Decolonizing Auschwitz?
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Decolonizing Auschwitz?

Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung

  1. 257 Seiten
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Decolonizing Auschwitz?

Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung

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Über dieses Buch

Die Holocaustforschung ist in den vergangenen Jahren um Forschungsansätze ergänzt worden, die als komparativ-postkolonial beschrieben werden können. Sie untersuchen die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust aus der Perspektive einer postkolonialtheoretisch geschulten vergleichenden Genozidforschung. Eine grundlegende Überzeugung dieser Ansätze ist, dass der Nationalsozialismus nur adäquat verstanden werden kann, wenn man ihn in Bezug zur europäischen, speziell deutschen, Kolonialgeschichte setzt. Dabei würden sich strukturelle und ideologische Parallelen und Gemeinsamkeiten aufzeigen, die die Forschung bisher ignoriert habe. Steffen Klävers untersucht in seiner Studie, welches heuristische Potential solcherlei Zugänge für die NS- und Holocaustforschung besitzen. Dabei geht er einerseits auf historische, aber auch erinnerungskulturelle und modernitätstheoretische Ansätze ein. Er rekonstruiert die Argumentationstechniken dieser Ansätze kritisch und problematisiert Punkte, an denen sie mit zentralen Erkenntnissen der NS- und Holocaustforschung brechen.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783110597769

1Einleitung

Ziel dieser Arbeit ist eine kritische Rekonstruktion ausgewählter komparativpostkolonialer Ansätze in der Holocaustforschung. Was sind komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung? Man kann sie vorerst und grob zusammenfassend als Forschungsansätze beschreiben, die mittels eines wissenschaftlichen Vergleichs und aus einer postkolonialtheoretischen Perspektive heraus versuchen, den Holocaust zu analysieren und zu interpretieren. Gleichzeitig möchten sie mögliche Verbindungslinien zwischen und strukturelle Ähnlichkeiten von Kolonialismus, Nationalsozialismus und Holocaust untersuchen. Dieser Zugang ist vergleichsweise neu: Die Holocaustforschung hat sich zwar schon länger systematisch mit der Möglichkeit des Vergleichs von Holocaust und anderen historischen Ereignissen auseinandergesetzt. Mit Fragen der Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und kolonialer Herrschaft bzw. Holocaust und kolonialen Genoziden beschäftigt sie sich jedoch erst seit (wissenschaftshistorisch betrachtet) vergleichsweise kurzer Zeit.
Auf die Frage hin, was diese Ansätze versuchen aufzuzeigen und zu problematisieren, kann einleitend festgehalten werden, dass sie offenbar einem wissenschaftshistorischen und in gewisser Hinsicht auch -politischen Desiderat nachkommen – einem Desiderat, das (grob skizziert) von (mindestens) zwei Überzeugungen ausgeht: Erstens, dass die Holocaustforschung sich bisher ungerechtfertigterweise nicht bzw. nur unzureichend mit der Geschichte des Kolonialismus befasst habe. Zweitens, dass es möglich und notwendig sei, den Holocaust in ein bestimmtes Verhältnis zur Geschichte des Kolonialismus zu setzen, um a) den Holocaust angemessen zu verstehen, und b) Kolonialgenozide angemessen zu verstehen. Auch die in dieser Arbeit von mir untersuchten und rekonstruierten Ansätze gehen von diesen Annahmen aus. Aus welchen wissenschaftlichen und/oder weltpolitischen Beobachtungen heraus werden sie formuliert? Welche Leerstellen und Forschungslücken sehen sie?

