1 Einleitung
In der Erzählung Die Cenci, mit der Stendhal den Kriminalfall der Vatermörderin Beatrice Cenci aufgreift, lässt er ihren Vater Francesco den denkwürdigen Satz formulieren, „wenn ein Vater seine eigne Tochter umarme, würden die Kinder, die daraus geboren werden, Heilige“1. Aus moderner Perspektive mag der Nexus von Inzest und Heiligkeit befremden, in mittelalterlicher Sicht zeigt sich Stendhal als Kenner der Materie, denn die Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts bringt eine ganze Reihe an Erzählungen hervor, die einen Inzest in Heiligkeit münden lassen.2 Vertrauter dürfte dem modernen Leser der emotionale Gehalt der Erzählung scheinen. Beatrice Cenci, so heißt es, wurde „ebenso angebetet und geachtet, wie ihr schrecklicher Vater verhasst und verabscheut war“, dieser „schämte sich nicht, sich nackt in ihr Bett zu legen“ und „war so in Zorn, daß er Beatrice mit Schlägen überschüttete“, so dass ihr Leben schon bald „geradezu unterträglich“ wurde und sie sich zu einem Mordkomplott entschließt, um „ihre Leiden in der Welt zu beenden.“3 Im mittelalterlichen Inzestdiskurs indes, wie ihn die Geschichtswissenschaften aufbereitet haben, finden Emotionen in der Form keine Entsprechung. Die Gelehrten dieser Zeit interessieren sich rege für Umfang und Geltungsbereich der Verbote, für Sündentheologie und Bibelexegese des Vergehens, kaum jedoch für emotionale Aspekte des Inzests,4 die im Fokus der vorliegenden Studie stehen sollen.
Wer sich in historischer Perspektive mit der Inzestthematik beschäftigt, sieht sich mit einem eigentümlichen Spannungsverhältnis von Universalität und Alterität konfrontiert. Unter dem Paradigma der Universalität ist in der Forschung sowohl für eine Inzestscheu als auch für eine Inzestneigung plädiert worden,5 wobei gerade der Vater-Tochter-Inzest zu einem Kernbestand der zum Teil recht unterschiedlich ausgeprägten kulturellen Verbote zu gehören scheint,6 was nicht zuletzt für die Inzestverbote des Mittelalters und der Moderne gilt. Dabei existieren jedoch wesentliche Differenzen im jeweiligen Verständnis von Inzest, die nicht allein korrelative Themen wie Heiligkeit und Emotionen betreffen, sondern den Gegenstandsbereich als solchen, den Umfang der Verbote, ihre Bezugssysteme. Diese Differenzen, die unter das Paradigma der Alterität fallen,7 werden im Folgenden skizziert, um von hier ausgehend ein theoretisch-methodisches Instrumentarium für die Analyse narrativer Texte des 12. bis 16. Jahrhunderts zu entwickeln, das eine Untersuchung der in der Literatur mit dem Vater-Tochter-Inzest verknüpften Emotionen erlaubt. Zu diesem Zweck werden zunächst die historischen Inzestverbote des Mittelalters dargestellt und der aktuelle Forschungsstand diskutiert, um im Anschluss den emotionalen Aspekt der Inzestthematik über den Tabubegriff herzuleiten und in Auseinandersetzung mit der historischen, literaturwissenschaftlichen und interdisziplinären Emotionsforschung für die daran anschließenden Textanalysen zu operationalisieren. Dabei lässt sich die Studie von der These leiten, dass die vermeintliche Emotionslosigkeit der Inzestthematik im Mittelalter, wie sie im kirchlichen Inzestdiskurs aufscheint, primär auf die Quellenlage zurückzuführen ist. Die Fokussierung narrativer Texte hingegen – zumal jener, die überlieferte Stoffe wieder- und damit neu erzählen und so in Abweichungen und Brüchen ein valides Zeugnis einer historisch spezifischen Auffassung vom Vater-Tochter-Inzest geben – besitzt das Potential, auch Emotionen auf die Spur zu kommen.
2 (Vater-Tochter‐)Inzest
Der Vater-Tochter-Inzest fällt in der Regel unter übergreifende Inzestverbote, die ihn kontextualisieren, weshalb zunächst der Gegenstandsbereich, der gemeinhin als ‚Inzest‘ bezeichnet wird, etymologisch, definitorisch und diskursiv umrissen wird, um den Vater-Tochter-Inzest innerhalb dieser Bezugssysteme zu verorten.
Sprachgeschichtlich lässt sich ‚Inzest‘ als Nominalbildung auf lat. castus („rein, keusch“) zurückführen, das mit dem Negationspartikel in zusammengesetzt wird, was die Grundbedeutung „unrein, unkeusch“ ergibt.8 In der Folge des römischen Rechts, das neben der Geschlechtsvereinigung mit Verwandten auch den Beischlaf mit einer Vestalin (einer unberührbaren Jungfrau), die Ehe mit einer Prostituierten und die Entweihung heiliger Stätten als incestus brandmarkt,9 findet der Begriff als terminus technicus Einzug in lateinische didaktische Texte, wobei an seiner Stelle auch fornicatio („Unzucht“), stuprum/adulteritas („Ehebruch“) oder verwandte Begriffe als übergeordnete Leittermini stehen können.10 Entsprechend paraphrasieren mittelhochdeutsche Glossen incestus als unkeuschheit mit den magen […] vel junckfrawen – sippehur – eebruch – erberaubung vel ernemung der junckfrawschafft11. Im semantischen Feld ergibt sich somit für das Mittelalter ein weiter Gegenstandsbereich, der verschiedene Formen von Unreinheit und Unkeuschheit, körperlicher, moralischer und religiöser Befleckung umfasst,12 worunter auch der Vater-Tochter-Inzest subsumiert wird.
