1 Konzepte der Authentizität
„Jeder philosophische Terminus ist die verhärtete Narbe eines ungelösten Problems. Begriffe sind Denkmäler von Problemen“.
– Theodor W. Adorno39
Zahlreiche Forscher haben sich bis dato mit „Authentizität“ und ihren mutmaßlichen Manifestationen auseinander gesetzt.40 Einerseits wurde die Vorstellung einer Authentizität und eines authentischen Selbst mittlerweile vollkommen dekonstruiert. Andererseits wurde die gesellschaftliche Bedeutung des Konzeptes hervorgehoben. Neben Alessandro Ferrara, Charles Guignon, Jacob Golomb und Somogy Varga verteidigte beispielsweise der kanadische kommunitaristische Philosoph Charles Taylor das Konzept und vor allem auch seine Bedeutung für „Minderheiten“. Aus diesem Grund werden, neben Lionel Trillings, auch speziell Charles Taylors Schriften in diesem Kapitel für die Herleitung des Konzeptes der Authentizität herangezogen, um die Zentralität des Strebens nach Authentizität und dessen moralische Ebene für die deutschen zionistischen Denker in den entsprechenden, historisch-philosophischen Kontext zu setzen.
Dieses Kapitel legt die theoretischen Grundlagen, auf denen die spätere Analyse beruht. Es wird zunächst die Frage beantworten, weshalb die Idee eines authentischen Selbst im 19. Jahrhundert zur Zeit der Formierung des frühen national-jüdischen und zionistischen Diskurses von so elementarer Bedeutung geworden war. Dafür setzt dieses Kapitel, nach kurzen etymologischen Bemerkungen, im 16. Jahrhundert an. Aus Sicht der Zionistinnen und Zionisten bot sich der Zionismus in besonderer Weise an, ein Instrument für das Führen eines authentischen Lebens zu sein. Die Begründung für diese Haltung, die auf der Verschränkung von dem Ideal der Authentizität und dem Nationalismus beruht, ist der zweite zentrale Punkt, den dieses Kapitel behandelt.
1.1 Der Begriff Authentizität
„Authentizität“ wurde von Hans Blumenberg und Alessandro Ferrara als ein „Hauptwort der Neuzeit“ bezeichnet.41 Vor der Übertragung des Begriffs der Authentizität auf Menschen und das Sein wurden vor allem Gegenstände mit dem Begriff der Authentizität gekennzeichnet. Der Terminus Authentizität leitet sich von dem griechischen authentēs ab, das einen „Urheber, Ausführer, Selbstherr“, oder „jemand[en], der etwas mit eigener Hand, dann auch aus eigener Gewalt vollbringt“, bezeichnete.42 Das dazugehörige Adjektiv aúthentikós wurde vor allem für Schriftstücke benutzt, mit der Bedeutung „original, zuverlässig, maßgebend“ oder „von der maßgeblichen Instanz ausgehend, mitgeteilt“.43 Aúthentikós bedeutet jedoch auch „Mörder“, insbesondere den „Selbst- oder Verwandtenmörder“, sowie den „Herren“ oder „Gebieter“. Die ursprünglichen Konnotationen weichen somit deutlich von der heutigen Verwendung des Begriffes ab.44 Das spätlateinische Lehnwort authenticus erfuhr eine Erweiterung durch die Konnotationen „anerkannt, rechtmäßig, verbindlich“, die sich schließlich ab dem 16. Jahrhundert als Adjektiv auch im deutschsprachigen Raum durchsetzten. Etwa zwei Jahrhunderte später ist das entsprechende Substantivum sowohl im Deutschen (Authentizität), als auch im Englischen (authenticity), Französischen (authenticité) Italienischen (autenticità) und Spanischen (autenticidad) nachweisbar.45