1.1Zivilisationsbruch und Kolonialgeschichte

Ein Zitat aus einem aktuellen Beitrag der deutschsprachigen postkolonialen Politikwissenschaft mag über diese Fragen Aufschluss geben:
Auschwitz, Wannsee-Konferenz, Vernichtungskrieg im Osten, Nürnberger Rassegesetze – das alles sind Begriffe, die wir aus dem Geschichtsunterricht kennen. Aber dass auf der Berliner Afrika-Konferenz 1884 Bismarck und andere Europäer den ganzen Kontinent unter sich aufteilten – wer weiß das schon? Dass die deutschen Kolonien – als „Schutzgebiete“ verharmlost – sechsmal größer waren als das Deutsche Reich? Dass es in ihnen – lange vor den Nazis – bereits Konzentrationslager gab, in denen Tausende (nahezu jeder Zweite!) durch Zwangsarbeit zu Tode geschunden wurde? Wer von uns hat in der Schule die Rede von Generalleutnant Trotha gelesen, in der er 1904 den Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika ankündigte […]? Die Herero warten bis heute auf eine Entschuldigung des deutschen Staates, ebenso wie auf Entschädigungszahlungen. Und bis vor einigen Jahren mussten sie sogar auf die Rückgabe geraubter Schädel ihrer Vorfahren warten. (Ziai 2016, S. 12)
Aram Ziai spricht in diesem Zitat einige wichtige Aspekte der Debatte um Verbindungslinien zwischen postkolonialen Studien und Holocaustforschung, aber auch der bundesrepublikanischen Kolonialismus-Aufarbeitung an. Zweifellos ist letztere nur unzureichend erfolgt und kann mit Blick auf die bisher ausgebliebenen offiziellen Entschädigungszahlungen wie -leistungen durchaus als skandalös beschrieben werden (vgl. Kapitel 4.2). Und ebenfalls zweifellos: Der Blick auf bundesrepublikanische Lehrpläne an Schulen offenbart meist zwar eine in der Tendenz eher als Pflichtlektion wahrgenommene Einheit über den Nationalsozialismus, allerdings wenig über den deutschen Kaiserreich-Kolonialismus oder überhaupt den europäischen. Der deutsche Kolonialismus wurde und wird trivialisiert, verklärt, an der Kolonialpraxis anderer Nationen relativiert und vereinzelt auch als völlig legitime Praxis verteidigt. Das ist in vielerlei Hinsicht problematisch, zweifellos – und wird im Verlauf dieser Arbeit noch ausführlicher diskutiert.
An Ziais Zitat sind aus Sicht des Themas dieser Arbeit auch weitere Aspekte auffällig. Zunächst: Einer Aufzählung von „Begriffe[n], die wir aus dem Geschichtsunterricht kennen“ und die verschiedene Elemente des Nationalsozialismus beschreiben, folgt eine Aufzählung kolonialer Thematiken, Begriffe und Fakten. Die ersten Begriffe gelten laut Text als bekannt, die anderen nicht – und dieser Umstand wird deutlich als Defizit markiert. Auffällig ist daran, dass zwischen den Bezugsrahmen Nationalsozialismus und Kolonialismus verglichen wird, indem Parallelen aufgezeigt und Verbindungslinien postuliert werden. So wird die Größe des jeweiligen Herrschaftsgebietes verglichen, auf die Existenz von Konzentrationslagern bereits vor dem NS hingewiesen, dem „Vernichtungskrieg im Osten“ der „Vernichtungsbefehl“ (vgl. bspw. Schaller 2004, S. 407) Lothar von Trothas gegenübergestellt und die Afrika-Konferenz in textlicher Nähe zur Wannsee-Konferenz genannt.
Zwei Sinnebenen erscheinen mir in Ziais Zitat rekonstruierbar. Erstens: Ziai möchte in der Gegenüberstellung von kolonialen mit nationalsozialistischen Begriffen, Schlagwörtern und Themen darauf aufmerksam machen, dass die Geschichte des deutschen Kolonialismus nicht in demselben Maße wie die von NS und Holocaust in der bundesrepublikanischen Erinnerungspolitik, Bildung und Kultur verankert ist. Zweitens: Durch die Einleitung in die Aufzählung von Aspekten des Kolonialismus mit einem „aber“ wird insinuiert, dass es dafür ‚aber‘ keinen Grund gebe, weil es Entsprechungen zum Nationalsozialismus bereits zuvor im deutschen Kolonialismus gegeben habe.
