1Einleitendes
In den 90er-Jahren des 18. Jh. veröffentlichte Benedikte Naubert ihre insgesamt fünf Bände umfassende Märchensammlung Neue Volksmährchen der Deutschen, in der auch Der kurze Mantel erstmals erschien. Naubert hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits als erfolgreiche Schriftstellerin hervorgetan, ihre Texte verkauften sich gut und machten es ihr so möglich, ihre Familie durch ihre schreibende Tätigkeit finanziell zu unterhalten. Doch ihren Namen kannte niemand, ihre Texte wurden anonym veröffentlicht. Erst zwei Jahre vor ihrem Tod im Jahr 1819 wurde ihre wahre Identität ohne ihre Einwilligung aufgedeckt, der Absatz ihrer Bücher ging zurück, und eine der meistgelesenen Autorinnen des 18. Jh. verschwand fast völlig aus dem Kanon der Literatur.458
Benedikte Naubert war die Hauptvertreterin des historischen Romans im ausgehenden 18. Jh., ein Genre, bei dem man davon ausging, dass es aufgrund der benötigten Bildung nur Männer meistern konnten.459 Ihre Geschichten waren meist in der Vergangenheit angesiedelt oder verfügten über eine Rahmenhandlung, die Stoffe aus dem Mittelalter aufgriff und weiterführte – so auch beim Kurzen Mantel. Dieses umfangreiche Kunstmärchen verbindet zwei Stofftraditionen miteinander: die der Mantelprobe460 und die des Märchens um Frau Holle.461 Die Mantelprobe findet, wie in den mittelalterlichen Erzählungen, auch im Kurzen Mantel am Hof des König Artus statt, den Naubert in Großbritannien verortet, und bildet die Rahmenhandlung des Märchens.462
Genelas, ein walisisches Waisenmädchen, wurde von Königin Guenevre am Hof aufgenommen und dort großgezogen. Aufgrund ihrer Schönheit und Tugendhaftigkeit hat sie bereits die Liebe und Achtung des Helden Karados gewinnen können, wird aber von der Königin als Bedrohung wahrgenommen und soll mit Hilfe einer List vom Hof verstoßen werden. Morgane, die bei Naubert als Hexe dargestellt wird und als Figur in keiner Mantel-Vorlage zu finden ist, wird als Erzfeindin der Königin eingeführt, die sich v. a. durch ihre dauernden Affären auszeichnet. Guenevre will Morgane bloßstellen und bedient sich dafür der unschuldigen Genelas, die in der Folge vom Hof vertrieben wird. Auch Morgane flieht. Genelas kann erst am Ende der Geschichte über die erfolgreiche Anprobe eines wunderschönen Zaubermantels, dessen Stoff sie selbst gewoben hat und der als Tugendprobe für die Damen an den Hof gebracht wird, wieder rehabilitiert werden und Karados heiraten. Genelas ist die einzige, die den Mantel anprobieren kann, ohne dass dieser die Kleidung darunter in Unordnung bringt und sie entblößt, und ist damit auch die einzige Dame am Hof, die sich als ehrenhaft auszeichnet. In der Binnenhandlung wird die Geschichte von Rose erzählt, die die verstoßene Genelas bei sich aufnimmt: Rose wuchs selbst nicht bei ihren Eltern auf, sondern bei ihrer Tante und deren Tochter, die Rose aber nicht wohlgesonnen sind. Insbesondere die Cousine, Magdalena, macht Rose immer wieder das Leben schwer und versucht, aus deren Leid einen Vorteil zu gewinnen. Rose muss die Hausarbeit für ihre Verwandten erledigen und kann nur am Sonntag, während jene die Kirche besuchen, ihrer Leidenschaft, dem Spinnen, nachgehen. Eines Tages fällt die Spindel in den Brunnen, Rose springt ihr nach und gelangt in das Reich von Frau Hulla oder Hulda, die aber nur als ›die Hausfrau‹ bezeichnet werden möchte. Da Rose sich tugendhaft verhält, verspricht Hulla ihr Hilfe, die sie ihr auch zukommen lässt: zunächst in Form eines bleiernen Ringes, der sie immer wieder in Hullas Reich trägt, dann in Form von Spinnunterricht, damit sie ihren Lebensunterhalt verdienen kann. Später gibt Hulla Rose eine goldene Zauberspindel, die sie aber verliert. Trotzdem unterstützt Hulla Rose weiter; auch Genelas profitiert von ihrer Hilfe. Hullas Unterstützung verliert Rose immer nur für kurze Zeit und immer durch Einmischung von außen: Entweder ihr Ehemann, Martin, der aus Gram über seine Handlungen schließlich stirbt, oder Magdalena sind die Verursacher der Trennung. Roses Handeln, ihr Fleiß und ihre Tugendhaftigkeit bringen ihr jedoch immer wieder die Unterstützung ihrer Wohltäterin ein.
