Sprache und Kognition
Ereigniskonzeptualisierung im Deutschen und Tschechischen
- 308 Seiten
- German
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Ăber dieses Buch
Ist unser Denken und somit die Weltsicht fĂŒr alle Menschen gleich oder sprachspezifisch? Auf diese uralte Fragestellung, der bereits Wilhelm von Humboldt nachgegangen ist, gibt dieses Buch eine eindeutig bejahende Antwort: Unsere Weltanschauung wird durch die Grammatik der eigenen Muttersprache(n) geprĂ€gt, sodass Menschen Ereignisse sprachspezifisch wahrnehmen, versprachlichen und auch erinnern. Diese grundlegenden Erkenntnisse sind durch den hier gewĂ€hlten experimentellen Zugang psycholinguistischer Methoden (z.B. Eye-Tracking) erstmalig möglich.
Der Einfluss von Sprache auf Kognition erweist sich darĂŒber hinaus fĂŒr Sprachkontakt als extrem relevant. Infolge des ĂŒber Jahrhunderte andauernden Sprachkontakts zwischen dem Deutschen und Tschechischen hat sich das Aspekt-System des Tschechischen dahingehend geĂ€ndert, dass die Ereigniskonzeptualisierung im Tschechischen wie im Deutschen verlĂ€uft und das Tschechische sich systematisch von anderen ost- und westslawischen Sprachen absetzt.
HĂ€ufig gestellte Fragen
Information
1Einleitung
1.1Thematische Anbindung und Begrifflichkeiten
- Sprache und Kognition: Dieser Bereich deckt den Zusammenhang zwischen grammatikalisierten Kategorien, wie z.B. Aspekt und Tempus, und spezifischen Mustern der Informationsstruktur ab. Die Vorgehensweise ist sprachvergleichend und es werden Produktionsdaten von Muttersprachlern (L1) untersucht (u.a. GegenĂŒberstellung germanischer und slawischer Sprachen). In der aktuellen Debatte zur Beziehung von Sprache und Kognition wird nicht lĂ€nger der Frage nachgegangen, ob sprachliche Strukturen ĂŒberhaupt einen Einfluss auf die Kognition haben, sondern vielmehr, welche Effekte sprachspezifische Strukturen in nicht-sprachlichen Aufgaben auslösen und inwieweit Sprache die allgemeine Kognition prĂ€gt (vgl. Dolscheid et al. 2013 zum Einfluss der Sprache auf Rezeption und Reproduktion musikalischer Tonhöhe; Delucchi/Mertins 2016; Delucchi 2017 zum Einfluss der Sprache auf Raumkonzeptualisierung und -orientierung in Weganweisungen). Die Daten und Ergebnisse gehen auf Aufgaben zurĂŒck, die als Basis eine ĂŒbergeordnete sprachliche Anweisung hatten (fĂŒr den genauen Wortlaut der verschiedenen Aufgabenstellungen siehe die einzelnen Studien). Die so gewonnenen Daten bringen eine weitere BestĂ€tigung der linguistischen RelativitĂ€tshypothese und weisen â unter der Voraktivierung des sprachlichen Wissens durch die gestellte Aufgabe â deutlich auf die Existenz sprachspezifischer mentaler ReprĂ€sentation im Bereich der Ereigniskonzeptualisierung hin.
- Zweitspracherwerb: Neben Daten von Muttersprachlern (Bereich 1) werden hier Daten von Zweitsprachlernern (fortgeschrittene und sehr fortgeschrittene Sprecher â L2)4 in ihren Implikationen fĂŒr die Sprachproduktion und -verarbeitung untersucht. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob es fĂŒr L2-Lerner mit einem sehr hohen Niveau in der L2 möglich ist, sich die fĂŒr eine Zweitsprache typischen Denkschemata anzueignen (Konzeptualisierungsmuster) bzw. die L1-Schemata zugunsten der L2-Schemata zu restrukturieren. Dazu werden L2-Daten analysiert, die zeigen, dass das Erlernen der Konzeptualisierungsmuster einer Nicht-Muttersprache fĂŒr L2-Lerner eine extrem groĂe Herausforderung darstellt. Die meisten der hier untersuchten L2-Sprecher stĂŒtzen sich auf die Schemata ihrer L1, obgleich sie die L2 im Hinblick auf Form (alle Bereiche der Grammatik) und Lexikon nahezu muttersprachlich beherrschen.5 Die aus den Lernerdaten gewonnenen Erkenntnisse erlauben einen RĂŒckschluss auf die Persistenz der L1-PrĂ€ferenzen und das MaĂ ihrer Verankerung in der Grammatik.