Diese zweite Sinnebene des Zitates wird im weiteren Verlauf von Ziais Text noch deutlicher erkennbar. So sieht er in der wissenschaftlichen und politischen Bewertung von Nationalsozialismus und Kolonialismus unterschiedliche Standards am Werk, die das Leid der von kolonialer Gewalt betroffenen Menschen geringer und weniger wichtig werteten. In der „impliziten politischen Theorie des Westens“ würden „unterschiedliche ethische Standards angelegt werden, je nachdem, ob die Opfer eines Verbrechens weiße EuropäerInnen oder andere Menschen sind“ (Ziai 2016, S. 15–16). Die Erklärung für diese unterschiedlichen Standards beschreibt Ziai als „koloniale Heuchelei“, die letztlich dazu führe, dass „an die Verbrechen des Kolonialismus und des Nationalsozialismus [unterschiedliche Standards] angelegt werden“ (Ziai 2016, S. 16). Einen solchen anzulegen sei allerdings falsch, denn der Nationalsozialismus sei nicht der „Zivilisationsbruch“ (Diner 1988b) gewesen, als der er häufig beschrieben würde: „Wer vor diesem [kolonialen] Hintergrund erst in Auschwitz einen Zivilisationsbruch sieht, der kann dies nur mithilfe kolonialer Heuchelei tun: Einige Opfer sind gleicher als andere“ (Ziai 2016, S. 17).
Ziais Text eignet sich sehr gut, um in die Thematik meiner Arbeit einzuführen. Mehrere Aspekte werden in ihm problematisiert – die beiden Hauptthesen in den von mir zitierten Passagen scheinen mir jedoch zu sein, dass es a) eine wissenschaftlich und politisch nicht haltbare Ungleichbehandlung der Geschichten und Opfer von Nationalsozialismus und Kolonialismus gebe, und b), dass die Begründung für diese Ungleichbehandlung ein koloniales Paradigma sei. Kurz gesagt: Für Ziai ist die im Vergleich zur NS-Geschichte bisher nicht in demselben Maße erfolgte Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands nur so zu erklären, dass die deutsche Wissenschaft von eurozentrischen und kolonialen Denkstrukturen geprägt sei. Diese dadurch bedingte Unterscheidung und Hierarchisierung von Nationalsozialismus und Kolonialismus sei allerdings sachlich nicht gerechtfertigt. Der (deutsche) Kolonialismus sei nicht dermaßen andersartig, als dass er als unterschiedlicher Untersuchungsgegenstand eingestuft werden könne, für den andere Standards gelten müssten. Anders formuliert: Ein Zivilisationsbruch habe nicht erst in Auschwitz, sondern bereits im Kolonialismus stattgefunden, denn in Hinsicht auf die in ihnen verübten Gewalttaten unterschieden sich beide nicht voneinander, so Ziai: „[…] immerhin geht es in beiden Fällen um rassistisch begründete, gewaltsam aufrecht erhaltene und kriegerisch ausgeweitete Herrschaft über andere, die selbst vor Völkermord nicht zurückschreckt“ (Ziai 2016, S. 14).
Mit dieser Herangehensweise öffnet Ziai sprichwörtlich sehr viele Fässer und es stellen sich viele Fragen. Wie zum Beispiel: Ist die Beschreibung, dass sich Kolonialismus und Nationalsozialismus zwar „hinsichtlich der Bürokratisierung und Industrialisierung der Massenmorde“, aber nicht fundamental voneinander unterscheiden, zutreffend? Wie unterscheiden sich die TäterInnen? Wie ist die im Vergleich zur NS-Geschichte erst sehr spät einsetzende Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit durch unterschiedliche Standards zu erklären? Inwiefern spielen Rassismus und Kolonialismus hier eine Rolle? Gibt es vielleicht auch andere Gründe für diese bisher ausgebliebene Aufarbeitung? Und überhaupt: Handelt es sich tatsächlich in beiden Fällen, also NS und Kolonialismus, um zwar graduell unterschiedliche, aber dennoch nicht nur ähnliche, sondern gleichartige Beispiele von rassistisch begründeter Herrschaft und Gewalt? Warum spricht Ziai zwar von rassistischer, aber nicht von antisemitischer Gewalt? Wie ähnlich oder unterschiedlich sind sich in diesem Zusammenhang kolonialer Rassismus und NS-Antisemitismus? Wie zutreffend ist Ziais Einschätzung, dass der Holocaust „hinsichtlich der Bürokratisierung und Industrialisierung des Massenmordes tatsächlich historisch einzigartig ist“, hinsichtlich der „Brutalität seiner Praktiken“ allerdings „erschreckenderweise nicht“ (Ziai 2016, S. 16, Fußnote 4)? Was verrät uns der Blick auf „Praktiken“ – und was nicht? Und: Sind die Opfer des Nationalsozialismus im Gegensatz zu den Opfern des Kolonialismus, wie Ziai es beschreibt, „weiße EuropäerInnen“ – und was heißt das überhaupt?

