebildeten und haben nichts mit Dichtung im engeren Sinne gemein. In zeitgenössischer Wahrnehmung werden christliche Wundergeschichten womöglich durchaus einen Unterhaltungswert besessen haben, doch decken sich dabei delectare und movere mit einer christlich legitimen admiratio, d. h. sie beziehen sich auf einen Gegenstand von theologischer Dignität. Die motivische wie stilistische Kontinuität zwischen wunderbaren Erbauungstexten des Mittelalters und frühneuzeitlichen Flugblatt-Schauergeschichten bestätigt jedoch die Vermutung, dass das Potential eines ‚genüsslichen‘ Schreckens bereits in den christlichen Exempla des Mittelalters zumindest angelegt ist.14 Die sprachlichen Mittel in der Darstellung des Schreckens gewinnen im Laufe der Jahrhunderte offenbar ein Eigenleben jenseits der erbaulichen Absichten der Autoren. So schreibt Erasmus im Encomium moriae (1509) von eben jenen erzählerischen Gegenständen christlicher Texte, die im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehen:
Caeterum illud hominum genus haud dubie totum est nostrae farinae qui miraculis ac prodigiosis gaudent mendaciis, vel audiendis vel narrandis. Nec vlla satietas talium fabularum, cum portentosa quaedam, de spectris, de lemuribus, de laruis, de inferis, de id genus milibus miraculorum commemorantur; quae quo longius absunt a vero, hoc et creduntur lubentius et iucundiore pruritu titillant aures. Atque haec quidem non modo ad leuandum horarum taedium mire conducunt, verum etiam ad quaestum pertinent, praecipue sacrificis et concionatoribus.15
Ein sehr anschauliches Beispiel für dieses Nebeneinander von Nervenkitzel und Erbauung liefert Roger Chartier in seiner vergleichenden Analyse zweier Flugblatt-Exempla über eine wundersam errettete Gehängte.16 Die Faszination eines bedrohlichen Übernatürlichen, das die reißerischen Flugblätter17 prägt, ist nicht mehr oder nur noch stark modifiziert an die didaktische Kommunikationssituation gebunden, ja, es stellt sich sogar die Frage, ob die einer ungebildeten Leserschaft gegenüber beteuerte Verbürgtheit und Wahrhaftigkeit des Berichteten eigentlich viel mehr darstellt als die Schwundstufe einer einstmals sehr konkreten christlich-erbaulichen Kommunikationssituation, die nunmehr nur noch der Steigerung des Nervenkitzels dient. Als bräuchte es dieses Beharren auf der Faktizität geradezu, um so etwas wie einen Vorläufer jenes schönen Schauers entstehen zu lassen, den die gothic novel dann im 18. Jahrhundert voll realisieren wird (bezeichnenderweise anfangs noch in der Überzeugung, dabei nicht auf den thrill des Authentischen verzichten zu können, wie Horace Walpoles Vorworte von 1764 und 1765 zu The Castle of Otranto verdeutlichen).
Am Beispiel von Erzählungen des christlichen Wunderbaren soll im Folgenden gezeigt werden, dass sich das frühe Verhältnis von klerikaler Gelehrtenkultur und Literatur nicht in der Bekämpfung letzterer durch erstere erschöpft. Der literaturfeindlichen theologischen Programmatik steht eine Erzählpraxis gegenüber, die durchaus die Lust am Fabulieren kennt. So hat das Christentum Texte hervorgebracht, die sich als Beitrag zur Entstehung von im engeren Sinne literarischen Schreibweis...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Danksagung
  5. Inhalt
  6. 1 Das phantastische Potential christlicher Wundererzählungen
  7. 2 Das Wunderbare, das Wunder und das Phantastische
  8. 3 Erzählungen des christlichen Wunderbaren
  9. 4 Das christliche Wunderbare in der modernen Phantastik
  10. 5 Fazit
  11. 6 Literaturverzeichnis