Seine ontologische Bedeutung, auf der der Fokus dieser Arbeit liegt, erhielt der Begriff erst in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch den umstrittenen Philosophen Martin Heidegger. In dieser ontologischen Bedeutung hat sich der Begriff von seiner ursprünglichen Semantik entfernt, auch in der Hinsicht, dass er nicht mehr Gegenständliches, sondern vielmehr ein Abstraktum, nämlich das Konstrukt des „authentischen Selbst“ umschreibt. In seinem Werk Sein und Zeit von 1927 stellte Heidegger die Dichotomie von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit folgendermaßen dar: Menschen, die in einer „Alltäglichkeit“ gefangen seien, fristeten ein uneigentliches, „unauthentisches“ Dasein. Da „Eigentlichkeit“ das Wort „eigen“ beinhalte, solle jeder Mensch seine jeweilige Eigentlichkeit erfüllen.46 Mit der Erschaffung des Begriffs der Eigentlichkeit, der einen schon stattgefundenen diskursiven Formierungsprozess philosophisch fasste, wurde Heidegger so zum „Erfinder der Authentizität in modernen philosophischen Begriffen“.47
Selbst in der Entstehungsphase des frühen Zionismus wurde der Begriff der Authentizität noch zur Qualifizierung von Schriftstücken verwendet. Doch tatsächlich formierte sich der Diskurs zur zweiten, ontologischen Ebene der Authentizität lange vor der Synonymisierung durch Heidegger und damit bevor „Authentizität“ tatsächlich mit „Authentizität“ bezeichnet wurde.
1.2 Von Aufrichtigkeit zu Authentizität
Die ontologische Ebene der Authentizität, darin ist sich die Forschung größtenteils einig, leitet sich philosophisch aus dem Ideal der Aufrichtigkeit ab.48 Das Ideal der Aufrichtigkeit wiederum begann im 16. Jahrhundert innerhalb Europas eine herausragende Stellung einzunehmen. Verschiebungen moralischer Ideale wie diese, argumentierte Lionel Trilling, passierten, wenn neue Gewichtungen auch neue Tugenden erforderten.49 Dies gilt für die Idee der Aufrichtigkeit (sincerity).50 Aufrichtigkeit bedeutet für Trilling die Kongruenz des tatsächlichen Fühlens und dessen Kommunikation.51 Dieser Einklang werde erfüllt, indem man jegliche Falschheit anderen Personen gegenüber vermeide und dem eigenen Selbst treu bleibe.52
Die gesellschaftliche Zentralität von Aufrichtigkeit seit der frühen Neuzeit in Europa hatte laut Trilling verschiedene Gründe, die an sehr komplexe kulturelle Transformationen gekoppelt waren. Allen voran wäre der Prozess der Individualisierung zu nennen, der den Menschen und seine Attribute ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Das Individuum selbst wurde nun nicht mehr lediglich über seine Standeszugehörigkeit und Profession definiert. Andererseits erforderte die neue soziale Mobilität in der Gesellschaft neue Verhaltenskodices.53
Auffällig ist, dass der Diskurs zur Aufrichtigkeit wichtig wurde, als das Theater eine plötzliche Blütezeit erlebte,54 ausgerechnet jener Ort, wie Regina Bendix darstellte, der sich in besonderer Weise durch Täuschung und List, und damit Unaufrichtigkeit auszeichne.55 Dieser vom Theater ausgelöste Diskurs zum Rollenspiel wurde im Folgenden auf die Gesellschaft übertragen. Trilling illustriert dies anhand von Hegels Lesart des von Denis Diderot verfassten Werks Rameaus Neffe.56 „Die Theorie der Gesellschaft“ des Neffen beruhe „auf seiner Erkenntnis der systematischen Getrenntheit des Individuums von seinem wirklichen Selbst“ – ein Zusammenhang, den er auch in Jean-Jacques Rousseaus Philosophie erkannte.57 Die Gesellschaft sei „bloß eine Schauspielerei“, denn ein jeder nehme „eine bestimmte ,Position‘ ein, so wie die Choreographie der Gesellschaft“ es vorgebe.58 Anders ausgedrückt: Die Schauspielerei sowohl im Theater als auch auf der gesellschaftlichen Bühne als unaufrichtig zu dekuvrieren ist Teil jener Kritik, die für die Suche nach einem authentischen Selbst – auch im Zionismus – von großem Belang ist.