1.2Forschungsüberblick: Postkoloniale Blicke auf den Holocaust

Diese und weitere Fragen werden in den von mir untersuchten Forschungsansätzen in unterschiedlicher Weise thematisiert und aufgegriffen. Dabei ist es mein Forschungsvorhaben, sie explizit kritisch zu rekonstruieren, ihre Argumentation zu diskutieren und zu problematisieren und abschließend zu fragen, ob sie argumentativ und inhaltlich überzeugen können. Die Ansätze kritisch zu rekonstruieren impliziert weiterhin, dass ich bestimmte Fragestellungen anhand der Rekonstruktion zu beantworten und Probleme aufzuzeigen versuche. Welche Fragestellungen und Probleme dies neben den bereits genannten sind, soll im Verlauf dieser Einleitung sowie im folgenden Methodenunterkapitel spezifiziert werden.
Zunächst möchte ich allerdings forschungsgeschichtlich in das breitere Themenfeld meiner Arbeit einführen. Wie bereits erwähnt wurde, sind postkoloniale und kolonialgeschichtliche Ansätze in der Holocaustforschung, hält man sich die Entwicklung der Holocaustforschung seit ihren Anfängen vor Augen, ein relativ junges Phänomen. So schreiben Volker Langbehn und Mohammad Salama in ihrer Einleitung zu dem im Jahr 2011 von ihnen herausgegebenen Sammelband German Colonialism: Race, the Holocaust, and Postwar Germany:
In the past decade colonial aspects of the Nazi project have become an important research focus. Newly established frames of reference, which include genocide and globalization, have triggered a reevaluation and redefinition of the parameters within which to understand the Holocaust. (Langbehn/Salama 2011, S. ix)
Wissenschaftshistorisch betrachtet sind allerdings auch die ‚Postcolonial Studies‘ noch relativ jung. Was sind Postcolonial Studies, was untersuchen sie, von welchen Annahmen gehen sie aus? Wenn auf die Nachfrage hin so etwas wie ein größter gemeinsamer Nenner im Sinne einer allgemein geteilten Programmatik, einer Aufgabe oder gar eines Zieles der Postcolonial Studies formuliert oder definiert werden sollte, so würde wohl zuerst die kritische Beschäftigung mit und Aufarbeitung der schwerpunktmäßig europäischen Kolonialvergangenheit genannt werden. Genauer gesagt untersuchen Postcolonial Studies die verschiedenen „Hinterlassenschaften von Kolonialismus auf Nationen, Gesellschaften und Kulturen vor und nach der Unabhängigkeit“ (Lindner 2011). Die postkoloniale Theorie untersucht die historischen Prozesse der Kolonisierung selbst, aber auch die Implikationen „einer fortwährenden Dekolonisierung als auch Rekolonisierung“ sowohl auf materieller Ebene, als auch in Bezug auf die Produktion einer (post)kolonialen „epistemische[n] Gewalt“ (Castro Varela/Dhawan 2005, S. 8). Ina Kerner weist auf zwei wichtige Aspekte postkolonialer Theorien hin: Einerseits untersuchen und thematisieren sie „postkoloniale Konstellationen im zeitlichen Sinne“ (Kerner 2012, S. 9). Damit ist vor allem die Beschäftigung mit der Geschichte kolonialer Herrschaft und den historischen Prozessen der Kolonisierung und Dekolonisierung gemeint, allerdings mit überwiegendem und deutlichem Schwerpunkt auf der Geschichte des europäischen