Schon an dieser Zusammenfassung des Kurzen Mantels lässt sich erkennen, dass das Märchen eine Geschichte der Frauen ist. Sie intrigieren, helfen einander, sorgen für ihren eigenen Lebensunterhalt und verfügen auch über eine eigene Stimme. Anders als in den Grimm’schen Märchen, in denen die guten Mädchen schweigen und nur die bösen Frauen sprechen, haben bei Benedikte Naubert alle Frauenfiguren etwas zu sagen. Auch das Märchen von Frau Holle ist als Ich-Erzählung der Heldin in den Text eingebunden und wird damit im Gegensatz zu gängigen Märchensammlungen der Zeit nicht anonym wiedergegeben, sondern in Form einer Lebensgeschichte der Protagonistin in den Mund gelegt. Die handelnden Frauenfiguren werden dabei von seelenlosen Schablonen, von Typen, zu Protagonistinnen, die über Emotionen, Wünsche und auch Wissen verfügen.463
2Entblößen und Verhüllen
Motive des Ver- und Enthüllens bestimmen die Rahmenhandlung, die auf die am Ende der Erzählung stattfindende Tugendprobe hin ausgerichtet ist. Wie in den mittelalterlichen Vorlagen wird auch in Benedikte Nauberts Märchen die Treue der Frauen mit Hilfe eines Kleidungsstückes geprüft, das sich entweder verhüllend oder entblößend an den Körper der Frau schmiegt. Tugendlosigkeit wird dabei nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ganz plastisch über das unangemessene und unfreiwillige Zeigen der Haut sichtbar gemacht. Die Tugendprobe veranschaulicht den Zustand des Hofes und zeigt die moralische Ambivalenz und Defizienz des Artushofs.464 Der Schönheitspreis, den die Ritter den Damen angedeihen lassen, nimmt nur die an der Oberfläche sichtbaren Merkmale in den Blick, die Tugendprobe hingegen zielt darauf ab, »deren innere Befindlichkeiten nach außen zu kehren und sie danach zu bewerten.«465 Der Mantel, der als repräsentatives Kleidungsstück Herrschaft anzeigen, schmücken und v. a. die Frauen vor dem Blick der Männer schützen soll, wird im Zuge der Tugendprobe zu jenem Gegenstand, der das zu Verhüllende gnadenlos vorführt:
Der Mantel verhüllt nicht, sondern deckt auf, und er tut dies ohne Rücksicht auf die Verletzbarkeit der Probandinnen; er ist repräsentativ, aber eben nur für eine tugendhafte Dame. Allein seine Funktion als Symbol der Rechtsprechung bleibt indirekt erhalten: Der Mantel selbst ist Richter und Beweismittel zugleich.466
Doch nicht nur die am Textende des Kurzen Mantels angesiedelte Probe operiert mit Gesten des Entblößens und Bedeckens, um Charaktereigenschaften der Damen darzustellen; der gesamte Text spielt mit diesen Motiven und schafft somit eine untrennbare Verbindung zwischen dem Verhüllen des Körpers, dem damit in Verbindung stehenden Bereich des Bekleidens bzw. Kleidung-Herstellens und der Tugendhaftigkeit. Das unfreiwillige Entblößen am Ende des Märchens stellt nur das auf die Spitze getriebene Spiel mit Motiven des Zeigens und Verdeckens dar, das aber aufgrund der Natur der Vorlage als Inspirationsquelle für die von Naubert ersonnene Geschichte gelten darf.
Entblößen und Verhüllen ist damit nicht nur unverrückbar mit ganz bestimmten (weiblichen) Charakteren in der Rahmen- und der Binnenhandlung verschränkt, sondern verweist auch auf deren Verhalten: Tugendhaftigkeit – so auch in den Mantel-Vorlagen – wird durch einen verhüllten Körper sichtbar, ein tugendloses Leben wird nicht nur durch den (nicht verhüllenden) Mantel, sondern auch über unethisches Verhalten entblößt. Dabei spielt die Nacktheit selbst eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ist es der Akt des Entblößens, dieser Moment des Ent-deckens, der im Vordergrund steht. Hinzu kommt das Motiv des Spinnens, das den gesamten Text durchzieht: Ein tugendhafter Charakter zeichnet sich bei Naubert nicht nur durch Häuslichkeit, Reinlichkeit und Fleiß, so...