Diese Hinterfragung führte zur notwendigen Formierung einer neuen Instanz, und zwar der Authentizität. Offenbare sich nämlich, dass jeder Mensch in der Gesellschaft nur die von ihm geforderte Rolle spiele, so habe das zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Betrachtung des Ideals der Aufrichtigkeit. In den Worten Trillings:
Die Gesellschaft verlangt von uns, daß wir uns aufrichtig geben, und die wirksamste Methode, dieser Forderung zu genügen, besteht darin, wirklich aufrichtig zu sein, wirklich so zu sein, wie die Gesellschaft von uns denken soll. Kurz, wir spielen die Rolle, wir selbst zu sein, aufrichtig spielen wir die aufrichtige Person, mit dem Ergebnis, daß man unsre Aufrichtigkeit für nicht authentisch hält.59
Auch wenn die Gesellschaft von einem fordere, aufrichtig zu sein, könne man doch stets nur eine Rolle spielen. Eine vorgetäuschte Aufrichtigkeit wäre demnach zwar keine Lüge, dafür aber nicht „authentisch“. Man wäre nicht „man selbst“, sondern das, was einem die Gesellschaft vorschreibe.60 So verhielte man sich zwar aufrichtig, aber nicht authentisch. Wenn man „authentisch“ ist, spielt man also nicht die Rolle eines authentischen Selbst – so, wie man beispielsweise Aufrichtigkeit vorspielen kann – sondern man ist authentisch man selbst – man „ist“.
Der Diskurs zur Aufrichtigkeit findet auf einer anderen Ebene statt, als der zur Authentizität. Ersterer wird von der Gesellschaft gefordert, er erfüllt damit eine soziale Funktion; letzterer wird von einem konstruierten inneren Selbst gefordert. Wird das Ideal der Aufrichtigkeit erfüllt, könnte man dieser Auffassung nach durchaus Gefahr laufen, sich selbst in der Gesellschaft „zu verlieren“. In der Authentizität bestimme und finde man sich hingegen selbst, unter Umständen auch mithilfe von Aspekten, die in der Gesellschaft nicht gefordert oder selbst abgelehnt werden und nicht mit gesellschaftlichen Normen konform gehen. Authentizität erscheint hier eng verbunden mit der Idee der Autonomie und kann hier im stärksten Sinne eine rebellische, und im schwächeren eine alternative Note gegenüber der Gesellschaft haben.61
1.3 Authentizität und Moral – Authentizität als moralische Obligation
Neben unzähligen Wissenschaftlern, die sich dem philosophischen Konzept der Authentizität zuwandten, setzte sich Charles Taylor eingehend mit der Frage auseinander, wie sich der Imperativ des authentischen Selbst und der authentischen Lebensführung zur wichtigsten moralischen Obligation der Moderne entwickelte. Gerade diese moralische Ebene wurde in den Texten des zionistischen Diskurses von großer Bedeutung. Das, „was wir heute Identität nennen“, schreibt Taylor, wurde früher „weitgehend durch die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen festgelegt“. Durch die Idee der Authentizität geriete diese Vorstellung jedoch an ihre Grenzen, denn Authentizität ließe „sich nicht aus der Gesellschaft ableiten, sie muß im Inneren und aus dem Inneren erzeugt werden“.62
Die Ursachen dafür beschrieb Taylor ausführlich. Die ethische Komponente der Authentizität stützt sich laut Taylor „auf frühere Formen des Individualismus“.63 Diese seien zwar bereits von Descartes und Locke formuliert worden, doch mit diesen sei der Authentizitätsbegriff nicht immer kongruent. Als „Kind der Romantik“ gehöre Authentizität in die romantische Tradition und stehe daher in gewisser Hinsicht im Widerspruch zu Descartesʼ und Lockes Vorstellungen von Individualismus.64 Die Entstehung des Authentizitätsbegriffs...