Die Datenlage im Hinblick auf den Umfang einer kognitiven Restrukturierung sowie die mentale ReprĂ€sentation der Sprachsysteme in bilingualen und multilingualen Sprechern ist in der L2-Literatur alles andere als eindeutig. So werden die Befunde der vorliegenden Forschungsarbeit durch Ergebnisse aus anderen L2-Studien unterstĂŒtzt (vgl. Ervin 1962 â Farbkognition; Cook et al. 2006 â Kategorisierung von Objekten und Materialien; Finkbeiner et al. 2002 â Bewegungsereignisse; Pavlenko 2008 â Emotionen; Cadierno 2010; Hendriks/Hickmann 2011; Brown/Gullberg 2011 â Verbalisierung, Gestik und GedĂ€chtnis von Bewegungsereignissen). Andere Studien belegen jedoch (z.T. fĂŒr die gleichen Bereiche), dass eine stabile Koexistenz zweier sprachspezifisch unterschiedlich geprĂ€gter Systeme ohne gegenseitige Beeinflussung durchaus möglich ist (vgl. Saunders/van Brakel 1997 â Farbkognition; Alvarado/Jameson 2011 â Emotionen; Wang/Shao/Li 2010 â autobiografisches GedĂ€chtnis). AuĂerdem gibt es Belege fĂŒr eine Konvergenz der L1 und der L2 Systeme (z.B. Jameson/Alvarado 2003 â Farbkognition; Malt/Ameel 2011 â Objektkategorisierung; Daller et al. 2011 â Bewegungsereignisse) sowie dafĂŒr, dass die Konzeptualisierungsschemata der L2 die Schemata der L1 beeinflussen können (vgl. Alvarado/Jameson 2002 â Farbkognition; Pavlenko/Malt 2011 â Objektkategorisierung; Stepanova Sachs/Coley 2006 â Emotionen; Papafragou/Hulbert/Trueswell 2008 â Lexikalisierungsmuster in Bewegungsereignissen; Wassmann/Dasen 1998 â Raumkognition und rĂ€umliche Referenzrahmen). DarĂŒber hinaus existiert eine Datenlage fĂŒr das PhĂ€nomen der Attrition (Verlust/Abbau) der aus der L1 stammenden Kategorien und Konzepte (vgl. Pavlenko 2012 â Farbkognition; Ben-Rafael 2004 â Emotionen; Kaufman 2001 â Bewegung; Levinson 1997 â rĂ€umliche Referenzrahmen). Die aus dieser Datenlage ersichtliche KomplexitĂ€t, die die Frage nach dem AusmaĂ der kognitiven Restrukturierung bestimmt, wird im abschlieĂenden Kapitel thematisiert. - Psycholinguistik: Die in den meisten Studien eingesetzte Methodik verbindet qualitative linguistische Analysen mit experimentellen psycholinguistischen Verfahren. Der Fokus liegt dabei auf der Sprachproduktion. Da die verwendeten Methoden fĂŒr die vorliegende Arbeit eine zentrale Rolle spielen, werden sie in Abschnitt 1.3 dieses Kapitels gesondert behandelt.
- Sprachkontakt: Die linguistischen und psycholinguistischen Auswirkungen des Sprachkontakts zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen spielen eine zentrale Rolle. In der Regel besteht Kontakt zwischen Sprachen dann, âwenn sie in derselben Gruppe gebraucht werdenâ (Riehl 2004: 11). Nach dieser Auffassung ist der Kontaktbegriff eng mit dem Begriff der Zwei- oder Mehrsprachigkeit verbunden (vgl. auch Földes 2005; Nekula 2002). Im Allgemeinen wird von einer integrierten Theorie des Sprachkontakts ausgegangen, in der entweder Aspekte einer Einzelsprache fokussiert werden, die individual-synchrone Aspekte des Bilingualismus oder strukturell-diachrone, durch Sprachkontakt entstandene VerĂ€nderungen betreffen (Matras 2009). Neben klassischen Werken aus der Bilingualismusforschung zu Themen wie Spracherwerb, Sprachverarbeitung, Diglossie und Sprachpolitik in multilingualen Gesellschaften (vgl. Grosjean 1982; Hamers/Blanc 1989; Romaine 1989; Hoffmann 1991) ist im Kontext der Kontaktlinguistik besonders die Arbeit von Appel/Muysken (1987) zu erwĂ€hnen. Diese behandelt als eine der ersten Arbeiten systematisch diachrone Aspekte von durch Kontakt entstandenen SprachverĂ€nderungen. Thomasons und Kaufmans Monografie aus dem Jahre 1988 bleibt bislang das einflussreichste und meist zitierte Buch zu Sprachkontakt unter der Perspektive der historischen Linguistik. Winford (2003) verbindet zum ersten Mal Code-Switching mit diachronen Aspekten von Sprachkontakt. Einen wichtigen Beitrag zur kontaktlinguistischen Debatte leistet Myers-Scotton (2002) mit dem Ma...
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titelseite
- Impressum
- Widmung
- Inhalt
- Danksagung
- 1 Einleitung
- 2 Aspekt-Terminologie sprachvergleichend: Konsequenzen fĂŒr den Zweitspracherwerb
- 3 Zur Verwendung der perfektiven PrÀsensform im heutigen Tschechisch
- 4 Zur Unterscheidung zwischen west- und ostslawischen Aspektsystemen
- 5 Wie grammatikalisierte Kategorien die Ereigniskonzeptualisierung fĂŒr die Sprachproduktion prĂ€gen: Erkenntnisse aus Sprachanalysen, Messungen der Augenbewegungen und GedĂ€chtnisleistungsexperimenten
- 6 Zum Einfluss des Deutschen auf das Tschechische: Die Effekte des Zeitdrucks auf die Sprachproduktion
- 7 Denken L2-Sprecher in ihrer Muttersprache, wenn sie die L2 sprechen?
- 8 Die Rolle des grammatischen Aspekts in der Ereignisenkodierung: Ein Vergleich zwischen tschechischen und russischen Lernern des Deutschen
- 9 EinflĂŒsse des Deutschen auf das Tschechische: Ein Sprachvergleich aus der Lernerperspektive
- 10 Fazit und Ausblick
- 11 Literatur
- 12 AbkĂŒrzungsverzeichnis
- 13 Anhang
- 14 Sachregister