In aktuellen Definitionen von ‚Inzest‘ hat sich kaum etwas von dieser weiten Semantik erhalten. Gängige Bestimmungen greifen meist auf vier konstitutive Kriterien zurück: Den (1) heterosexuellen, (2) tatsächlich vollzogenen Beischlaf zwischen (3) zwei Blutsverwandten innerhalb der (4) Kernfamilie.13 Diese Definition stellt allerdings bereits ein Abstraktum dar und kaschiert signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen Inzestkonstellationen wie dem Mutter-Sohn-, Vater-Tochter- und Geschwisterinzest.14 So ist der Vater-Tochter-Inzest im Speziellen die mit Abstand häufigste Inzestform,15 geprägt von einem charakteristischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnis,16 das ihn von anderen Inzestformen abhebt.
Damit aber sind schon moderne Diskursivierungen der Inzestthematik angesprochen. Der gegenwärtige Inzestdiskurs wird überblendet mit einem Diskurs über Kindesmissbrauch.17 Der Konnex von Inzest und Emotion ist in diesem Zusammenhang unmittelbar evident. Psychologie und Psychotherapie beschreiben Scham- und Schuldgefühle, Ekel und Abneigung, Angst und Ohnmachtserfahrung, Trauer und Niedergeschlagenheit als typische Reaktionen auf den Inzest; positive Emotionen wie Zuneigung und Respekt treten erschwerend hinzu; den Tätern wird ein eklatanter Mangel an tiefen und dauerhaften Emotionen attestiert, der nicht selten in der eigenen Sozialisation begründet liegt.18 Eine abweichende Lesart bietet Sigmund Freud mit seinem psychoanalytischen Basisnarrativ vom Ödipus-Komplex, demzufolge sich das kindliche Begehren als unbewusster Wunsch auf den gegengeschlechtlichen Elternteil richtet, der als ‚besetzt‘ und ‚verboten‘ erkannt wird, was Neid, Eifersucht und Todeswünsche dem ‚besitzenden‘ und Lust und Verlangen dem ‚begehrten‘ Elternteil gegenüber hervorruft.19 Diese Annahme ist angesichts realer Inzestfälle vielfach kritisiert worden, was den Vater-Tochter-Inzest in besonderer Weise tangiert, agieren doch mehrheitlich Männer als Aggressoren, nicht Töchter als Verführerinnen.20 In beiden Modellen aber, dem psychologischen wie dem psychoanalytischen, wird deutlich, dass aus moderner Perspektive Inzest und Emotion aufs Engste verwoben sind.
2.1 Historische Inzestverbote
Mit Blick auf die mittelalterlichen Inzestverbote lässt sich keiner der genannten Aspekte universalisieren. Sie können in erster Linie als kirchliche Eheverbote beschrieben werden, die ausgehend vom Frühmittelalter eine zunehmende Ausweitung und Radikalisierung erfahren. Diese historische Entwicklung wird im Folgenden zusammenfassend dargestellt, um den kulturellen Kontext zu eruieren, in dem die Erzählungen von einem Vater-Tochter-Inzest im 12. bis 16. Jahrhundert stehen.
Primäre Bezugsquelle der mittelalterlichen Inzestverbote bildet die Bibel, die maßgeblich im Buch Levitikus sanktionierte Verbindungen anführt. Der Vater-Tochter-Inzest fällt unter das allgemeine Gebot, nicht mit einer Blutsverwandten zu schlafen (vgl. Lev 18,6), konkretisiert in dem Verbot, mit der Tochter oder Enkeltochter einer Frau, mit der man verkehrt, eine Verbindung einzugehen (vgl. Lev 18,17). Gelistet werden weitere blutsverwandte Frauen wie Mütter (vgl. Lev 18,7), Schwestern und Halbschwestern (vgl. Lev 18,9 und 11) sowie Tanten (vgl. Lev 18,12 f.), wobei die Adressaten der Verbote stets Männer, die Zielobjekte stets Frauen sind, so dass eine spezifische Geschlechterordnung aufscheint.21 Dabei erschöpfen sich die levitischen Vorschriften nicht wie die skizzierten modernen Definitionen von Inzest im Bereich der Blutsverwandtschaft (consanguinitas), sondern umfassen auch Verbindungen innerhalb der Schwägerschaft (affinitas) wie die Ehefrau des Onkels oder des Sohnes (vgl. Lev 18,14 f.). Das Verwandtschaftsverhältnis der affinitas gründet dabei auf der una caro-Lehre, derzufolge Mann und Frau durch den Beischlaf zu ‚einem Fleisch‘ werden. Sie findet sich bereits in der Schöpfungsgeschichte formuliert (vgl. Gen 2,24) und im Neuen Testament bestätigt (vgl. Mat 19,5 f.; Eph 5,28 – 31). In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts überträgt der Bischof und Kirchenlehrer Basilius von Caesarea die una caro-Lehre auf die Inzestverbote und passt sie der christlichen Lehre an, derzufolge die ‚Einheit des Fleisches‘ eine ewige, über den Tod hinaus gültige ist.22 In der Konsequenz werden die Verwandtschaftstypen consanguinitas und affinitas fortan gleichgestellt.23 Bereits im römischen Recht, das neben der Bibel eine weitere legislative Ursprungslinie der Gesetzgebung im Mittelalter bereitstellt, setzt ungefähr zeitgleich eine sukzessive Erweiterung der Eheverbote ein, die mit den frühen Konzilien im 6. Jahrhundert vorangetrieben wird.24 Werden bis dahin personale Verbote ausgesprochen und konkrete Verwandtschaftsbeziehungen benannt,25 entwickelt das mittelalter...