Kolonialismus seit der Frühen Neuzeit (vgl. Kerner 2012, S. 20). Gleichzeitig seien postkoloniale Theorien dadurch gekennzeichnet, dass sie koloniale Herrschaft nicht als abgeschlossene Konstellationen verstehen. Vielmehr werde davon ausgegangen, dass es „Langzeiteffekte des Kolonialismus“ gibt, „die noch heute nachwirken und die thematisiert werden müssen, wenn man die postkoloniale Gegenwart und ihre spezifischen Probleme verstehen möchte“ (Kerner 2012, S. 9). Dazu zählten in den ehemaligen Kolonien u.a. „Armut, Autoritarismus und mangelnde Rechtsstaatlichkeit“ als Nachwirkungen des Kolonialismus sowie u.a. Eurozentrismus und Rassismus in den Kolonialnationen (Kerner 2012, S. 9).
Die Postcolonial Studies gehen zurück auf die Rezeption u.a. marxistischer, psychoanalytischer und hegemonietheoretischer Ansätze durch AutorInnen aus vormals kolonisierten Regionen seit den 1950er Jahren. Später widmen sie sich verstärkt postmoderner bzw. poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Sprachkritik sowie diskursanalytischer Theorie- und Wissensproduktion auf der einen, materialistischer (Selbst-)Kritik (an dieser Tendenz) auf der anderen Seite (vgl. Dirlik 1994; Franzki/Aikins 2010; Parry 2004b, S. 3–12). In ihrem Aufsatz „The Institutionalization of Postcolonial Studies“ kritisiert beispielsweise Benita Parry, dass postkoloniale Studien nach dem Linguistic Turn dazu tendierten, die materiellen, ökonomischen, kapitalistischen Bedingungen des Kolonialismus aus dem Blick zu verlieren, indem sie ihn lediglich als „cultural event“ darstellten und analysierten: „The postcolonialist shift away from historical processes has meant that discursive or ‚epistemic‘ violence has tended to take precedence in analysis over the institutional practices of the violent social system of colonialism“ (Parry 2004a, S. 74–75; Hervorhebung im Original).
Von bisheriger Kolonialgeschichtsschreibung, die es durchaus auch vor der Verbreitung der Postcolonial Studies gegeben hat, unterscheiden sich postkoloniale Theorien und Ansätze vordergründig und hauptsächlich in einem von der Theorie nicht zu trennenden politischen Impetus.1 Dieser manifestiert sich einerseits in der kritischen und/oder kritisierenden Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften und Nachwirkungen nicht nur des Kolonialismus, sondern auch der europäischen Moderne und der Aufklärung. Gleichzeitig stellen sie sich andererseits die ‚Dekolonisierung‘ eines als eurozentrisch, orientalistisch und manichäisch analysierten Weltverständnisses zugunsten der Berücksichtigung der Verwobenheit von Globalem und Lokalem sowie die Überwindung eines methodologischen Nationalismus und Eurozentrismus sowohl in der Wissenschaft als auch außerhalb der Universitäten zur Aufgabe (vgl. Franzki/Aikins 2010, S. 12–13). So schreibt beispielsweise Kien Nghi Ha, dass es sich bei dem, was ‚Postkolonialität‘ genannt wird, um keine einzelne Epoche handele, sondern vielmehr um „eine politisch motivierte Analysekategorie der historischen, politischen, kulturellen und diskursiven Aspekte des unabgeschlossenen Kolonialdiskurses“ (Ha 1999, S. 84; Hervorhebung im Original). Dass postkoloniale Ansätze diesen Kolonialdiskurs, Eurozentrismus und Manichäismus teilweise durch Überfokussierung auf europäische Kolonialgeschichte und Ausblendung bzw. Relativierung lokaler Spezifika selbst reproduzieren, wird oftmals kritisiert (vgl. Kerner 2012, S. 10). So weist Anne McClintock bspw. im Jahr 1992 darauf hin, dass der Begriff des Postkolonialen die Welt erneut und trotz gegenteiliger Absichten in eine „single, binary opposition“ unterteile, nämlich die von Kolonisierenden und Kolonisierten (McClintock 1992, S. 85).
Ein anderer Kritikpunkt postkolonialer Theorie und Forschung ist der Begriff selbst: Was fällt eigentlich unter den Gegenstandsbereich des Begriffes ‚postkolonial‘, was ist postkoloniales Analysandum – und was nicht? Vilashini Cooppan weist im Jahr 2000 darauf hin, dass unter dem Begriff des Postkolonialen oftmals eine ganze Reihe von Phänomenen subsumiert werden, die aber über politisch motivierte Analogieschlüsse nicht hinausgingen:
I find myself worrying that post-colonial studies is on the verge of becoming every damn thing, serving as the sign for oppositional criticism in all modes and rendering colonial and imperial analogies, as well as invocations of hybridity, intermixture, and transculturation, practically obligatory in contemporary criticism. (Cooppan 2000, S. 33–34)
Seit einiger Zeit widmet sich die postkoloniale oder postkolonialtheoretisch beeinflusste Forschung vermehrt dem deutschen Nationalsozialismus und dem Holocaust. War sie zuvor nie explizit Gegenstand postkolonialer Analysen gewesen, wenden sich AutorInnen verschiedener Disziplinen nun vermehrt der Frage zu, ob auch Holocaust und Nationalsozialismus bzw. die Forschung hierüber einer postkolonialen Auseinandersetzung bedürfe. Diese Entwicklung ist zu großen Teilen dem Einfluss bzw. der Wirkung postkolonialer Theorien und Modelle vornehmlich auf die europäischen und anglo-amerikanischen Geistes- und Sozialwissenschaften und ihrer Wissensproduktion zuzurechnen und daher in gewisser Weise sicherlich auch eine logische wissenschaftshistorische Konsequenz.
So hat der Einfluss postkolonialer Theorie beispielsweise auf die deutsche Geschichtswissenschaft dazu beigetragen, einen eher auf Nationalgeschichte fokussierten Forschungsblick zugunsten einer globaleren und transnationalen Perspektive zu ergänzen bzw. sogar völlig aufzugeben (vgl. hierzu exemplarisch Conrad/Randeria 2002b). Aber auch in anderen Ländern sowie anderen Di...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. 1 Einleitung
  6. 2 Vorausgehender Exkurs: Ursprünglichkeit, Singularität, Historisierung
  7. 3 Die Geburt des Holocausts aus dem Geiste des Kolonialismus? Eine kritische Rekonstruktion historischer Kontinuitätsthesen
  8. 4 Kollektive Erinnerung: ein kompetitives Nullsummenspiel? Michael Rothbergs Theorie multidirektionaler Erinnerung im Spannungsfeld von Holocaust- und Postcolonial Studies
  9. 5 Kolonialismus, Holocaust und Moderne: Brüche oder Komplizenschaften?
  10. 6 Schluss und Forschungsperspektiven
  11. 7 Literaturverzeichnis
  12. Dank
  13. Register